Eine meiner heimlichen Freuden ist es, wissenschaftlichen Diskurs zu lesen. Ganz besonders, wenn großartige Köpfe Theorien und Ansätze diskutieren und dabei in den Schwachstellen rumbohren, um Mängel aufzudecken. Wenn ihr sowas mögt, lest gerne Dissociation and the Dissociative Disorders, das sind Artikel von vielen Spezialist*innen, gesammelt von Paul Dell. Das kann euch viel über die Geschichte von DIS Wissenschaft, wie weit man damit gekommen ist und was noch diskutiert wird erklären. Erfreulich zu lesen, wenn man Forschung und verschiedene Sichtweisen und Knoten im Gehirn mag.
Eine der andauernden Diskussionen besteht zwischen Ellert Nijenhuis, der die Theorie der strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit mit-erarbeitet hat und Paul Dell, der den MID entwickelt hat, ein sehr guter Screening Test für DIS. Beide sind brillant, gewitzt und sehr scharf im Denken. Ihr Konflikt geht darum, welche Sicht auf DIS die beste bzw korrekteste ist, um sie für die Diagnose zu verwenden und ich werde das stark vereinfacht darstellen.
Nijenhuis sagt, dass die innere Struktur der Kernpunkt ist. Ohne eine innere Trennung von verschiedenen Anteilen der Persönlichkeit gibt es keine DIS Diagnose. Es ist absolut notwendig, die Diagnosekriterien an eine innere Struktur zu knüpfen, die man nicht so leicht sehen kann, weil es darum nun mal geht. Und es gibt keine effektive DIS Behandlung, die diese Struktur außer acht lässt.
So sind wir zu den Diagnosekriterien gekommen, die wir jetzt haben. Viele Ts fühlen sich damit etwas hilflos, weil es keine ausreichenden Hinweise darauf gibt, wie so eine innere Struktur von außen aussieht. Jede andere Diagnose im Buch listet Anzeichen (Dinge, die man von außen sehen kann) und Symptome (innere Erfahrungen, die von Patient*innen berichtet werden) und aus dem spezifischen Muster daraus leitet sich dann die Diagnose ab. Bei fehlenden Anzeichen und Symptomen unter den Diagnosekriterien wird die Diagnose abhängig von der Expertise und dem guten Willen der Diagnostizierenden, oder eben deren Mangel davon.
Vereinfacht sagt Dell, dass strukturelle Dissoziation ein bestimmtes Muster von Anzeichen und Symptomen verursacht. Wir brauchen eine realistische Chance, um strukturelle Dissoziation zu erkennen und eine unsichtbare innere Struktur ist da nicht pragmatisch. Forschung hat uns einen Überblick darüber verschafft, auf welche Art eine DIS sich am häufigsten zeigt. Das sind die selben Anzeichen und Symptome, nach denen wir auch im diagnostischen Gespräch gefragt werden oder die im Test auftauchen. Man könnte die ja auch gleich als Diagnosekriterien aufnehmen.
Das ist so eine Situation, wo beide Seiten was wichtiges sagen. Die innere Struktur ist essentiell wichtig und es gibt Menschen mit dieser inneren Struktur, die sich ihrer Symptome nicht bewusst sind und sie so auch nicht berichten können. Die große Mehrheit der Menschen mit DIS sind ‘covert’ (verdeckt) mit nur kleinen Zeitfenstern der Diagnostizierbarkeit in Ausnahmesituationen. Die Anzeichen sind nicht ständig zu sehen. DIS wird am besten durch ihre Struktur beschrieben. Und ich traue keinen Behandlungsansätzen, die das ignorieren und versuchen, nur Symptome zu behandeln. Aber ich stimme auch zu, dass das für die alltägliche Praxis von einfachen Ts schrecklich unpraktisch ist. Das fordert eine Sorgfalt und Expertise, die sehr ehrenhaft, aber selten außerhalb von hoher Spezialisierung zu finden ist.
Als Patient*innen begegnet uns dann oft Verleugnung. Andere Menschen verleugnen die Existenz unserer inneren Struktur, weil die Anzeichen und Symptome nicht breit (und falls doch mal, nicht korrekt) gelehrt werden und kaum jemand weiß, wie man sie erkennt. Und wir erleben unsere eigene Verleugnung, weil es für uns schwierig ist, unser eigenes Erleben in den offiziellen Diagnosekriterien wiederzuerkennen.
