Organized sexual abuse – by Michael Salter (2014)
[Achtung! Der Inhalt dieses Buches ist stark triggernd. Selbst dieser Überblick darüber kann stark triggernd wirken. Es erwähnt Details von organisierter und ritueller Gewalt, die hoch emotional und triggernd sein können. Übernehmt Verantwortung für euer eigenes Wohlergehen. Das ist verstörend und ihr seid explizit gewarnt]
Geschrieben für:
- Menschen, die mehr über organisierte und rituelle Gewalt verstehen wollen
- Menschen, die sich lieber Daten anschauen als verwirrende Geschichten auf Youtube
- Menschen, die genug haben von der Mystifizierung von organisierter und ritueller Gewalt und gerne die Psychologie dahinter verstehen wollen
- Menschen mit starken Nerven und der Fähigkeit, sich zu regulieren
Spezieller Fokus:
- Qualitative Studie mit Betroffenen von organisierter und ritueller Gewalt
- Geschichte und Psychologie von organisierter und ritueller Gewalt
- Entmystifizierung von organisierter und ritueller Gewalt
Was es nicht ist:
- für Betroffene geschrieben. Salter hält mit gängigen Details nicht zurück.
- Überzeugt von übernatürlichen Fähigkeiten von Täternetzwerken
- von jemandem geschrieben, der keine praktische Erfahrung darin hat, sich Tätergruppen entgegenzustellen
- ein Leitfaden für den Ausstieg (hier wäre einer verfügbar)
- von Verschwörungstheorien verwirrt
Sprache: Das Buch ist bisher nur auf Englisch erhältlich. Was es schwer zu lesen macht, ist nicht die Sprache sondern der Inhalt. Wir hören einiges über Studien und Daten und diese Ergebnisse werden verständlich erklärt und in Zusammenhang gesetzt. Weil Details von Gewalt explizit benannt und in ihrem Kontext erklärt werden, ist das sehr triggernd und auch ein sanfter und professioneller Ton wird das nicht verhindern.
Zum Buch: Ich glaube, es ist eins der besten Wissenschafts-basierten Bücher zu ritueller Gewalt, die wir zur Zeit haben. Es ist nicht billig und nicht extrem teuer, und jedes einzelne Kapitel bringt eine ungewöhnliche Klarheit. Die qualitative Studie analysiert die Berichte von echten Betroffenen. Es ist nicht wieder nur jemand, der über uns schreibt. Das Buch basiert darauf, dass in einer wissenschaftlich organisierten Art mit Betroffenen gesprochen wurde.
Überblick
Kapitel 1: Definiert organisierte sexuelle Gewalt als ein Setting mit mehr als einem Täter und mehr als einem Opfer (weicht von der gängigen Definition in D ab). Erklärt den Diskurs der letzten 40 Jahre und warum Betroffene oft nicht ernst genommen werden. Trennt organisierte sexuelle Gewalt ab von Pädophilie/psychischen Problemen. Beleuchtet toxische Maskulinität, Dominanz, Entmenschlichung von anderen und Gruppen Erfahrungen als psychologische Faktoren.
Kapitel 2: Führt 4 Bereiche ein, in denen organisierte sexuelle Gewalt stattfinden kann (Netzwerke, Institutionen, Familie, ritueller Rahmen). Erklärt, warum es so wenig Daten/Studien gibt und welche genau existieren. Gibt einen Überblick über die Daten aus diesen Studien. Erklärt die Unterschiede zwischen diesen 4 Kontexten basierend auf den Daten. Schließt die Rolle von Frauen in organisierter Gewalt ein.
Kapitel 3: Erklärt die Wurzeln von organisierter und ritueller Gewalt im klassischen Sadismus, Liberalismus und Libertinismus des 18. Jahrhunderts. Soziale Ideologien dieser Zeit bilden das Fundament für organisierte Herren-Clubs, die die Werte der Welt um sie herum überwinden wollen, um Macht zu erlangen und ohne dafür bestraft zu werden.
