Die Vorstellungen von Integration sind oft vage. Manche dieser Vorstellungen sind romantisch, andere gruselig, aber meist geht es dabei um eine bildliche Vorstellung, die uns nicht verrät, wie Integration denn nun funktioniert und die auch nicht korrekt ist. Deswegen schauen wir uns die Bestandteile von Integration an und erklären die Bedeutung von Synthese, Realisation, Personifikation und Präsentifikation. Wenn wir diese Elemente mal verstanden haben, können wir sie zunehmend in unserer eigenen Therapie beobachten. Fortschritt lässt sich nur feiern, wenn man ihn als Fortschritt erkennt. Das sollte auch jede Angst vor Integration auflösen, die auf einem falschen Verständnis des Konzepts beruht und die überzeugen, die sich gegen Integration stark machen.
Synthese
Synthese ist eine mentale Handlung bei der Aspekte einer Erfahrung verknüpft werden, die zusammen gehören und wo zwischen ihnen differenziert wird, um ein stimmiges und zusammenhängendes Ganzes zu schaffen.
Aspekte von Erfahrung könnten sein:
- der Körper (was wir tasten und fühlen, sehen, riechen, schmecken, hören; Bewegung oder andere physiologische Erfahrungen wie Stressreaktionen)
- unsere Gefühle (das kann auch verschiedene Gefühle und unterschiedlicher Stärke gleichzeitig umfassen)
- unsere Gedanken (auch Erinnerungen, Erwartungen und Vorstellungen)
- und Verhalten (was wir getan haben, aber auch Impulse, denen wir nicht gefolgt sind, was andere getan haben)
Wenn das mit der Synthese klappt, könnte ich wie folgt in meinem Lieblingssessel sitzen und Schoko Eis essen: Ich kann es anschauen und sehen wie dunkel und schokoladig es ist, damit verknüpft wahrnehmen, wie ich den Löffel halte und die Bewegung, wie ich den Löffel zum Mund führe, den Geschmack und ein zufriedenes Seufzen verknüpfen während ich mich zurück lehne. Ich verknüpfe mein zufriedenes Gefühl mit dem Eis, dem Körpergefühl mich in meinem liebsten Sessel zu entspannen und dem Gedanken, dass ich Feierabend habe und alle Arbeit getan ist. Ich kann mich daran erinnern, früher schon mal Schoko Eis gegessen zu haben, aber auch differenzieren, dass dieses Mal anders ist als damals mit 16 und anders als letzte Woche. Ich kann den Impuls wahrnehmen, noch einen Löffel voll zu nehmen und verknüpft damit die Erwartung, dass es kalt und lecker sein wird.
All diese Elemente werden verknüpft zu einem großen Bild. Die Erfahrung ist komplex und umfasst zufriedene Gefühle und einen gemütlichen Sessel zu dem es auch Gefühle gibt, eine bestimmte Zeit am Tag und die Geschichte eines ganzes Tages, die zu diesem Moment hingeführt hat usw. Das ist nicht nur die Handlung des Eisessens, die im leeren Raum schwebt. Und während der ganzen Erfahrung ist mir bewusst, dass der Löffel weiß ist, aber ich kann differenzieren, dass das nicht wichtig ist, es ist nur ein Detail, das die Situation nicht definiert.
Versagen von Synthese bei Trauma
Normalerweise passiert Synthese automatisch. Wenn wir aber Traumatisches erleben, sind unsere integrativen Kapazitäten niedrig und das Verknüpfen und Differenzieren passiert in der Situation nicht oder es passiert nur teilweise. Strukturelle Dissoziation ist eine spezielle Art von Fehler bei der Synthese, bei dem Anteile einer Person verschiedene Elemente der Situation verknüpfen, dann aber voneinander getrennt werden, sodass auch später das Verknüpfen der Elemente unmöglich bleibt, es sei denn es gibt innere Kooperation. Ohne Synthese können wir kein stimmig zusammengesetztes Modell schaffen, die Erfahrung wird nicht ordentlich ‘zu den Akten’ gelegt. Aspekte davon können getriggert werden und uns weiter belasten.
