Es gibt in der Literatur und der therapeutischen Praxis ein bisschen ein Problem, wenn es um den Begriff ‘Dissoziation’ geht. Die Definition ist nicht so wirklich klar. Verschiedene Kategorien von Erleben werden alle als Dissoziation bezeichnet, ohne dabei anzugeben, um welche Sorte Dissoziation es sich denn handelt. Auch dieser Blog ist da schuldig. Eine Lösung ist nicht in Sicht, deswegen halte ich es für wichtig, zumindest darüber Bescheid zu wissen, dass es hier ein Problem gibt, das sich auch auf die Trauma Behandlung auswirkt.
Strukturelle Dissoziation
Als der Begriff Dissoziation ursprünglich in das Feld der Psychologie eingeführt wurde, meinte das immer die strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit. Das beschreibt eine Trennung zwischen ANP und einem oder mehreren EPs, ursprünglich inklusive somatoforme Dissoziation. Diese Art der Dissoziation ist spezifisch für Menschen, die traumatisiert wurden.
Mit Anteilen der Persönlichkeit zu arbeiten, um diese zu integrieren, ist für die Genesung notwendig. Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Anteile ignorieren und das anders behandeln das Problem löst.
Versuche zu dieser hochspezifischen Definition zurückzukehren (van der Hart, Nijenhuis), werden praktisch ignoriert, weil das schlicht zu kompliziert wäre. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass man da die Zeit zurück drehen kann, deswegen sprechen wir von ‘struktureller’ Dissoziation, wenn wir eine Spaltung von Anteilen der Persönlichkeit meinen. Diese Formulierung scheint sich allgemein durchzusetzen.
Veränderungen im Bewusstseinsfeld
Ich glaube ab den 80ern wurden auch Symptome von Depersonalisierung und Derealisation als Dissoziation bezeichnet. Die haben nicht zwingend was mit einer Spaltung der Persönlichkeit zu tun und sind auch nicht spezifisch für Traumatisierte. Menschen mit zB Essstörungen, Depression oder Schizophrenie erleben so was auch. In dieser Kategorie finden wir Veränderungen davon, wie weit oder wie tief unser Bewusstseinsfeld ist. Unsere Wahrnehmung von uns selbst kann eingeschränkt sein, wir können uns gefühllos oder taub fühlen, Körperteile nicht spüren, unsere Wahrnehmung verliert vielleicht an Tiefe oder wir verlieren das Gefühl, dass sie real ist oder gehen in einen Stupor. Unser Bewusstsein kann so runter gefahren sein, dass wir keine neuen Erfahrungen im Gedächtnis abspeichern können und deswegen Amnesien erleben.
Es kann schwierig sein, die Phänomene hier auseinander zu halten. Erleben wir Depersonalisierung und Amnesien weil unser Bewusstseinsfeld so eingeschränkt ist und es gibt einfach keine bewusste Wahrnehmung, die man abspeichern könnte? Oder sind da andere Anteile, die die Erfahrung sehr wohl wahrnehmen und sich erinnern, sie sind nur abgetrennt von unserem Bewusstseinszustand? Diese Frage bleibt ungelöst und es ist nicht mal wirklich klar, wie man das testen könnte. Im Moment werden DP/DR und ähnliche Probleme als dissoziativ aufgelistet, nicht als strukturelle Dissoziation. Sie werden als verwandte aber unterschiedliche Konzepte angesehen. (Diskurs)
Bisher hab ich das so erlebt, dass Veränderungen im Bewusstseinsfeld mit Hilfe von intensiver sensorischer Stimulation behandelt wurden, um Menschen zu helfen, wieder besser mit der Realität verbunden zu sein und zu vollem Bewusstsein zurück zu kehren. Es gibt da keine Versuche irgendwas zu integrieren. Diese Konzepte auseinander zu halten wäre für die Behandlung wichtig.