Kapitel 4: Beleuchtet die 80er und 90er Jahre und organisierte Verleugnung, insbesondere die ‘Satanic Panic’ Bewegung und die Arbeit der False Memory Foundation, ihre Argumente, wie Betroffene dort gezielt abgewertet werden, welche Nachweise auch damals gezielt ignoriert wurden und wie Falschinformation verbreitet wurde. Erklärt, wie Menschen einen psychologischen Lustgewinn darin haben, Betroffenen nicht zu glauben und sie abzuwerten und die Konsequenzen, die das für Betroffene und das Hilfesystem hatte.
Kapitel 5: Mike Salter teilt seine eigene Geschichte, wie er als junger Mann versucht hat, einer Freundin beizustehen, die einen Hintergrund von organisierter Gewalt hat, um sie in Sicherheit zu bringen. Das umfasst auch zu erleben, wie seine Bekannte immer wieder Übergriffen ausgesetzt war, er auch bedroht und verfolgt wurde, Einbrüche und Vandalismus. Beschreibt Einschüchterungs-Taktiken im Ausstiegs-Prozess. Seine Bekannte schafft den Ausstieg irgendwann. Salter teilt, wie wenig Sinn skeptische Literatur für ihn gemacht hat, nachdem er das so real erlebt hat.
Kapitel 6: Gibt Einblicke in Betroffenen-Berichte, allgemeine Täterstrategien innerhalb organisierter Gewalt und warum sie funktionieren, Details von Folter und Gewalt, Familien Dynamiken, die zu organisierter Gewalt beitragen und Macht Dynamiken in Institutionen.
Kapitel 7: beleuchtet organisierte Gewalt in Familien, das häuftigste Setting dafür. Erklärt, warum Familien in organisierten Kontexten aktiv sind, was sie davon haben, wie sie das Leben für die Kinder in parallele Welten einteilen, weitere Täterstrategien dafür, wie Kinder aufgezogen und trainiert werden und wie dabei Dissoziation erreicht wird. Stellt DIS als Folge davon vor. Es gibt mehr Informationen zu männlichen und weiblichen Rollen in organisierter Gewalt und viele Details zu Gewalt Situationen, Abläufen und Ereignissen, von denen Betroffene selbst berichten.
Kapitel 8: Erklärt die Psychologie von sadistischer Gewalt, wie Kontrolle, Fantasien von Allmacht, extreme Gewalt und sich der Strafe zu entziehen ein Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Gruppe herstellt. Die kollektive Entmenschlichung von Opfern wird als Gruppen Erfahrung verstanden statt als Form persönlicher sexueller Lust, die Handlungen antreibt. Beschreibt die Auswahl, das Grooming und die Manipulation von vulnerablen Kindern anhand von Betroffenen-Berichten. Beinhaltet Täuschungs-Strategien, die Kindern glaubend machen, die Täter hätten übersinnliche Kräfte und Berichte von Folter und Konditionierung, um Kontrolle über die innere Welt von Kindern zu erlangen.
Kapitel 9: Erklärt rituelle Gewalt als eine logische Fortführung der Ideologie von organisierter Gewalt. Beschreibt verschiedene mögliche Ideologien, die bei organisierter Gewalt verwendet werden und wie die meisten Täter da wohl eher nicht selbst dran glauben. Es sind Strategien zur Kontrolle. Es wir angenommen, dass Masken und Rituale Tätern dabei helfen, ihr letztes bisschen Menschlichkeit zu überwinden, sodass sie foltern und morden können ohne Gewissen. Sie unterstützen zusätzlich die Hierarchie und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe. Hier finden sich weitere Betroffenen-Berichte von extremer Gewalt, Täterstrategien und Programmierung.
Kapitel 10: In diesem Kapitel geht es zentral um die Macht, Leben zu erschaffen (erzwungene Schwangerschaften) und Leben zu nehmen (erzwungene Abtreibungen, das Töten frühgeborener Babies) als einen psychologischen Faktor, der zu einer Ekstase von Macht über Leben und Tod und gott-gleicher Macht beiträgt. Das beinhaltet Betroffenen-Berichte und Details von Erfahrungen.
