Personifikation ist eine spezielle Form der Realisation. In dieser mentalen Handlung verbinden wir unsere Erfahrung mit unserer Ich-Perspektive in der ersten Person. Das bedeutet, wir führen die Konzepte von ‘ich’, ‘mein’, ‘mir’ und ‘mich’ mit Erfahrungen unserer Vergangenheit, Gegenwart und erwarteten Zukunft zusammen. Ich habe Leidvolles erlebt. Das ist mir passiert. Meine Familie behandelt mich so. Jetzt werde ich mich um mich kümmern.
Das Problem fehlender Personifikation bei Trauma
Beim Trauma verlieren wir oft unsere Ich-Perspektive. Dann erleben wir Symptome wie Depersonalisierung und Derealisation. Die Dinge, die wir in der Synthese verknüpfen, werden nicht richtig mit uns verbunden und fühlen sich deswegen taub, entfremdet oder unwirklich an. Gewalt kann sich so anfühlen, als wäre das gar nicht uns passiert, sondern als hätten wir nur zugeschaut. Körperteile können sich so anfühlen, als würden sie nicht zu uns gehören.
Wir distanzieren uns von unserem Erleben und unserer Lebensgeschichte, indem wir unser ‘Ich’ davon entfernen. Es gibt leider keine Heilung für Erlebnisse, die nicht zu uns gehören.
Selbstwert wächst, wenn wir Dinge schaffen, unsere eigene Selbstwirksamkeit spüren und das in unsere Persönlichkeit integrieren. Solange wir uns von unserem ‘ich’ und ‘meins’ dissoziieren, werden wir auch unsere Erfolge nicht richtig spüren können, sie fühlen sich nicht besonders oder real an. Wir realisieren gar nicht, wie gut wir sind.
Vielleicht haben wir wenig Motivation, uns um uns selbst zu kümmern, weil wir keine Beziehung zu diesem ‘ich’ haben, also warum sollten wir dem was zu essen geben. Wenn wir uns von unseren Bedürfnissen entfremdet haben, werden wir uns nicht darum kümmern. Grundlagen werden einfacher, wenn wir wieder mit uns verbunden sind.
Ein Mangel an Personifikation zeigt sich auch, wenn die emotionalen Zustände anderer schnell zu unseren emotionalen Zuständen werden. Wir verbinden deren Erfahrung mit unserer Ich Perspektive. Das wird oft ‘hochsensibel’ genannt aber eigentlich ist es Enmeshment und führt zu Ohnmachtsgefühlen.
Wir brauchen Personifikation, um als integrierte Person zu leben, was Leiden in vielen Lebensbereichen reduziert.
Personifikation
Am besten beginnen wir damit, die Erfahrungen der Gegenwart mit unserem ‘Ich’ zu verbinden.
Wir können achtsam unsere Wahrnehmungen und Körperteile bemerken und wie wir in diesem Körper leben, wie alles miteinander verbunden ist und dass es ‘meins’ ist.
Eine beliebte Übung lädt uns dazu ein, jeden Morgen unsere Körperteile zu begrüßen, indem wir sowas sagen wir ‘Guten Morgen meine Finger, guten Morgen meine Handgelenke, guten Morgen meine Arme’ usw. Das kann dadurch unterstützt werden, dass wir die Körperteile leicht berühren für eine sensorische Stimulation. Laut dabei zu sprechen fühlt sich vielleicht blöd an, aber das zu hören hilft tatsächlich bei der Realisation. Wann immer möglich können wir ein ‘ich’, ‘mein’, ‘mir’ oder ‘mich’ zu den Dingen hinzufügen, die wir bemerken und verknüpfen.
Danach können wir üben, auf unsere Realisation hin zu handeln. Wenn ‘mein’ Magen leer ist, spüre ‘ich’ die Motivation ‘mir’ Essen zu machen. Unsere Handlungen verändern sich, werden verantwortungsvoller und besser ausgerichtet auf hilfreiche Ziele. Uns mit unserem Körper neu anzufreunden spielt eine große Rolle darin chronische Depersonalisierung zu überwinden. Mehr.
Dieses Gefühl von ‘meins’ wirkt Wunder für unseren Selbstwert, soziale Interaktionen und die Art, wie wir Grenzen setzen. Das Leben wird freudiger und Grundannahmen über uns und die Welt können sich ändern.
