Ich würde euch gerne schlaue Tricks präsentieren, wie man Amnesien reduzieren kann, aber ich kenne keine. Der Weg, den ich kenne, ist mühsam und unspektakulär. Zu Beginn versuchen wir durch innere Kommunikation die Informationslücken zu stopfen. Später üben wir Co-Bewusstsein ein, damit wir alles mitbekommen und Amnesien gar nicht erst entstehen. Im Grunde ist die Lösung dafür weniger Amnesien zu haben, weniger strukturelle Dissoziation zu haben, die Amnesien verursacht. Wenn das so einfach wäre, hätten wir das schon längst behoben. Dissoziative Barrieren lassen sich nicht immer mutwillig beeinflussen und wenn, dann ist es oft mühsam. Andererseits lösen sie sich manchmal von alleine auf und wir sind unvorbereitet und überfordert davon. Wir schauen uns systematisch an, wie wir vorgehen können. Das ist keine Garantie für Erfolg. Integrative Kapazität spielt eine zentrale Rolle und ohne die kommen wir nicht weit.
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Informationslücken stopfen
Äußere Kommunikation
Zu Beginn unserer inneren Arbeit geht es erst einmal darum, eine Art von Kommunikation aufzubauen, mit deren Hilfe wir dann von anderen Anteilen erfahren können, was passiert ist. Meist verwendet man dazu erst einmal ein äußeres Mittel wie ein Kommunikationsbuch, Notizzettel, Botschaften usw. Ich hänge gerne Zettel auf Augenhöhe an die Tür, wenn ich glaube, dass bestimmte Anteile eher nicht ins Tagebuch rein schauen. Es kann helfen, alle Aktivitäten des Tages zu dokumentieren und andere Anteile einzuladen, das gleiche zu tun. Dann gibt es schon Anhaltspunkte, was passiert ist. Wenn Wissenslücken entstehen, können wir eine offene Frage hinterlassen, wer etwas weiß und das berichten möchte. Es ist normal, dass das am Anfang mühsam ist und nicht immer zu Antworten führt.
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Innere Kommunikation
Für innere Kommunikation können wir die Fragen laut stellen. Wir sprechen nach Innen und ermöglichen es anderen Anteilen, das über die Ohren mit zu hören. Das ist manchmal einfacher, als nur innerlich zu fragen. Beim Lauschen auf Antworten ist es wichtig, alles was hoch kommt zu beachten. Es ist gar nicht so selten, dass Anteile mit Bildern, Stimmungen, Gefühlen und Eindrücken antworten statt etwas zu sagen. Wir müssen also offen sein für Antworten auf allen Erlebensebenen, selbst dafür, dass nur ein Körpergefühl entsteht, das da vorher nicht war. Solche Bruchstücke an Informationen sind die ersten Puzzleteile, die uns helfen die Lücken zu stopfen. Wenn wir so etwas wahrnehmen, können wir uns noch mal versichern, ob das die Antwort ist, uns dafür bedanken und das wertschätzen und von da aus weitere Fragen stellen, um das Bild deutlicher werde zu lassen. Es braucht da Geschick und Kreativität und unsere detektivischen Fähigkeiten. So fängt innere Kommunikation sehr oft an. Es ist eben nicht so, dass man da immer gleich tiefe Gespräche führt oder ganz klare Aussagen hört. Solche Vorstellungen verdanken wir Fehldarstellungen in den (Sozialen) Medien. Meine Erfahrung ist, dass vor allem kontrollierende EPs sehr verbal sind und zwar mit Drohungen oder Beschimpfungen und ich bei fragilen Anteilen sehr feinfühlig aufpassen muss, was zu mir durchdringt. Das kann auch konsequent non-verbal sein, wobei langfristig ein eigener Kommunikationsstil erkennbar wird.
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Kommunikation üben
Am besten übt man den inneren Austausch in positiven Situationen. Dann können wir immer wieder einfache Fragen nach Innen stellen und gezielt darauf achten, ob wir eine Antwort bekommen. Das können einfach nur Hinweise auf eine schöne Blume am Wegrand sein oder Entscheidungsfragen, welche Sorte Eiscreme man kaufen soll. Ich habe immer das Gefühl, mich dabei innerlich anstrengen zu müssen, so als würde ich einen Muskel trainieren. In Wirklichkeit konzentriere ich mich und versuche mich mental auszustrecken nach dem Anteil, mit dem ich Kontakt suche. Mit der Zeit wird das einfacher und natürlicher. Wenn Amnesien entstehen, können wir Innen nachfragen, wer weiß, was passiert ist und bekommen Informationen. Die sind zwar lückenhaft, weil es nur ein Bericht ist und wir immer noch keinen Zugang zu den Erinnerungen haben, aber das ist schon ein guter Anfang. Anders herum dürfen Anteile Innen auch immer nachfragen, was Außen passiert ist, wenn sie es nicht mitbekommen haben und wir beschreiben ihnen das dann so gut wir können. Das mit dem Lücken füllen geht immer in beide Richtungen.