Nach dem Lesen
Das ist das beste Buch mit Informationen zu organisierter und ritueller Gewalt, das ich bisher gelesen habe. Es beinhaltet sehr viele Daten und Hinweise auf Studien und die Ergebnisse einer qualitativen Studie mit Betroffenen von organisierter Gewalt. Es ist damit besser darin, organisierte und rituelle Gewalt zu entmystifizieren als die anderen Bücher, die ich kenne. Die nüchterne, klare und logische Art, wie Salter Täterstrategien und Täter-Psychologie erklärt, ist eindrücklich. Insbesondere wie organisierte Gewalt als eine Fortführung von Sadismus und Ideologien des 18. Jahrhunderts hergeleitet wird, verändert den Blick darauf. Die persönlichen Interviews beinhalten nützliche Details zu Täterstrategien und häufigen Erfahrungen. Es ist eine wichtige Sammlung von Informationen für Hilfenetzwerke und Interessenvertretung.
Es bricht einem auch das Herz. Ich bin froh, dass ich es gelesen habe, weil die Daten unschätzbar wertvoll sind für Unterstützer*innen, die für das Wohl von Betroffenen in öffentlichen oder politischen Settings argumentieren müssen. Aber es gibt auch ein bisschen den Wunsch, ignorant und unbelastet davon durchs Leben zu gehen. Einige Berichte ähneln meinen eigenen Erfahrungen. Salter beschreibt allerdings das volle Spektrum von dem, wozu Menschen in der Lage sind und das geht weit über meine Erfahrungen hinaus. Und führt zu einer Neigung, ‘Mensch’ als eines der schlimmsten Schimpfworte überhaupt zu verstehen.
Ich glaube, dass sich Menschen, die organisierte Gewalt erlebt haben und die nicht stabil sind, beim Lesen dieses Buches verletzen können. Ich glaube auch, dass die, die stabil sind, schrecklich getriggert sein werden und viel dissoziieren werden. Und dass es vielleicht auch ein Trost sein kann, zu bemerken, dass sie nicht alleine sind und wie ähnlich Täterstrategien über Tätergruppen hinweg sind. Der Wahnsinn hat Methode. Sie benutzen alle die selben miesen Tricks. Es ist möglich, die Ideologie hinter sich zu lassen und eine Perspektive einzunehmen, die das Verhalten, die Erfahrungen und Beweggründe seziert. Das holt Täter runter von ihrer scheinbar so machtvollen Position. Das sind einfach nur schlechte Menschen, die sich mit Macht berauschen wollen und da kommen sie nur hin, indem sie vulnerable Menschen misshandeln.
Menschen, die im Hilfesystem oder der Interessenvertretung aktiv sind, sollten dieses Buch kennen, weil es tiefe Einblicke gibt in die kulturellen, wissenschaftlichen und historischen Probleme darum herum und wegen der Menge an Täterstrategien und häufigen Erfahrungen, die beschrieben werden. Die Daten sind für einen professionellen Diskurs sehr wertvoll. Hier finden sich allerdings keine Strategien, wie man helfen kann. Es soll vor allem dazu beitragen, zu verstehen, um es was bei organisierter und ritueller Gewalt wirklich geht.
Die meisten Bücher zu diesem Thema beschreiben irgendwo Forschung zu ‘übersinnlichen’ Fähigkeiten wie Gedankenlesen oder Gedankenübertragung, zu denen angeblich heimlich geforscht wird und wofür es keine Belege gibt. Ich bin da immer nicht so glücklich drüber, weil das ein ganzes Buch wenig glaubhaft aussehen lassen kann. Salter schreibt nur über Dinge, zu denen er solide Informationen hat und über persönliche Berichte. Es ist nichts auch nur im Ansatz ‘schwurbeliges’ dran. Das macht es zu einem guten Buch, das man Leuten geben kann, die interessiert sind aber skeptisch, was die Verschwörungstheorien (zB QAnon) rund um das Thema angeht.
Organized sexual abuse ist ein Buch, das man kennen sollte. Ich empfehle das Betroffenen nicht direkt als Lektüre, weil es extrem belastend ist. Aber ihr solltet wissen, dass es existiert und dass ihr Leute drauf hinweisen könnt, die genau solche Informationen brauchen.