Realisation ist eine integrative mentale Handlung, die etwas mehr und etwas andere Energie genötigt als Synthese. Wir holen unsere traumatische und dissoziierte Erfahrung raus aus dem Nebel des Nicht-Wissens oder nur Vage-Wissens und kommen in eine ganzheitliche Gewissheit dieser Realität. Das heißt wir wissen mit unserem ganzen Wesen, dass
- schlimme Dinge passiert sind
- und sie uns passiert sind
- und wirklich schlimm waren
- wir gelitten haben und verletzt wurden
- Bedürfnissen nicht begegnet wurde
- es da bis heute eine Verletzung gibt
- und die unser Leben, wer wir sind und wie wir uns in der Welt sehen beeinflusst
Anders als Flashbacks und reines Wiedererleben ist diese Erfahrung geerdet und wir haben Kontrolle darüber. Wir erlauben uns zu wissen und zu spüren, was wirklich passiert ist, was das für unser Leben bedeutet und handeln dann verantwortungsvoll auf der Basis dieses Wissens. So können wir weiteren Schaden verhindern, den Einfluss von Trauma begrenzen und heilen. Das kann sich anfühlen, als würde sich ein Schleier heben, Puzzleteile finden ihren Platz, da ist mehr Klarheit, Ziele verändern sich entsprechend neuer Überzeugungen und unser Verhalten verändert sich ohne großen bewussten Aufwand. Es steckt überraschend viel Kraft, Mut und Freiheit in Realisation.
Das Problem mit dem Nicht-Realisieren
Amnesien, Depersonalisierung, Derealisation, Stupor und Fragmentierung waren effektive Beschützer, die uns davon abgehalten haben, das Ausmaß unseres Leides zu TraumaZeit zu realisieren. Sie erhalten das Trauma auch stabil, unverändert und stecken geblieben. Weil sie nicht integriert sind, tauchen die Erinnerungen in Flashbacks auf und verschwinden dann wieder im Nicht-Wissen. Um zu heilen, müssen wir die Dissoziation überwinden und die Verbindung zwischen der Realität des Traumas und unserem Leben wieder herstellen. Das stoppt die Flashbacks.
Solange wir wichtige Lebensereignisse einfach aus unserem Bewusstsein ausschließen, werden unsere Überzeugungen, Ziele, Handlungen und unser Selbst-Bewusst-Sein verwirrt sein. Wir können die Situationen nicht vollständig erfassen, deswegen können wir unsere Ziele auch nicht entsprechend anpassen. Eine klassische Folge von Nicht-Realisieren ist Re-Traumatisierung: wenn uns die Gewalt völlig klar wäre und wie sie unser Leben beeinflusst, würden wir nicht zu Tätern zurück kehren und sie weiter machen lassen. Unsere dissoziierten Überzeugungen sagen uns, dass wir daran Schuld und dafür verantwortlich sind, wir können gar nicht das Ziel fassen uns selbst zu schützen und laufen so immer wieder in schädliche Situationen rein. Unser Gefühl von Selbst verändert sich passend zum Nicht-Realisieren zu einer Trance-artigen parallelen Realität, in der wir gar nicht mehr merken, dass was verkehrt oder unlogisch ist.
Der Weg zu Realisation
Realisation ist in der Regel leidvoll und ist nicht immer leicht zu erreichen. Oft kommen uns toxische Scham oder toxische Schuldgefühle in die Quere. Das sind Symptome unserer Dissoziation, weil sie uns davon abhalten zu realisieren, welche Rolle die andere Person in der Situation gespielt hat, manchmal sogar davon überhaupt zu realisieren, dass eine andere Person involviert war.
Wie viel wir realisieren können, hängt von unserer integrativen Kapazität ab. Das ist einer der Gründe, warum es meist nötig ist, da mit Ts dran zu arbeiten. Mitgefühl, Bestätigung, Freundlichkeit und Co-Regulation können vorübergehend unsere Kapazität erhöhen. Außerdem brauchen wir das Feedback einer nicht am Trauma beteiligten Person, um eine neue Perspektive gewinnen zu können.