Unsere Ts können uns unterstützen, wenn wir da hin kommen, unser ‘Ich’ und unsere Trauma Geschichte zu verbinden. Oft fängt das damit an, Worte für die erste Person zu verwenden, wenn wir etwas zum Trauma teilen. ‘Der’ Verwandte oder Bekannte wird zu ‘meinem’ Verwandten oder Bekannten. ‘Der’ Körper zu ‘meinem’ Körper. Dann kann Heilung auch zu ‘meiner’ Heilung werden. Mit der Realisation, dass das wirklich wir waren in der Situation, dass das unsere Erfahrungen sind, die wir gemacht haben, kann viel Schmerz hoch kommen. Das ist ein Kernstück der Traumabearbeitung und sollte nicht unterschätzt werden. Wenn wir die Elemente aus der Synthese mit unserem ‘Ich’ verbinden, können sie in unsere Lebensgeschichte integriert werden. Wir können sie einbinden in das, was wir sind und sie in eine sinnvolle Relation zum Rest unserer Lebenserfahrungen stellen.
Ts können dazu ermutigen in der ersten Person zu sprechen, sollten das aber nicht zu sehr pushen. Das braucht ein erhebliches Maß an integrativer Kapazität und wenn das erzwungen wird, kann das schnell überfordern oder sogar retraumatisieren. Das ist eine wirklich große Realisation, die da zu bewältigen ist.
Versucht das nicht ohne therapeutische Hilfe. Vielleicht habt ihr schon beim Lesen gemerkt, dass das triggert. Das kann man nicht ohne Unterstützung angehen.
Das Problem mit fehlender Personifikation bei DIS
Bei einer DIS haben wir uns erfolgreich von unserem ‘Ich’ distanziert, indem wir mehrere ich-Perspektiven mit Synthese von verschiedenen Erfahrungen geschaffen haben und diese dann voneinander getrennt wurden. Anteile der Persönlichkeit bestehen nachdrücklich darauf, dass sie jemand ganz anderes sind als die anderen Anteile. Trauma ist den anderen passiert. Wir realisieren nicht, dass was einem Anteil passiert ist, uns allen widerfahren ist. Angst, Scham, Hass, Ekel oder Misstrauen halten uns davon ab zu akzeptieren, dass wir irgendwas mit den Erfahrungen anderer Anteile zu tun haben könnten. Besonders kontrollierende EPs und ANPs, die viel rein investieren nicht zu wissen, dass sie verletzlich oder traumatisiert sind, tun sich hier schwer. Wir alle verpassen große Bruchstücke unseres Erlebens, die uns helfen würden, das Gesamtbild zusammen zu setzen und Trauma zu integrieren. So kann es passieren, dass wir jeweils unterschiedliche Sets von Realitäten erleben, woraus kleine Katastrophen entstehen können.
Anteile handeln auf Grund ihrer begrenzten Realität und ihres Verständnisses der Welt ohne dabei das ganze System oder das gesamte Leben im Hinterkopf zu behalten. Ziele und Handlungen, die im Konflikt miteinander stehen, können zu großem Chaos und niedriger Funktionalität führen. Solange wir uns verhalten, als würde das System aus völlig unterschiedlichen Personen bestehen, bleiben wir stecken. Ohne die anderen hat kein Anteil Zugang zu allem, was es braucht, um ein integriertes Leben zu führen. Um uns um alle unsere Bedürfnisse kümmern zu können, müssen wir akzeptieren, dass manche von ihnen bei anderen Anteilen des Systems liegen und das, was sie in sich tragen, zum ganzen System gehört und nicht nur zu ihnen.
Personifikation bei DIS
Die Herausforderung ist groß, deswegen müssen wir klein anfangen.
Die meisten Anteile beginnen mit einem starken ‘ich’, das nur ihre Fragmente von Realität beinhaltet. Das erste Ziel ist es ein ‘wir’ zu erreichen, indem wir die anderen Anteile und was die so wissen mit einschließen. Das beginnt damit zu realisieren, dass die inneren Stimmen und anderen Intrusionen zu uns gehören. Die kommen nicht von außen, sie sind Teil von uns selbst. Wenn wir uns anderen Anteilen mit Mitgefühl und Neugier nähern, können wir mehr über deren ich-Perspektive lernen und unsere eigene teilen. Kommunikation hilft uns, mehr darüber zu erfahren, was ‘uns’ ausmacht. Dann können wir beginnen mit unserer ich-Perspektive und der der anderen im Hinterkopf zu handeln. Mit der Zeit stärken wir so ein ‘wir’, das sich verbundener, weniger fremd und mehr so anfühlt, dass wir wissen, wer ‘wir’ sind. Am besten fangen wir damit im Alltag an und arbeiten an unseren Bedürfnissen und unseren Zielen.