Bei geringer Synthese fühle ich mich in meiner Schoko Eis Situation vielleicht betäubt. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie es geschmeckt hat, nur dass es kalt war. Ich weiß vielleicht nicht wie sich der Körper gefühlt hat, was für Gefühle ich hatte, sondern nur wie gerne ich meinen gemütlichen Sessel habe, während der Kontext vom Tag und wie zufrieden ich war völlig weg ist. Vielleicht hab ich das Gefühl, dass es eigentlich nur einmal in meinem Leben Schoko Eis gab, weil die Erinnerungen zusammengeschmissen wurden ohne zu differenzieren und, das kommt erstaunlich oft vor, ich könnte auf den weißen Löffel fixiert sein als Schlüsselelement, obwohl das in der Situation eigentlich unbedeutend ist.
Ihr könnt so ein Muster vielleicht wiedererkennen, wenn ihr an eure eigenen Trauma Erinnerungen denkt. Die oben genannten Aspekte wurden nicht ordentlich verknüpft, dadurch fehlen Puzzleteile der Erfahrung oder wir können uns an manche erinnern, aber nicht wirklich gleichzeitig und im angemessenen Verhältnis zueinander.
Synthese in der Trauma Heilung
Ein Teil davon Trauma zu integrieren besteht darin die verschiedenen Puzzleteile zu finden und jedes an den angemessenen Platz innerhalb des Erlebens zu stellen, sie zu verknüpfen und zu differenzieren von anderen Erfahrungen. Das ist nicht an einem Tag getan und wird kombiniert mit anderen Elementen von Integration. Unsere Ts stellen uns gezielt Fragen, die unsere Aufmerksamkeit auf fehlende Puzzleteile lenken können oder zeigen uns Verknüpfungen zwischen Aspekten auf, um uns zu helfen diese unterschiedlichen Qualitäten von Erleben auf sichere Art zu entdecken. Im Trauma graben hilft selten, aber in der Regel gibt es genug getriggerte Momente, die Fragmente von Situationen wieder hoch bringen und dann können wir probieren zu sehen, wie diese Teile ins große Bild passen. Das ist ein multi-dimensionales Puzzle. Wir suchen nach der Antwort auf die Frage: Wie war es, in all seinen Aspekten?
Manches verknüpft sich ganz natürlich leichter als anderes. Riechen und Schmecken sind sich nahe, aber Verknüpfungen mit abstrakten Dingen können schwierig sein. Eine besondere Leistung ist es, Worte mit den verschiedenen Qualitäten von Erleben zu verknüpfen. Worte erlauben es uns, über etwas zu sprechen, was sonst nur eine formlose Masse in uns ist. Wenn wir diese Verknüpfung zwischen Gefühlen und Wahrnehmungen mit Worten geschafft haben, können wir über Geschehnisse anders berichten. Unsere Worte passen stimmig zum Rest unseres Ausdrucks und unseres inneren Erlebens, während wir etwas teilen.
Die therapeutischen Werkzeuge für die Trauma Bearbeitung fördern auch Synthese. Je nach Technik läuft das ein bisschen anders, aber ihr könnt immer das Bemühen entdecken, Aspekte des Erlebens zu verknüpfen, während ihr strukturiert durch die Erinnerung durch geht, damit es möglichst sicher für euch ist. Die Punkte zu verbinden, um ein großes Ganzes zu bilden, braucht einiges an integrativer Kapazität und während des Verknüpfens findet ein gewisses Maß an kontrolliertem Wiedererleben statt. Therapie bei komplexer PTBS braucht oft länger, weil nicht genug integrative Kapazitäten vorhanden sind, um das so auf einen Schlag zu machen. Dann können unsere Ts uns helfen, einen Aspekt nach dem anderen zu verknüpfen, in kleinen Dosen, sodass wir damit zurecht kommen können. Das braucht länger, ist aber auch erfolgreich.
Synthese bei DIS und Subformen
Mit einer DIS wird das Puzzle komplizierter. Wir versuchen nicht nur Bruchstücke einer traumatischen Situation zu verknüpfen; das Puzzle ist unser ganzes Leben und unsere Aufgabe ist Anteile unserer Persönlichkeit über Zeit und Situationen hinweg so zu verknüpfen, dass sich ein stimmiges und zusammenhängendes Gefühl von Selbst daraus ergibt. Ziel ist es durch flexiblere Reaktionen auf gegenwärtige Situationen die Funktionalität zu erhöhen.
Ohne Synthese über Anteile hinweg
Verschiedene Anteile haben verschiedene Bruchstücke unseres Lebens in sich verknüpft. Sie haben also verschiedene Fertigkeiten für verschiedenen Handlungen, unterschiedliche Fragmente von Erinnerungen, die zu unterschiedlichen Erwartungen für die Zukunft führen und damit zu unterschiedlicher Motivation und Zielen; dazu unterschiedliche Erfahrungen und Wissen und ein anderes Verständnis davon, wer sie sind usw.
