So lange ich denken kann, schlage ich mich mit chronischer Scham herum. Ihr findet psychologische Theorien, die vielleicht helfen, in Der Kompass der Scham und Chronische Scham verstehen.
Heute möchte ich meine persönlichen Erkenntnisse mit euch teilen. Das passt vielleicht nicht für jeden, aber es war eine Offenbarung für mich.
Emotion
Obwohl chronische Scham sich anfühlen kann, als würde es einen zerreißen, ist sie auch nur eine Emotion, so wie Wut oder Traurigkeit, keine Identität. Das bedeutet, dass sie reguliert werden kann.
Als ich mit meinem Heilungsprozess begonnen habe, war ich auch nicht gut darin Wut zu regulieren, aber ich habe es gelernt. Es ist möglich zu lernen Scham zu regulieren. Sie ist kein Monster, was mich auffrisst. Die Emotionsregulation funktioniert sogar mit genau den selben Schritten, wie bei anderen Gefühlen.
Desidentifikation
Das kann man erreichen, indem man die Perspektive des Distanzierten Beobachters in der Achtsamkeit einnimmt. Es hat deutlich mehr Übung gebraucht, das mit Scham zu tun, als mit anderen Emotionen, aber es ist möglich einen Schritt zurück zu treten und nicht die Scham zu sein, sondern sie bei ihrem Wirken zu beobachten. Solange ich Scham für eine überwältigende Macht gehalten habe, war es unmöglich damit gut umzugehen. Als ein Beobachter bin ich mehr als das Gefühl, ich kann mich darüber erheben und es regulieren. Das ist nur ein Beispiel, warum es so wichtig ist, Achtsamkeit zu üben, ganz besonders den distanzierten Beobachter.
Beschützer
Beim Umgang mit Scham ist es wichtig zu verstehen, dass sie nicht mein Feind ist, eigentlich versucht sie mich zu beschützen. Als Trauma-Scham steckt sie nur in Trauma-Zeit fest und Versuche zu beschützen sind oft fehlgeleitet, ähnlich wie das bei dissoziierten Anteilen der Fall sein kann. Aber wie auch strukturelle Dissoziation hat mir Scham früher das Leben gerettet. Lasst mich das erklären:
Zu Trauma-Zeit war ich wehrlos, abhängig von missbräuchlichen Menschen und ich wurde immer wieder in extreme Situationen gebracht. Mehr als alles andere war ich unschuldig und hilflos. Aber das musste ich vor mir selbst verbergen. Forschung zu Erlernter Hilflosigkeit, einem Zustand in den unsere Psyche sich in solchen Situationen begibt, zeigt, dass sowas zu Apathie und Tod durch innerlich-Aufgeben führen kann. Wenn ich mich aber selber überzeugen kann, dass ich nicht unschuldig bin und das alles irgendwie verdiene, ist das ein Ausweg aus der Hilflosigkeit, die mich sonst gebrochen und umgebracht hätte. Also kam Scham als ein Beschützer dazu und hat mir gesagt, dass ich schlecht bin. Das mag nach verdrehter Logik klingen, aber wenn ich schlecht bin, dann habe ich das alles verursacht und das bedeutet, dass ich irgendwie Kontrolle darüber hatte und eben nicht hilflos war. Wahrscheinlich hätte ich nicht überlebt, wenn ich gewusst hätte, dass ich unschuldig bin.
Der Handlungsimpuls, der zu Scham gehört, ist zu verstecken. Auch das kann ein wertvoller Schutz sein. Zu Trauma-Zeit war es für mich nicht sicher etwas persönliches zu zeigen, nichts was mir wichtig war oder worin ich gut war. Scham hat mir gesagt, dass all das schlecht und beschämend ist und damit dafür gesorgt, dass ich es sorgfältig verstecke und das Gute in mir beschütze vor dem Missbrauch von Anderen.
Chronische Scham ist ein so wichtiger Beschützer, dass sie in Allen mit komplexer PTBS, die ich kenne, zu finden ist.
Verwirrte Omi
Ich habe früher im Altenheim gearbeitet und an wahllosen Tagen in der Woche verkündete eine meiner dementen Bewohnerinnen gerne, es sei Waschtag, was dazu führte, dass alle älteren Damen um sie herum in heilloses Durcheinander ausbrachen, weil sie alle ihre Wäsche noch nicht gewaschen hatten. Ich schätze es ist das beste meine Trauma-Scham wie eine verwirrte Omi zu behandeln, die noch ein Pflichtgefühl gegenüber früherer Aufgaben empfindet und nicht bemerkt, dass die Zeiten sich geändert haben und dieser Schutz nicht mehr benötigt wird. Ich kann den Alarm bemerken, einen Realitäts-Check machen (damit ich wie eine Pflegerin reagiere und nicht wie eine alte Dame) und dann so gut es geht regulieren.
Es hilft, wenn ich erkenne, was diesen Schutz getriggert hat. Meistens ist das eine Verletzlichkeit, die ich mir heute leisten kann, wo mein Leben sicher ist, und die früher wirkliches Leid nach sich gezogen hätte.
