Trauma und DIS Ts sind sich in der Regel darüber einig, mit einem 3-Phasen Modell zu arbeiten. Es beschreibt die Reihenfolge, in der gearbeitet wird, um die besten, schnellsten und sichersten Resultate zu bekommen. Um Artikel kurz zu halten, erklären wir die Phasen in getrennten Artikeln. Die 3 Phasen sind:
- Stabilisierung
- Trauma Prozessieren
- Integration
Es ist schwierig, Literatur zur Integrations-Phase zu finden, geschweige denn ein Arbeitsbuch. Definitionen fühlen sich vage an und auch viele Ts wissen nicht recht, was damit gemeint ist. Ich glaube, man versteht es am ehesten als die Prozesse, in einem neuen Leben heute anzukommen und sich den neuen Situationen, Innen und Außen, anzupassen. Das ist kein einzelner Prozess. Darum haben auch Ts Probleme, die Aufgaben dieser Phase genau auf den Punkt zu bringen. Ich erzähle euch von verschiedenen Bereichen, wo wir während der Integrations-Phase durch persönliche Prozesse gehen. Auch das wird keine vollständige Beschreibung sein.
Erinnerungen und Lebensgeschichte
Durch das Trauma Prozessieren entsteht ein neuer mentaler Raum, in dem wir realisieren, was uns passiert ist, wie lange wir Trauma erlebt haben und dass es irgendwann aufgehört hat, wie lange wir die Traumafolgen erlebt haben und dass die auch irgendwann zu einem großen Teil abgeflacht sind. Wir realisieren auch, dass manche dieser Folgen nicht weggehen werden und wir damit leben müssen. Das betrifft insbesondere körperliche Schäden und chronische Schmerzen, aber auch alles, was wir verpasst haben. Die Erkenntnisse verursachen tiefe Trauer. Ich halte diese Art von Trauer für ein klares Zeichen, dass die Trauma Arbeit erfolgreich war. Jedes Mal, wenn wir etwas verarbeiten, sollte das zu einem kleinen Schritt in die Phase 3 mit ihrer Trauer und ihren Realisationen führen. Das wird noch vollständiger, sobald wir uns die ganze Geschichte am Stück anschauen können und nicht nur Teile davon. Präsentifikation wird abgeschlossen. Wenn wir uns den Zeitstrahl unseres Lebens anschauen, dann fühlt sich die Vergangenheit vergangen an, die Gegenwart ist am realsten und Blicke in die Zukunft sind möglich, aber nicht in Stein gemeißelt. Das verändert, wie wir uns selbst innerhalb dieses Zeitstrahls wahrnehmen.
Anteile und Persönlichkeit
Manchmal fusionieren Anteile spontan bei der Trauma Verarbeitung. Meistens bleiben sie erst einmal, beginnen aber ganz natürlich sich zu vermischen, während wir uns bemühen, mit unserem Leben weiter zu machen, bis es schwierig wird, zu sagen, wer eigentlich gerade vorne ist. Anteile entwickeln mindestens eine flexible und geschmeidige Art, um mit dem Leben zurecht zu kommen. In manchen Fällen wird Blending als Therapie Technik verwendet, um formale Fusion einzuleiten. Das Ziel hängt von persönlichen Wünschen und Umständen ab. Was alle Wege gemeinsam haben, ist dass Anteile realisieren, dass sie zu einer Person gehören, die versucht ein Leben zu leben. Kommunikation verwandelt sich vielleicht in ein vereintes Denken, Kooperation in ein vereintes Handeln, das Wir wird vielleicht zu einem Ich. Alles kommt auf seine Weise zusammen. Personifikation kann hier abgeschlossen werden.
Handlungen und Funktionieren
Der Prozess, so zusammen zu kommen, führt zu weniger Einbrüchen in unserem Handeln. Haben wir Zugang zu allen Erinnerungen und Fertigkeiten, wird es einfacher, integrierte Entscheidungen für unser Leben als Ganzes zu treffen und auch danach zu handeln, ohne uns selbst in die Quere zu kommen. Das bedeutet, dass wir unsere Energie auf ein gemeinsames Ziel richten und das auch umsetzen können. Das erhöht unsere Fähigkeit, im Leben oder in einem Job zu bestehen. Wir können neue Wege für unser Leben wählen, kalkulierte Risiken eingehen, Neues ausprobieren und unsere Chancen im Leben nutzen. Integrierte Funktionalität schafft neue Möglichkeiten und Chancen für die Zukunft. Wenn sich das System an die Ansprüche der Welt heute anpasst, reduziert das manchmal auch die Fähigkeiten, die uns beim Überleben geholfen haben, weil die nicht mehr so gebraucht werden. Es kann zB schwieriger werden, Schmerzen zu dissoziieren.