Immer, wenn wir die Kriterien teilen, die Dell vorgeschlagen hat, reagieren Menschen mit Erleichterung, Wiedererkennen und mehr Sicherheit mit der eigenen Diagnose. Das sind keine offiziellen Kriterien, aber sie spiegeln recht gut wieder, was Menschen mit DIS erleben. Zu Zeiten, wo die ‘Innere Kind’ Arbeit noch mal neu entdeckt wird und viele Menschen in ihrer Therapie mit ‘Anteilen’ arbeiten, könnten diese Kriterien helfen, besser auseinander zu halten, was normale Ego States sind und was strukturelle Dissoziation ist.
Unter Spezialist*innen gibt es oft Grüppchenbildung und innerhalb dieser Gruppen scheint das Modell, sich mehr an Symptomen zu orientieren als an Struktur, gerade in Nordamerika etwas an Einfluss zu gewinnen. Deswegen möchte ich euch zeigen, was Dell da zusammen gestellt hat. Das basiert auf Forschung zu den häufigsten Symptomen und ich werde Fachworte so gut es geht vereinfachen, damit das leichter zu verstehen ist.
A Kriterien
In diesem Abschnitt werden wir nach eher allgemeinen dissoziativen Erfahrungen gefragt, 3 oder mehr davon wären für eine Diagnose notwendig:
- Amnesien für frühere Erlebnisse (zB einzelne Ereignisse oder Dinge aus der Kindheit)
- Depersonalisierung
- Derealisation
- traumatische Flashbacks
- Dissoziative Symptome des Körpers (zB keinen Schmerz spüren oder Körperflashbacks)
- Trancezustände (abdriften)
B Kriterien
In der zweiten Gruppe von Symptomen geht es um die Existenz von Anteilen, die man auch an Intrusionen durch diese Anteile erkennen kann (Intrusionen sind innere Erfahrungen, die sich in unser Bewusstsein drängen, auch wenn wir sie nicht aktiv selbst produzieren. Ein Flashback ist eine bestimmte Art von Intrusion, bei der eine Erinnerung in unser Erleben vordringt. Das kann auch in anderen Erlebensbereichen vorkommen). Eigenes Berichten wird als genauso gültig angesehen wie die Beobachtung durch Behandler*innen und es braucht nur eins von beidem. Wir schauen uns an was 1) andere beobachten könnten und 2) was wir selbst berichten könnten.
- Switchen/Wechsel: Bestätigung, dass man einen anderen Anteil der Persönlichkeit gesehen hat. Das kann sich auf diese Weisen zeigen:
a) es ist sichtbar, dass jemand anderes aufgetaucht ist, weil die sich selbst vorgestellt haben oder weil es plötzliche Veränderung in mindestens 2 der folgenden Bereiche gab:
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- Mimik
- Haltung
- Stimme
- Verhalten oder Gestik
- Gefühlslage
- Meinungen oder
- Einstellung
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b) Patient*in ist sich anderer Anteile bewusst und zwar indem
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- Co-Bewusstsein berichtet wird für das, was der andere Anteil getan hat
- danach Erinnerungen davon bestehen, was der andere Anteil getan hat
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c) der andere Anteil als ‘nicht-ich’ oder jemand anderes erlebt wird
- Patient*in berichtet von Intrusionen oder Einflüssen von anderen Anteilen. Es sollten mindestens 5 der folgenden Erfahrungen vorliegen:
a) Hören von Kinderstimmen
b) Gefühl eines inneren Konfliktes zwischen Anteilen (zB Streit oder ein innerer Machtkampf)
c) Feindselige Stimmen hören
d) Sich selbst hören, wie man Dinge sagt, die man nicht sagen wollte oder die man ‘nicht selbst’ gesagt hat
e) Gefühl, dass einem Gedanken weggenommen werden (leerer Kopf) oder hinzugefügt werden, aber sie fühlen sich nicht wie eigene an
f) Gefühl, dass Emotionen weg genommen werden (taub) oder hinzugefügt, aber sie fühlen sich nicht wie eigene an
g) ‘gemachte’ Impulse, die sich nicht wie die eigenen anfühlen
h) ‘gemachte’ Handlungen, die sich nicht wie die eigenen anfühlen oder dass eigene Handlungen blockiert werden
i) seltsame Veränderungen im Erleben von einem selbst (sich klein fühlen, sich nicht im Spiegel erkennen, sich nicht wie man selbst fühlen)
j) eigene Verwirrung über dieses Erleben
C Kriterien
Die C Kriterien decken Amnesien ab, die mit Intrusionen von anderen Anteilen und Switchen zusammen hängen. Auch hier gibt es 1) Dinge, die andere beobachten können und 2) was wir berichten können und eins von beidem wird benötigt.