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Teilen üben
Im nächsten Schritt können wir daran arbeiten, die Menge der Information, die wir bekommen, zu vergrößern. Wir versuchen dann, unser Erleben in größere Abschnitte zu fassen und ganze Szenen zu teilen. Wir können uns das so vorstellen, als würden wir einen Filmausschnitt aus unseren Erinnerungen abspielen. Dabei können wir Bilder, Gefühle, Gedanken, Impulse, Beziehungen, Ziele oder was immer in der Situation wichtig war mit einfließen lassen. Die Information wird umfassender und es ist weniger Detektivarbeit nötig, um die Kernpunkte der Situation zu verstehen. Wir teilen dann auch echte Erinnerungen miteinander und nicht nur die reine Information. Auch das geht in beide Richtungen: Andere Anteile teilen, was sie erlebt haben, wir teilen auf Nachfrage, was bei uns los war, während sie es nicht mitbekommen haben. Nebenbei lernen wir uns besser kennen, weil wir mit der Art, wie die Anderen die Welt und sich selbst erleben, vertrauter werden. Was sie uns zeigen, sehen wir dann immer durch den Filter ihrer Wahrnehmung. Es kann wichtig sein, im Anschluss die reine Information von der persönlichen Bewertung zu trennen, weil die Bewertungen von TraumaZeit geprägt und dadurch nicht korrekt sein können. Wie wir etwas erleben ist nicht die Wahrheit über eine Situation sondern individuell. Wir erleben die Welt nicht wie sie ist sondern auch wie wir sind.
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Co-Bewusstsein entwickeln
Den Beginn von Amnesien bemerken
Ein Gedanke zu Amnesien, der mir persönlich geholfen hat (wobei das bei euch nicht zwingend so sein muss), ist dass die nicht aus heiterem Himmel passieren. Wenn ich etwas nicht mehr mitkriege, dann bin ich aus der Situation gegangen, weil sie mir zu viel war. Ich habe etwas getan. Das geht inzwischen automatisch, weil das früher nützlich war und sich so verfestigt hat. Ich erlebe etwas bestimmtes und denke nicht mehr darüber nach, sondern reagiere einfach. Aber es ist trotzdem meine Handlung. Das bedeutet, dass ich auch einüben kann, anders zu handeln. Immer wenn wir etwas automatisch machen, bedeutet das, dass wir erst einmal den Fuß in die Tür kriegen müssen, um etwas daran ändern zu können. Wir müssen den Automatismus einen kleinen Moment verzögern. Es hilft, wenn wir den Trigger kennen. Dann lässt sich ein Augenblick von Achtsamkeit dazwischen schieben, in dem wir bemerken können, dass der Trigger etwas auslöst, wie sich das anfühlt und wie die automatische Reaktion abläuft und wir uns aus dem Bewusstsein zurück ziehen. Das klingt erst mal wenig hilfreich, aber etwas Automatisches zu bemerken und es bewusst wahrzunehmen ist eine nötige Voraussetzung, um etwas ändern zu können. Solange der entscheidende Moment an uns vorbei geht, sind wir nicht handlungsfähig. Wir erleben es dann nur als etwas, das mit uns passiert. Ziel ist es also erst einmal, zu bemerken, wie wir aus der Situation gehen und sie jemand anderem überlassen. Wenn ihr nach einem Trick gesucht habt, das ist der Trick.
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Bleiben üben
Wenn wir die Auslöser etwas besser kennen und ein Gespür dafür entwickelt haben, wann und wie wir uns aus dem Bewusstsein zurück ziehen, dann können wir vorsichtig probieren, einen kleinen Moment länger da zu bleiben. Was anderes ist Co-Bewusstsein eigentlich nicht. Wir bleiben schlicht da, wenn jemand anderes auch da ist. Dabei achten wir darauf, dass ein Anteil richtig Vorne sein darf und der andere ein Stück weiter hinten bleibt. Was man als co-präsent bezeichnet, wenn mehrere Anteile ganz Vorne sind und sich das Erleben vermischt, ist meist verwirrend und unangenehm und führt nicht zu einem positiven Erlebnis. Deswegen vermeiden wir das und halten einen angemessenen Abstand zueinander. Am Anfang muss das auch nicht lang sein. Jeden Augenblick, den wir es aushalten noch da zu bleiben statt schon zu gehen, ist ein Gewinn.