Wir fangen mit der Grundlage von Synthese an, den Puzzleteilen unserer Erfahrung, die wir zusammen setzen. Synthese alleine braucht kaum Realisation, aber es gibt keine Realisation ohne Synthese. Wir sprechen in der Therapiesitzung über unsere Erinnerungen oder Fragmente von Erinnerungen. Unsere Ts hören zu, bieten Mitgefühl und Resonanz, spiegeln uns vielleicht Dinge zurück und fragen gezielt nach, um mit uns Überzeugungen zu unserem Erleben zu erforschen. Realisation ist stabiler, wenn man sie teilt.
Alte Überzeugungen können in einem neuen Licht gesehen werden, unsere innere Haltung gegenüber der Erfahrung ändert sich. Vielleicht merken wir, dass die Handlungen, die wir zu TraumaZeit genutzt haben, um uns zu beschützen, nicht mehr gebraucht werden, das Ziel ist längst erreicht.
Wenn wir jetzt die Puzzleteile zusammen fügen, ergibt das alles auch Sinn, alles findet seinen Platz. Verwirrung löst sich auf und zurück bleibt eine Klarheit darüber was passiert ist. Es ist nicht angenehm sich der Realität so zu stellen, aber es ist gleichzeitig auch sehr befreiend. Die Welt ergibt Sinn, unser eigenes Verhalten ergibt Sinn, wir müssen unsere Realität nicht mehr auf den Kopf stellen, um zu vermeiden das ganze Bild zu sehen. Verhalten verändert sich als natürliche Reaktion auf neu gefundenes Verstehen.
Ihr wisst, dass ihr auf dem richtigen Weg seid, wenn Schuld und Schamgefühle sich auflösen und ihr eine gesunde Wut gegenüber Tätern entwickelt und Trauer über die Wunden der Vergangenheit und deren Einfluss auf die Gegenwart. Realisation ist kein kaltes Verstehen mit dem Kopf, sondern ein komplexes ganzheitliches Erleben.
Diesen Prozess findet ihr in jeder erfolgreichen Art der Trauma Bearbeitung. Manche gehen davon aus, dass Pendulation oder bi-fokale Aufmerksamkeit zwischen Erinnerung und Gegenwart bei der Realisation hilft. Wir können den Effekt auch im Gespräch erreichen, wenn unsere Ts uns Geschichten teilen lassen und uns dabei co-regulierend und erdend mit mitfühlender Rückmeldung begleiten. Das halte ich persönlich für einen sehr machbaren Ansatz, gefolgt von EMDR, wo Realisation oft spontan während des Prozessierens passiert. Nur Dissoziation zu unterbinden, zB durch die Anwendung von DBT Skills während der Exposition, führt nicht automatisch zu Realisation. Im dümmsten Fall verstärkt es strukturelle Dissoziation. Desensibilisieren ist nicht das gleiche wie integrieren.
Ihr könnt die Schritte sehr wahrscheinlich nicht alleine gehen. Es braucht da Anleitung und die Perspektive eines Gegenübers. Das hier ist ein Kernelement von Trauma Bearbeitung und wenn das so einfach alleine zu lösen wäre, dann wär Trauma kein so großes Problem. Trotzdem kann es meiner Erfahrung nach manchmal zu spontaner Realisation kommen, wenn die integrative Kapazität gegeben ist.
Nicht-Realisieren bei DIS
DIS ist Dissoziation, die Anteile von uns getrennt voneinander gefangen hält im Reich des Nicht-Realisierens. ANPs wissen vielleicht wenig über Trauma und wenn sie etwas wissen, dann ergreifen sie nicht das damit verbundene Leiden. Fragmente von Erinnerungen werden behandelt, als wären sie nur halb-real.
Täter-imitierende Anteile realisieren nicht, dass die Dinge auch ihnen passiert sind, weil sie keine eigenständigen anderen Personen sind. Anteile, die sich mit Trauma auskennen verstehen das Leiden vielleicht tiefgreifend, verpassen aber völlig die Realität, dass das alles heute vorbei ist. Unsere Seele hat da eine super Arbeit geleistet, die Realität vor uns zu verstecken.