- Ein anderer Anteil taucht auch und danach hat die Person eine Amnesie dafür, was in diesem Zeitraum passiert ist. Das kann so aussehen:
a) Sichtbare Anwesenheit eines anderen Anteils
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- Anteil stellt sich selbst vor oder
- plötzliche Unterschiede in Mimik, Haltung, Stimme, Verhalten und Gestik, Gefühlen, Meinungen oder Einstellungen
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b) Die Person kann sich danach nicht daran erinnern
- Eigener Bericht von wiederholten Amnesien, es braucht zwei Vorkommnisse von zwei der folgenden Erfahrung
a) ‘Zeit verlieren’, Lücken in der Erinnerung bemerken ohne zu wissen, was passiert ist, das können Minuten bis hin zu Jahre sein
b) ‘zu sich kommen’, zu Bewusstsein kommen, während man etwas tut, von dem man sich nicht erinnert, es begonnen zu haben
c) Fugue, an einem unerwarteten Ort zu sich kommen ohne die Erinnerung, wie man dort hin gegangen ist
d) etwas erzählt bekommen, was man getan hat ohne die Erinnerung, es getan zu haben
e) Beweise dafür finden, dass man etwas getan hat, an das man sich nicht erinnert
f) sich nicht erinnern, wie man heißt oder wer man ist
g) Unfähigkeit sich an Fertigkeiten zu erinnern, die man normalerweise beherrscht (zB Lesen oder ein Instrument spielen)
h) Unfähigkeit sich an persönliche Informationen zu erinnern, die weit über normales Vergessen hinausgehen (zB dass man einen Bruder hat)
D Kriterien
Um sicher zu gehen, dass eine Diagnose korrekt ist, müssen immer noch andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Aufgelistet sind hier:
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- Schizophrenie
- Schizoaffektive Störung
- Psychose
- affektive Störungen mit psychotischer Ausprägung
- Borderline Persönlichkeitsstörung
- Drogen Missbrauch
- medizinische Probleme wie Gehirn Erkrankungen
E Kriterien
Wie bei allen Störungen zählt es nur als solche, wenn daraus Leiden entsteht oder die Funktionsfähigkeit signifikant eingeschränkt ist
Die Diskussionen um Diagnosekriterien sind knifflig und ich bin froh, damit nichts zu tun zu haben. Ich glaube, dass es gut ist, sowohl die aktuellen offiziellen Kriterien zu kennen als auch diesen Satz von alternativen Kriterien. Dells Vorschläge können es uns einfacher machen, unsere Diagnose zu akzeptieren, weil wir darin mehr von unserem täglichen Erleben wieder finden; Dinge, die uns wirklich passieren und die sich nicht so leicht leugnen lassen. Das ist nützlich, auch wenn es nicht offiziell ist.
Ihr könnt das und mehr zur partiellen DIS in Dissociation and the Dissociative Disorders in Kapiteln 24 und 25 finden.
arne salisch says
Verkompliziert wird das auch noch durch die Tatsache, das zumindest die ersten 4 unter D aufgeführten Kriterien durchaus Fehldiagnosen sein können. ich hatte bei eigenen Klienten, die vorher eine Schizophrenie oder eine schizoaffektive Störung diagnostiziert bekommen haben, den Verdacht, dass es sich um eine partielle DIS handeln kann. Das wurde mir dann auch in der Supervision bestätigt. Ebenso Borderline…auch ein Borderliner kann dissoziative Symptome haben. Da stellt sich dann die Frage, was behandelt man wie zuerst…
arne salisch says
Und…Danke für diesen ausgezeichnet geschriebenen Artikel!
Bekky says
Vielen Dank! Uns hilft es gerade ganz gut weiter, weil wir doch immer wieder ins Leugnen kommen. Bei früheren Versuchen die passende Diagnose zu finden, war vieles auf der Kippe. Diese Art der Betrachtung/Diagnosestellung macht es für uns viel eindeutiger und hilfreich.
tomorrow_wewillbefree says
CN rituelle Gewalt
an und für sich sinnvoll so, aber… ich finde es irgendwie sehr schade (wenn auch verständlich) dass es in all diesen Diagnosekriterien und so keinen Hinweis auf die etwas andere Gestaltung der Anteile und der Symtome bei ritueller Gewalt/mind control/absichtlich strukturierten Persönlichkeitssystemen gibt. Bei uns ist so viel ein bisschen anders bzw. nicht direkt anwendbar, das ist immer bisschen schwierig für uns und hat in der Vergangen heit auch zu Fehldiagnosen (pDIS statt DIS) geführt.