Wir setzen uns damit einem Erleben aus, das Angst macht. Jemand anderes ist in Kontrolle, wir beobachten nur, was sie tun. Oft spüren wir Ablehnung oder Abneigung und finden es ganz schrecklich, wie der andere Anteil ist, weil deren Verhalten so sehr von unserem abweicht und wir uns schämen. Oder der Traumabezug wird überdeutlich und erschreckt uns. Es ist normal, am Anfang Angst oder Ablehnung zu spüren. Vorstellungen, dass alle Anteile sich lieb haben und eine glückliche Familie sind, entspringen nicht der durchschnittlichen Realität mit DIS. In der Regel ist es am Anfang schwer zu ertragen, auch nur irgendwas von den Anderen mitzubekommen. Das wird dann mit der Zeit besser, aber Harmonie ist harte Arbeit und ist selten schon vorhanden. Wir beginnen damit, trotz unserer Angst einen kleinen Moment da zu bleiben und zu erleben wie es ist, wenn jemand anderes Vorne ist. Dann bauen wir das vorsichtig aus. Es ist wichtig, dass wir wieder das Prinzip von Titration verwenden und das in ganz kleinen Schritten machen, weil es sonst zu viel ist und wir erst recht in der Dissoziation landen. Die müssen wir nicht durch Überforderung verstärken. Wir bauen sie so langsam und vorsichtig ab wie wir das mit chronischer Dissoziation machen. Immer nur einem Moment länger, so wie es erträglich ist. Das üben wir auch anders rum, indem andere Anteile versuchen ein klein wenig länger da zu bleiben und zu bemerken, wie wir Vorne gar nichts schlimmes erleben.
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Spielerisch Co-Bewusstsein üben
Sind wir so weit, dass wir etwas länger dabei bleiben, dann können wir kleine Spiele miteinander machen, in denen es darum geht mitzubekommen, was jemand anderes Vorne tut. Dazu eignet sich das Vorlesen besonders gut. Der Anteile Vorne liest ein Stück aus einer Geschichte oder einen Artikel vor. Der Anteil, der probiert co-bewusst zu bleiben, berichtet dann möglichst viel davon, was sie gehört haben oder beantwortet Fragen zu Details aus dem Text zB welche Farbe die Hose vom Frosch hat oder wo Puuh seinen Honig aufbewahrt. Das geht auch mit kleinen Youtube Videos oder was auch immer euch liegt.
In einem anderen Spiel könntet ihr einen Anteil einen Gegenstand verstecken lassen, während ihr versucht mitzubekommen, wo er versteckt ist. Glaubt mir, das ist eine sehr nützliche Übung.
Man kann auch versuchen co-bewusst Spiele miteinander zu spielen, je nach mentaler Reife. Das könnte Schach sein oder jedes andere Spiel, was man zu zweit spielt und wo Entscheidungen getroffen werden müssen. Wenn das nicht durch Traumabezug ausscheidet, gehen auch Kinderspiele wie Ich sehe was, was du nicht siehst. Ein Anteil sucht sich was aus, der andere schaut mit den Augen mit nach draußen und stellt Fragen und versucht raus zu finden, was es ist.
Spielerische Aspekte machen das Üben einfacher und motivieren ganz anders, als wenn wir das nur als Therapiehausaufgaben ansehen. Ihr könnt euch selbst Spiele ausdenken, die euch gefallen. Es ist gut, darauf zu achten, das immer wieder von beiden Seiten aus zu üben, selber Vorne sein und im Hintergrund mit dabei sein. Für den Anfang ist es einfacher, wenn immer nur 2 Anteile miteinander üben. Sonst wird es laut und wirr im Kopf und es wird unnötig schwierig. Bis wir das auf mehrere Anteile ausweiten können, haben wir schon genug Erfahrung gesammelt, um selbstständig mit dem weiter zu machen, was bei uns besonders gut passt.