So lange ein aktiver Anteil zu der gegebenen Situation passt, gibt es kein Problem. Aber oft bräuchten wir mehr Zugang zu anderen Optionen und wir kommen nicht ran, weil das dissoziiert ist. Das könnte bedeuten, dass wir uns kindlich benehmen, wenn es jemand Erwachsenes bräuchte. Viel öfter ist es aber als ob wir an sozialen Interaktionen in der Schulpause teilnehmen sollen und wir kriegen es einfach nicht hin, unser Set von Verhaltensweisen in der Schule und beim Lernen mit spielerischen Interaktionen zu verknüpfen und noch dazu mit der Handlung des Essens. So machen wir am Ende nur eins davon, wo es ein Zusammenspiel bräuchte.
Wir werden uns außerdem in Situationen wiederfinden, wo wir nicht zwischen vergangenen Erfahrungen und dem Heute differenzieren können und Anteile die Puzzleteile wiederholen, zu denen sie Zugang haben zB in Flashbacks oder Abwehrstrategien. Das kann uns in missbräuchlichen Situationen festhalten, weil wir die heutigen Übergriffe gar nicht mit dem Heute verknüpfen oder wir verknüpfen nur bestimmte Erfahrungen und andere nicht, sodass unser Verständnis der Situation nur stückhaft ist und wir gar nicht merken, dass etwas Übergriffiges passiert. Vielleicht nehmen wir auch sichere Beziehungen gar nicht richtig wahr, weil wir unser Abwehrverhalten nicht mit Früher verknüpfen und denken, es würde zur gegenwärtigen Situation gehören.
Die meisten Konflikte in DIS Systemen beruhen auf einem Mangel von Verknüpfungen, sodass verschiedene Anteile in bestimmten Situationen unterschiedliche Ziele verfolgen, weil ihre Interpretation jeweils eingeschränkt ist und anders aussieht.
Ohne Zugang zu allen Puzzleteilen, die unser Leben ausmachen und die uns als Person prägen, werden wir immer erleben, dass irgendwas an uns oder unserem Verhalten nicht stimmig ist, dass unsere Entscheidungen nicht auf dem vollen Bild von dem was passiert ist und jetzt passiert basieren und wir beschränkt sind in der Art wie wir reagieren können. Wie dysfunktional das ist, hängt von den Verknüpfungen ab, die wir haben und kann sich zwischen Systemen stark unterscheiden.
Synthese für Integration
Um zu heilen, kommen wir zurück zu dem Grundprinzip vom Verknüpfen und Differenzieren. Anteile werden nicht irgendwie zusammengematscht. In Wirklichkeit bilden wir Verknüpfungen zwischen den Aspekten unseres Lebens und den Erfahrungen, die verschiedene Anteile in sich bewahren und bauen da draus das große Bild. Die Vorstellung Anteile irgendwie zu verschmelzen dient Betroffenen nicht sehr, weil das irreführend ist was die inneren Handlungen angeht, die es für Integration braucht. Es geht nicht darum, nur ein Erleben draus zu machen, das zählt oder Aspekte von uns zu reduzieren. Wir verknüpfen Dinge, sodass wir das alles sein können und wissen, dass das Wir sind. Das Verständnis darüber wer wir sind verschiebt sich, von einem Gefühl losgelöster Anteile, die mehr oder weniger zusammen arbeiten hin zu der Erkenntnis, dass wir als Person ein System von unterschiedlichen Einheiten sind, die miteinander verknüpft sind und die uns als Ganzes ausmachen.
Wir können uns rückblickend über verschiedene Altersstufen und Situationen hinweg beobachten und bemerken, welche der verschiedenen Einheiten unserer Persönlichkeit aktiv waren und die Puzzleteile zusammen setzen. Wo einzelne Anteile von uns es nicht geschafft haben, sich an Veränderung anzupassen, weil sie mit ihren wenigen Aspekten fest steckten, die sie für sich verknüpfen konnten, kann ein ganzes System von verknüpften Anteilen sich anpassen, das heißt Veränderungen, Wachstum und das Lernen aus neuen Erfahrungen wird möglich und damit eine anderen Zukunft.