Wenn wir zur Trauma Bearbeitung übergehen, wird die große Herausforderung sein, traumatisierten Anteilen zuzuhören und zu realisieren, dass was sie teilen dem System als Ganzem passiert ist. Niemand muss sich mit der Erfahrung mehr alleine fühlen, sie wird geteilt. Gleichzeitig ist es vorbei und das dürfen traumatisierte Anteile auch lernen (mehr zu Präsentifikation)
Ein Anzeichen von Personifikation ist, wenn wir anerkennen können, dass es ‘mir’ passiert ist, statt zu sagen, es ist einem Teil von mir passiert. Was einem Anteil widerfahren ist, ist ‘mir’ widerfahren.
Wenn wir unsere Erfahrungen über Anteile, Zeit und Situationen hinweg verknüpfen und differenzieren, erschaffen wir ein neues Verständnis unserer Persönlichkeit, die durch diese Erfahrungen geformt wurde. Mit Zugang zu wichtigen Lebensereignissen können wir die Dinge verstehen, die uns als Person ausmachen. Wir werden vollständiger, wenn wir alle von uns gleichzeitig sein können und dabei in der Gegenwart leben und handeln.
So bewegen wir uns langsam weg von einem ‘wir’ und zurück zu einem Ich-Gefühl, nur bedeutet es jetzt nicht mehr nur ein dissoziiertes Fragment einer ich-Perspektive, es meint eine integrierte Perspektive, die die Erfahrungen aller Anteile beinhaltet. Dinge sind nicht Anteilen passiert, sie wurden von ‘uns’ erlebt, einem System, das ein ‘Ich’ ist. Wir sind nicht nur in Raum und Zeit sondern auch in unserer Identität orientiert.
Manche Leute erleben an diesem Punkt spontane Fusion, aber das ist nicht das gleiche wie Integration. Andere leben mit einem guten Gespür sich sich selbst in verschiedenen Altersstufen und Zuständen und nutzen davon immer, was in der gegebenen Situation am besten passt. Wenn gute DIS Ts davon sprechen, Integration zum Ziel zu machen, dann meinen sie diese gemeinsame Ich-Perspektive, wo alle Anteile verknüpft sind und in gesunder Relation zu einander stehen. Ich hoffe, es wir noch mal sehr klar, dass es bei Integration nicht darum geht irgendwas ‘weg’ zu machen. Nichts geht verloren, nur das Gefühl von Selbst verändert sich, wird größer, komplexer und vollständiger.
All das ist der Grund, warum es wichtig ist, dass Ts nicht darauf pochen, dass dissoziative Menschen von sich selbst in der ersten Person Singular sprechen. Wir kommen da schon noch hin. Aber wenn wir keine Unterstützung darin bekommen erst mal ein Gefühl von ‘wir’ zu entwickeln, bleiben wir in der dissoziierten ich-Perspektive stecken und das führt zu gar nichts. Der Weg zu einem integrierten ‘Ich’ führt über das ‘wir’. Das kann man nicht überspringen; die Realisation, die es bräuchte, um von einem dissoziierten ‘ich’ zu einem integrierten ‘Ich’ zu springen wäre viel zu groß, um das zu schaffen und das kann nicht geschehen, ohne vorher innere Verbindungen zu bauen.
Wer sich jetzt getriggert fühlt:
Ein bisschen ist das normal, das ist ein extrem schweres Thema. Es kann gut sein, dass ihr einfach noch nicht so weit seid, euch damit auseinander zu setzen und das ist völlig ok. Das ist sowieso für später in der Therapie.
Ich weiß, dass manche Leute mit DIS sehr investiert sind, ihre dissoziierten ich-Perspektiven zu erhalten und wenn das euer Plan für euer Leben ist, dann ist das eure Entscheidung und die kann euch niemand wegnehmen. Ich teile hier nur, wie Integration aussieht. Niemand zwingt euch, euch damit auseinander zu setzen oder das für euch anzunehmen.
Allen, die ehrlich interessiert sind, möchte ich Mut machen, so viel Integration anzustreben, wie ihr könnt. Das reduziert Konflikte, Dissoziation und das Gefühl innerlich zerrissen zu sein und fördert Funktionalität, Selbstwert und flexible Reaktionen auf das Leben und Stress. Die Antwort zu der Frage ‘Wer bin ich?’ kann nur durch Personifikation beantwortet werden und da eine Antwort zu haben, macht einiges einfacher.
[In ‘Das verfolgte Selbst‘ (Nijenhuis, van der Hart, Steele), gibt es ein ganzes Kapitel zu dem Thema, falls ihr das nachlesen wollt. Ich denk mir das alles nicht aus.]
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