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Co-Bewusstsein festigen
Mit der Zeit wird es einfacher, zusammen zu bleiben. Unsere Phobie vor den anderen Anteilen geht zurück, wir lernen uns kennen und vielleicht entsteht sogar Vertrauen. Dann können wir entscheiden, wie viel Co-Bewusstsein gut für uns wäre. Anteile, die als Alltagsteam zusammen arbeiten, profitieren davon, möglichst viel von dem mitzubekommen, was die anderen machen, damit die Übergänge leichter sind. Wir müssen dann nicht mehr ständig fragen, was los war oder was als nächstes dran ist. Der Alltag ist dann weniger bruchstückhaft und zusammengeschustert sondern flexibel und fließend. An anderen Stellen macht es nicht immer Sinn, Co-Bewusstsein dauerhaft zu etablieren. Gerade Trauma Anteile werden sonst nur unnötig oft Triggern ausgesetzt. Solange wir das Trauma nicht prozessieren können, bringt es uns nichts, uns einfach nur immer wieder triggern zu lassen. Für solche Anteile ist es wichtig, dass sie Realitäts-Checks machen können und Grounding nutzen. Für die Trauma Bearbeitung ist es in jedem Fall notwendig zu lernen, eine Zeit lang zuverlässig co-bewusst zu sein. Ich sags ganz deutlich: Skills-gestützte Exposition führt nicht wundersam zu dem nötigen Co-Bewusstsein, um Erinnerungen zu integrieren, nur weil wir DBT Skills anwenden. Wer da behauptet hat strukturelle Dissoziation nicht verstanden. Wir müssen uns dieses Level an Integration sorgfältig erarbeiten, bevor wir versuchen Trauma zu prozessieren. Das bedeutet nicht, dass wir das im Alltag auch nutzen müssen. Das kommt auf die spezielle Situation in eurem System drauf an und niemand kann pauschal sagen, was gut wäre.
Wenn wir mit Anteilen üben ständig co-bewusst zu sein, kostet das am Anfang viel Energie. Wir müssen uns aktiv darum bemühen. Irgendwann ändert sich das. Dann wird das natürlich für uns, die dissoziative Barriere ist reduziert und Amnesien gehören der Vergangenheit an. Irgendwann braucht es eine bewusste Anstrengung, mal nicht alles mitzubekommen und wir spüren deutliche Erschöpfung, wenn wir das in Notfallsituationen nutzen.
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Natürliche Entwicklung
Wenn genug Kapazität vorhanden ist, dann erleben Systeme oft eine natürliche Entwicklung, bei der die dissoziativen Barrieren sich von selbst reduzieren. Wir unterstützen das nur, indem wir aktiv friedliches Co-Bewusstsein üben und damit Chaos vorbeugen. Entgegen der natürlichen Entwicklung etwas durchzusetzen, sei es Barrieren künstlich zu reduzieren oder künstlich hoch zu halten, klappt meiner Erfahrung nach nicht gut. Wer künstlich etwas reduzieren will, landet oft nur in der Krise, weil es zu viel auf einmal war. Oder das scheitert einfach, weil es nicht geht und wir uns die Zähne dran ausbeißen. Dissoziation hat die Neigung, sich von alleine aufzulösen, wenn die Kapazität dazu da ist, ob uns das gefällt oder nicht. Manche Anteile hängen daran, die innere Trennung aufrecht zu erhalten und wer versucht, langfristig alles so beizubehalten wie es ist, wird wahrscheinlich erleben, dass es wie Wasser durch die Finger rinnt, sich nicht festhalten lässt.
Dissoziation bleibt, so lange sie gebraucht wird. Das Bewusstsein hat da seine eigene Logik. Ich halte es nicht für ratsam gegen den inneren Zeitplan zu arbeiten. Das verschwendet Zeit und Kraft. Wir begleiten uns am besten in den natürlichen Schritten, die unser System gerade geht und passen unsere Übungen dem an. Dann probieren wir immer nur den Schritt, in dem wir uns gerade befinden, ein klein wenig voran zu bringen. Sollte unsere Psyche Sprünge machen, weil die eben gerade möglich sind, brauchen wir sie nicht künstlich zurück zu halten.
Ich möchte, dass alle wissen, dass es da innere Prozesse gibt und dass wir die nur bedingt beeinflussen können. Druck bewirkt genau gar nichts, außer Scham und Stress. Wenn sich nichts löst, ist es sinnvoller zu schauen, warum das so ist, ob es Gründe gibt, warum wir die Dissoziation noch brauchen oder Anteile glauben, dass sie noch gebraucht wird und ob wir integrative Kapazität erhöhen können. Ein sicheres Leben ohne neue Traumatisierung ist die Grundlage. Ähnlich wie bei der chronischen Dissoziation unseres Körpererlebens brauchen wir unsere Amnesien sonst noch. Vielleicht brauchen wir mehr Unterstützung als Gegengewicht zu der Bürde, mehr über andere Anteile zu wissen. Es wird immer einfacher sein mit uns zu arbeiten als gegen uns und uns auf dem Weg zu begleiten, auf dem wir ohnehin schon sind statt zu versuchen Prozesse künstlich herbeizuführen. Alles Künstliche hat die Neigung sich wie Gewalt anzufühlen, wenn man versucht das gegen Widerstand durchzusetzen. Es reicht völlig aus, das sanft zu machen.
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