Theorie und das echte Leben
Synthese lässt sich relativ leicht erklären. Es braucht sehr viel mehr Zeit und Aufwand, um da hin zu kommen. Bei einer DIS dauert das Jahre. Die Schritte zur Integration werden bekannt klingen; das sind genau die kleinen Schritte, an denen wir in Therapie arbeiten. Akzeptanz, sich gegenseitig kennen lernen, Kooperation je nach Stärken und Schwächen, mutwilliger switchen um den Alltag zu managen, teilen, blending usw. Trauma Arbeit wird ein wichtiger Teil des Prozesses sein, wenn die Zeit dafür gekommen ist, weil ja doch einige der Puzzleteile, die wir verknüpfen, was mit Trauma zu tun haben, das Wissen darüber oft über mehrere Anteile verstreut. Diese Bruchstücke müssen ihren angemessenen Platz in der Vergangenheit finden, während andere Aspekte die traumatisierte Anteile tragen einen Platz in der Gegenwart finden können. Das sehen wir, wenn sie neue Rollen oder Aufgaben im System übernehmen. Der Prozess ist voll Kummer und Trauer, aber es ist auch, wie wir Kummer und Trauer überwinden können.
Diese Art von Verknüpfungen brauchen auch integrative Kapazitäten. Wir können nur so viel verknüpfen, wie wir eben können. Manche werden kein hohes Maß an Synthese erreichen, deswegen ist es auch zu unflexibel, vollständige Integration einfach als fixes Ziel festzulegen. Im echten Leben unterscheiden sich Systeme darin, wie viel Synthese erreichbar ist. Es ist zum Glück gar nicht notwendig alles zu verknüpfen, um ein funktionaleres Leben zu haben. Integrative Kapazitäten wachsen mit unseren Ressourcen.
Mit fortschreitender Synthese wird sich das Bild verändern, das jeder einzelne Anteil sehen kann: es wird komplexer, besser geerdet und vielfältiger. Manchmal drehen sich ganze Weltanschauungen um 180 Grad, wenn es Zugang zu zusätzlichen Informationen gibt. In der Regel verändert sich auch das Bild von einem selbst deutlich. Das ist eine riesige Leistung, innere Arbeit auf die wir sehr stolz sein können. Das ist offensichtlich auch schwieriger als so eine Vorstellung davon Anteile einfach zu verschweißen. Fusion wird nicht andauern, wenn vorher nicht genug verknüpft und differenziert wurde. Statt uns vorzustellen unsere Anteile ineinander zu schmelzen, wäre es viel hilfreicher, sich auf die sehr praktische Arbeit von Synthese zu konzentrieren, um Integration zu erreichen.
Gabrielle says
Liebe Theresa und alle anderen, die an dieser Seite mitarbeiten,
vielen Dank, dass ihr diese Seite geschaffen habt!
Es gibt sehr viele und klare Infos und die Links (in blau) führen stimmig weiter.
Mich würde interessieren, ob ihr nicht ein Buch daraus machen könntet, oder eine große PDF von allen Beiträgen, zum Kaufen.
Und gibt es irgendwo eine Liste mit allen Abkürzungen?
Viele habe ich entdeckt, einige (noch) nicht.
Alles Liebe für euch alle und weiterhin Mut zur Selbstfürsorge 💚💚💚
Gabrielle, KPTBS
Theresa says
Hi,
Tatsächlich habe ich die letzten zwei Jahre daran gearbeitet ein Buch zur Stabilisierungsphase zusammen zu stellen und das Manuskript ist so weit, dass ich es Verlagen anbieten kann. Wann es so weit ist, dass es das wirklich zu kaufen gibt ist leider noch nicht abzusehen.
Einen Überblick über Abkürzungen gibt es nicht. Aber ich beantworte gerne, wo Lücken sind.
Gabrielle says
Liebe Theresa, vielen herzlichen Dank für eure Antworten auf meine Fragen.
Ich habe mich inzwischen anders organisiert: ich lese all eure Beiträge, die mich anziehen, mache Notizen und unbekannte Abkürzungen habe ich entweder in anderen Artikeln von euch oder sonstwo im Internet gefunden 😊
Ich habe eure Antwort hier heute zufällig gefunden, freue mich darüber. 💚
Ich möchte euch nochmals sagen, wie sehr mir diese Seite hilft.
Von Betroffenen für Betroffene, also aus erster Hand. Das ist super, weil das Erfahrungen sind, die viel mehr sagen als pure Theorien von Wissenschaftlern, auch, wenn die etwas hilfreich sind.
Anhand eurer Artikel kann ich für mich schon viele Elemente finden, die mich auf meinem Weg weiter bringen.
Von Herzen Danke. Alles Liebe und Gute für euch 🍀 Gabrielle