Wenn wir all diese Elemente getrennt voneinander halten, dann bleiben wir hier stecken. Unser Verhalten wird anachronistisch sein und unzureichend für die Herausforderungen von heute. Vielleicht verhalten wir uns sogar schädlich, weil wir es nicht besser wissen. Es ist notwendig die Realität zu kennen, um in ihr zu leben und darin ein sicheres Leben zu gestalten. Deswegen brauchen alle Anteile mehr Realisation, nicht nur vom Trauma sondern auch vom Alltag in der Gegenwart.
Der Weg zur Realisation bei DIS
Wir müssen klein anfangen, also nicht mit Trauma. Bei einer DIS ist es schwer genug, überhaupt erst mal zu realisieren, dass da wirklich Anteile Innen sind und sie real sind. Die Stimmen oder andere Intrusionen kommen von dissoziierten Anteilen von uns. Unser erstes Ziel von Realisation ist ein Bewusstsein füreinander im System zu schaffen, die Phobie vor dem inneren Erleben und den Anteilen zu überwinden.
Dann können wir uns strategisch den verschiedenen Sorten von Nicht-Realisieren zuwenden und Anteilen, die mehr vom großen Ganzen wissen müssen, in mehr Aspekte unseres Lebens einführen.
Für ANPs bedeutet das meist Innen zuhören, kommunizieren und über die anderen lernen.
Täter-imitierende Anteile können Übungen machen, um zu lernen, dass sie den selben Körper teilen wie der Rest vom System, was Introjekte sind und wie Dissoziation da wirkt, warum Beschützer wie sie gebraucht werden usw und sich dann in Zeit und Raum orientieren, um ganz genau zu prüfen, ob ihr Verhalten angemessen ist.
Anteile, die in TraumaZeit feststecken könnten ‘gerettet’ und in die Gegenwart gebracht werden oder sich an einem Zeitstrahl am Leben des Systems entlang arbeiten, um in der Gegenwart anzukommen,wo sie sich orientieren können und bemerken, dass Zeit vergangen ist und das Leben sich geändert hat.
Realisation kann sehr plötzlich kommen, zB wenn Innenkinder an sich runter schauen und merken, dass sie in einem erwachsenen Körper stecken. Seid darauf vorbereitet, dass Kontakt mit der Realität so manches Weltbild auf den Kopf stellen kann und einzelne Anteile für begrenzte Zeit in eine Krise rutschen. Dinge, von denen wir gedacht haben, wir hätten sie begriffen, gehen manchmal wieder verloren, weil nicht alle das realisiert haben oder zu wenig Kapazität da war, um die Erkenntnis fest zu halten. Manchmal braucht das eine ganze Weile, bis etwas zu einer von allen geteilten Erkenntnis wird.
Wir werden Trauma nicht integriert bekommen ohne die inneren Verbindungen und wir können die Dissoziation der Persönlichkeit nicht überwinden ohne Trauma und unser gegenwärtiges Leben zu realisieren. Das ist anspruchsvolle Arbeit, die viel Energie kostet (wundert euch nicht über Erschöpfung) aber das lohnt sich auch richtig: Dinge ergeben Sinn und werden klar. Was stecken geblieben war, löst sich. Wir können beginnen uns zu entfalten, statt in einem Gefängnis der Vergangenheit zu sitzen. Unsere Lebensgeschichte hört auf sich ständig zu wiederholen und wir können das hinter uns lassen. Wir können Sicherheit und Frieden finden. Das sind die Früchte von Integration und dran kommen wir durch Realisation.
Personifikation und Präsentifikation sind spezielle Formen von Realisation, die wir verstehen müssen, wenn es um strukturelle Dissoziation geht. Mehr dazu bald.
dodo says
wow, dieser Text trifft es so genau auf den Punkt. Das heisst für mich wahre Trauma-Integration oder eben Realisation. Die traumabehaftete Vergangenheit und die Gegenwart endlich zusammenbringen und das eigene Leben und die eigene Persönlichkeit damit zu einem Ganzen machen. An diesem Punkt stehe ich gerade. Wie man dazu vorgeht erschliesst sich mir nur langsam. Mir hilft in Ansätzen der completion process von Teal Swan, den man auch gut alleine anwenden kann. Liebe Grüsse und alles Gute Dodo