Beziehungen [CN erwähnt im zweiten Absatz Sexualität]
Bei der Integration überwinden wir frühere Bindungs-Verletzungen und erwerben hoffentlich sichere Bindung. Wir gehen neue Schritte in unserer Fähigkeit, anderen zu vertrauen, Nähe und Intimität in unseren Freundschaften zuzulassen und setzen neue Grenzen mit Menschen, die diese Art von Nähe mit uns nicht verdient haben. Es ist eine Zeit der Neubewertung unserer Beziehungen und der Qualität von Beziehungen, die wir in Zukunft haben wollen. Menschen in unserem Leben müssen sich an das neue ‘Ich’ gewöhnen und wir lernen, wie dieses neue ‘Ich’ mit anderen interagieren möchte. In dieser Phase verliert man oft alte Freundschaften oder Partnerschaften, wenn andere sich nicht auf die Veränderungen in uns einstellen können. Es ist auch häufig, neue, gesündere Freundschaften zu finden, wo wir gemocht und unterstützt werden und wo Leute bereit sind, sich mit uns der Zukunft zu stellen.
Der ganze Themenbereich der Sexualität wird in der Therapie meist in diese Phase verschoben. Vorher war da zu viel Trauma im Weg, um das tiefergehend anschauen zu können. Kompromisse, die wir in Phase 1 gefunden haben, um unsere Sicherheit zu garantieren, werden abgelöst von einer neuen Art, beim Sex wir selbst zu sein. Mit einem neuen Gefühl für den Körper, unsere physische Sicherheit und die Art von Beziehung, die wir wollen, können wir beginnen, mit Sexualität zu experimentieren, um herauszufinden, was sich gut anfühlt. Manche Menschen erleben, wie sich ihre Unsicherheiten zu ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Gender Zugehörigkeit auflösen und sie Klarheit gewinnen. Ist die Depersonalisierung überwunden, bietet die engere Verbindung mit dem Körper neue Herausforderungen und Möglichkeiten.
Leben und Zukunft
Eine weitere große Herausforderung der Integrations-Phase ist, sich an ein neues Leben anzupassen. Wir haben uns verändert. Unser Leben muss uns folgen, sonst wird es unerträglich. Überleben war mal unser wichtigster Fokus und auf seine Art, unser Sinn im Leben. Jetzt brauchen wir Sinn und Aufgaben jenseits von Überleben. Wir brauchen eine Lebensaufgabe. Manche finden die darin, anderen Betroffenen zu helfen. Andere wählen ein erfülltes Familienleben, einen Job, neue Hobbies, eine Community usw. Wir lernen, ein normales Leben zu haben. In dieser ‘normalen’ Welt sind wir wie neu geschlüpft. Es ist fair zuzugeben, dass diese Welt auch nicht ohne Schwierigkeiten und Nöte ist. Es ist nur nicht mehr das alte Trauma, mit dem wir ringen. Unser neuer Fokus liegt darauf, unsere Fähigkeit Spaß zu haben auszubauen, unsere Lebenssituation zu sortieren, Arbeit zu finden, die zu uns passt, eine Familie oder Beziehungen aufzubauen, unsere finanziellen Ziele zu verfolgen, uns um unsere Gesundheit zu kümmern, die Fähigkeit zu entwickeln, Langeweile auszuhalten. Ein normales Leben zu haben, ist erstaunlich schwierig. Uns begegnen hier Probleme, die wir vielleicht noch nie hatten. Wenn wir vorher immer zu krank waren, um zu arbeiten, lernen wir jetzt vielleicht, was für ein zweifelhaftes Vergnügen es ist, unsere Steuern zu machen oder Konflikte am Arbeitsplatz zu lösen. Es sind normale Probleme.
Weltbild und Selbstbild
Wir haben die Welt und uns selbst immer durch die Brille unserer Trauma Erfahrungen gesehen und es steht uns frei, das auch weiterhin zu tun, wenn wir Leid mögen. Wir können diese Sichtweisen auch hinter uns lassen und die Welt und uns selbst mit neuen Augen sehen. Die Themen, die uns interessieren, verändern sich vielleicht und werden mehr in der Gegenwart geerdet. Wenn wir uns nicht weiter für andere Betroffene einsetzen, können wir uns der Masse anschließen mit ihrem lebendigen Gewusel, dem leichtherzigen Tratsch und der Vergesslichkeit für Themen wie sexualisierte Gewalt. Das wird kein täglicher Gedanke mehr sein und die Welt wird nicht mehr dadurch definiert. Wir beginnen, andere Dinge von der Welt zu erwarten, die nichts mit Trauma zu tun haben. Die Art, wie wir uns, andere Leute, andere Betroffene und soziale Probleme sehen, kann sich verschieben. Wer wir sind, dreht sich dann um etwas anderes als Trauma. Es gibt wenige, die nach der Integration oder Fusion noch länger in Betroffenen Communities bleiben, weil die Lebensaufgaben andere werden und der Blick auf das Trauma sich manchmal so verändert, dass man sich schwerer identifizieren kann mit Leuten, die sich noch in früheren Phasen befinden. Niemand versucht da, besser als andere zu sein. Das Erleben vom Leben passt nur nicht mehr auf die Art zusammen, wie es das früher getan hat. Zum ersten Mal in unserem Leben begegnen uns dann vielleicht Leute, die neidisch auf uns sind und in deren Augen wir nicht (mehr) traumatisiert sind.