Damals im Altenheim habe ich der Dame immer erklärt, dass ich mich schon um die Wäsche gekümmert habe und sie schon im Schrank liegt. Heute erkläre ich meiner Scham, dass ich meine eigenen, erwachsenen Wege habe mich vor Verletzungen zu schützen und dass sie ihren Kuchen essen darf und den Ruhestand genießen.
In Therapie bedeutet etwas zu überwinden oft, sich damit anzufreunden. Indem ich meine verwirrte Omi besser kennen lerne, kann ich lernen mit ihr zu leben.
Preis
Chronische Scham loszulassen geht Hand in Hand mit radikaler Akzeptanz. Die Erkenntnis vergangener Hilflosigkeit kann nur aus der heutigen Perspektive ertragen werden, nicht wenn man noch in Trauma-Zeit fest steckt. Sie kann nicht mehr vermieden oder verändert werden, man kann sie nur betrauern. Die Wahrheit über die Vergangenheit zu akzeptieren, heißt, dass ich mich der Tatsache stellen muss, dass ich fast gestorben wäre, viele Male, durch die Hand von Anderen. Dass Menschen, die mich hätten beschützen sollen, das nicht getan haben. Dass ich Ungerechtigkeit erfahren habe, für die es keine Sühne gibt. Um das zu können, muss ich mit meinem ganzen Wesen wissen, dass es vorbei ist. Lange Zeit war ich nicht geerdet genug, um das alles zu wissen, hatte sogar noch Täterkontakt, und so schützte mich meine Scham auch weiterhin davor, von solchen Erkenntnissen überfordert zu werden.
Ausblick
Durch das Betrauern vergangener Hilflosigkeit und dem Geerdet sein in der Gegenwart beginne ich zu sehen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Trauma-Hilflosigkeit und Verletzlichkeit. Jede verletzliche Situation hat mich bisher in fruchtlose Versuche gestürzt, mich nicht Trauma-hilflos zu fühlen, meistens indem ich Kontrolle, Perfektionismus und Arbeit benutzt habe, um das zu verdecken. Ich fange an zu verstehen, dass ich heute lernen kann mit Verletzlichkeit, dem Schlüssel für ein Gefühl von zwischenmenschlicher Verbundenheit, umzugehen und ich beginne das damit, T.A.R.A. (Toleranz, Akzeptanz, Respekt, Annahme) auf mich selbst anzuwenden. Das ist ein neuer Kampf. Einer, der nicht in Trauma-Zeit fest steckt. Einer, den jeder Mensch für sich ausfechten muss.
Das ist wahrscheinlich nicht mein letztes Wort zu Scham, da ich selbst noch lerne, besser damit umzugehen. Aber das sind die Konzepte, die für mich einen Durchbruch bedeutet haben. Ich hoffe sie helfen euch auch.
Rosa says
Ich danke Euch sehr; sehr für diesen Beitrag.
Ich habe schon viel über Trauma gelernt und schon einen schoenen weiten Heilungsweg zurückgelegt, aber endlich verstehe ich diesen Teil in mir, der sich tatsächlich immer verstecken wollte,und manchmal noch will, der dazu geführt hat, dass ich mich so oft vor anderen und vor mir selber versteckt hab. Beim lesen sind mir echt die Tränen gekommen. Das hat mir noch niemand je erklärt und schon gar nicht so präzise und liebevoll. Ich hatte das mit der Schuld verstanden, und gespürt, dass wenn ich mich schuldig fühle, ich mich stärker und weniger hilflos fühle und dass mir das gut tut. Aber die Scham… das ist nochmals was anderes . Das fühlt sich so absolut auswegslos an.
Vielen vielen Dank für diese Entdeckung…
Ich mag das Bild der Granny Sh.Amy…
All the best for your precious work!
Katrin says
Danke! 🙂
Anna says
Hi Theresa, erstmal danke für deinen tollen Blog! Ich habe eine Frage zum ersten Absatz. Du schreibst, Scham sei „nur“ eine Emotion wie Wut und Traurigkeit und keine Identität. Was ist aber wenn sie von einer Identität kommt und sich einfach nur anfühlt wie die eigene? Mit pDIS ist das vermutlich etwas schwieriger herauszufinden, oder?
Theresa says
Über die Jahre habe ich einige Artikel zu chronischer Scham geschrieben. Vielleicht findest du Ideen, wenn du dir die neueren anschaust. Ich überprüfe immer, ob sich die Scham mehr wie ein emotionaler Flashback anfühlt. Und ob man mit ihr reden kann und die sich dabei ‘bewegt’ im Sinne einer leichten spürbaren Reaktion auf Ansprache. Im Artikel zu Gründen für Scham kannst du einige Ansätze nachlesen, wie Anteile in Trauma-Scham verwickelt sein können, zusammen mit ersten Ideen, wie man da ran gehen kann. Der Artikel zum Auflösen von emotionalen Flashbacks arbeitet auch direkt mit Anteilen und wäre an der Stelle nicht verkehrt. Manchmal hilft auch, auseinander zu halten, wer beschämt und wer sich selbst schämt innerlich.