Stabilität
Stabilisierung ist nicht das gleiche wie Stabilität. In Phase 3 kommen wir nochmal an vielen Themen der Phase 1 vorbei und erkennen, dass wir uns verändert haben und unser Bedarf an Bewältigungsstrategien sich mit verändert hat. Wir brauchen weniger Fertigkeiten, um Stressreaktionen zu managen, weil wir sie nicht mehr so oft erleben. Stattdessen brauchen wir ein völlig neues Level an Werkzeugen für den Umgang mit Emotionen. Das gleiche kann uns mit unseren Fertigkeiten, uns um den Körper und Bedürfnisse zu kümmern, passieren, mit Gedanken und Impulsen oder unseren Kommunikationsfähigkeiten. In Phase 3 arbeiten wir hart daran zu lernen, was wir für ein stabiles, normales Leben brauchen, statt für ein stabilisiertes, traumatisiertes Leben. Das ist genauso wichtig und wenn wir diese neue Stabilität nicht aufbauen, bleiben wir möglicherweise instabil, selbst nach dem Trauma Prozessieren. Manche der Werkzeuge, die wir gelernt haben, wie zB DBT Skills, sind nur für einen kurzfristigen Gebrauch für den Übergang gedacht und nicht als ein lebenslanges Konzept, wie man Dinge im neuen Leben macht. Herausforderungen im neuen Leben brauchen oft andere Strategien und Lösungen. Es ist erstaunlich, wie schwierig es ist, zu lernen, ein normaler Mensch zu sein, mit normalen Wegen, um normale Situationen zu lösen. Wir haben uns vorher einfach nicht auf dieser Ebene bewegt. Wir integrieren uns in diese Welt langsam und mit ehrlicher Anstrengung.
Es ist nicht möglich, so hart an Phase 1 Stabilisierung zu arbeiten, dass sie in Phase 3 Stabilität endet. Es ist das Trauma Prozessieren, was uns hilft, uns über die Dinge hinwegzusetzen, die uns einschränken. Versuche, einfach mit einem Phase 3 Leben weiterzumachen, bevor wir dazu bereit sind, führt vielleicht eher dazu, dass das System einen neuen, angepassteren ANP erschafft, statt Integration herbeizuführen. Das ist eine persönliche Beobachtung, die ich in keinem Buch beschrieben gesehen habe. Ich versichere euch aber, dass es gute Gründe für die Abfolge der Phasen gibt und man keine überspringen kann. Auch wenn Trauma Prozessieren gruselig und unschön ist. Ihr könnt nur frühzeitig irgendwo aufhören und nicht alles zu Ende machen. Das ist übrigens auch völlig ok.
Ts wie Patient*innen verfallen manchmal dem Gedanken, dass das Trauma Prozessieren ja die ‘richtige’ Arbeit in der Trauma/DIS Therapie ist und wenn das erledigt ist, dann löst sich der Rest irgendwie von selbst. Krankenkassen zahlen für die letzte Phase manchmal nicht, weil sie als unnötig angesehen wird. ‘Die kriegen das schon irgendwie hin’. Wir kommen damit wohl auch davon, wenn das Trauma begrenzt war. Es wird zu einem Behandlungsfehler, wenn es um Leute geht, die tatsächlich nie ein Leben in einer normalen Welt erlebt haben. Wir schaffen es vielleicht nicht, uns ohne zusätzliche Hilfe daran anzupassen oder es bereitet uns unsagbare Probleme, wenn wir alles googeln müssen, was andere Leute einfach wissen. Es ist an dieser Stelle auch nicht selten, dass noch mal ‘neue’ Erinnerungen oder Anteile auftauchen, weil wir jetzt endlich genug Kapazität dafür haben. Ts werden ermutigt, wenigstens regelmäßige Check-Ins anzubieten, um Integration zu unterstützen und manche DIS Ts beenden nie offiziell die Therapie. Sie ziehen die Termine nur so weit auseinander, bis sie Patient*innen nur noch einmal im Jahr für die Nachsorge sehen. Eine Therapie zu beenden birgt noch so einige Untiefen. Ich selbst mag das Konzept von jährlichen Stunden, bis die Patient*innen von selbst nicht mehr kommen, weil es ihnen zu viel Aufwand ist, der an Bedeutung im Leben verloren hat.
Ich habe über 6 Jahre gebraucht, um diese Artikelreihe abzuschließen, weil es mir wichtig war, eigene Erfahrungen mit dem Thema zu haben und nicht nur zu wiederholen, was irgendein Buch sagt. Ihr findet Informationen zu allen 3 Phasen und wie die aufgestellt sein sollten in Die Behandlung traumabasierter Dissoziation von Steele, Boon und van der Hart.