Somatoforme Dissoziation
Manchmal verschwindet unsere Wahrnehmung gar nicht, wir erleben mehr als wir sollten. Körperflashbacks sind da ein klassisches Beispiel. Die sind in dem, was aktuell Dissoziation genannt wird, gar nicht mit eingeschlossen, obwohl ihre Natur eine dissoziative ist. Manchmal wird versucht, das mit sensorischer Stimulation zu beheben, was eher nicht so klappt, weil das keine Veränderung im Bewusstseinsfeld ist, sondern Fragmente von Erfahrungen, die zu TraumaZeit nicht integriert wurden. Manchmal kann man diese körperlichen Symptome auch direkt einem Anteil der Persönlichkeit zuordnen, die noch in Trauma Erleben fest steckt. Wir sind also zurück bei der Teilearbeit. Im Moment gilt fehlende Wahrnehmung von Schmerzen also als dissoziativ, während die Wahrnehmung nicht-integrierter Schmerzen das nicht ist. Das wird dann Konversionsstörung genannt, ohne eine genaue Erklärung, wie so eine Umwandlung in Körpersymptome stattfinden soll als durch Dissoziation. ‘Somatoforme Dissoziation’ findet sich deutlich öfter im Zusammenhang mit struktureller Dissoziation (Studie) und war ursprünglich ein uns das selbe.
Tonic Immobility
Wenn Menschen in Ohnmacht fallen, kollabieren, ihre Muskelspannung plötzlich weg ist, sie kalt werden und kaum atmen, so wie wir das in der Abwehrreaktion von Tieren sehen, die als tonic immobility bezeichnet wird, dann wird das auch Dissoziation genannt. Das ist ein physiologisches Problem, bei dem unser Nervensystem eine Stressreaktion zeigt und Körperfunktionen runter fährt. Auf diesem Blog nennen wir das meist Shutdown oder Hypoarousal. Jeder kann das bei hohem Stress erleben, aber Traumatisierte erleben es öfter, weil sie ein kleineres Stresstoleranzfenster haben. Das kann, muss aber bei weitem nicht, mit struktureller Dissoziation zu tun haben. Wenn Anteile in tonic immobility feststecken und nach Vorne switchen, ist das das Ergebnis. Es kann aber auch überhaupt nichts mit struktureller Dissoziation zu tun haben und ist auch nicht beschränkt auf Veränderungen im Bewusstseinsfeld, obwohl Tunnelblick, Verlust von Schmerzwahrnehmung und Einschränkungen des bewussten Erlebens ein wichtiger Teil davon sind.
In der Regel handelt es sich einfach um eine unwillkürliche Stressreaktion. Manchen Menschen hilft intensive sensorische Stimulation, bei anderen macht es das schlimmer, weil es den Körper nur noch mehr stresst. Oft hilft leichte Bewegung, aufwärmen oder Achtsamkeit. Wir brauchen Sicherheit, Orientierung und Grounding (siehe Polyvagal Theorie). Außer eben es ist doch ein Anteil, dann brauchen wir Integration.
(Es wird immer gelehrt, dass Hyperarousal das Gegenteil von Hypoarsousal ist, was synonym mit dem Wort Dissoziation verwendet wird. Wenn es sich um einen Anteil handelt, der in ‘altem’ Hyperarousal feststeckt, wäre das technisch gesehen (strukturelle) Dissoziation. Das lässt sich so nicht testen, deswegen ist das mehr ein Gedankenspiel als ein wissenschaftlicher Fakt, aber das könnte erklären, warum Symptome manchmal behandlungsresistent scheinen)
Vermeidungs- und Escape Verhalten
Was genau gemeint ist, wenn Dissoziation als Vermeidungsmechanismus bezeichnet wird, ist etwas vage. Meint das tonic immobility? Dann ist es wirklich der Mechanismus des Körpers lebensbedrohlichem Stress zu entkommen. Der macht das automatisch und unwillkürlich, ohne einen bewussten mentalen Prozess von Vermeidung. Das lässt sich auch nicht willentlich steuern.
Meist ist das aber nicht gemeint. Viel mehr glaubt man, Menschen könnten ihr Bewusstseinsfeld bewusst verändern und so mutwillig schwierige Situationen vermeiden, quasi als ein psychologischer Schutz. Das stimmt irgendwie und dann stimmt es auch nicht. Menschen können keinen Schalter umlegen und mutwillig Derealisation erleben. Aber komplex Traumatisierte haben oft die Kunst der Selbsthypnose perfektioniert, um sich während traumatisierender Erlebnisse abzuschotten und zu betäuben. Sie können mutwillig kein Hypoarousal herbeiführen, aber sie können in eine tiefen Trancezustand gehen, der ihr Bewusstseinsfeld deutlich einschränkt und Symptome von Depersonalisierung verursacht.
Therapeutisch Tätige, die glauben Dissoziation ist vor allem das, eine bewusste Handlung zur Vermeidung schwieriger Themen, werden ihre Patient:innen früher oder später misshandeln. Ja, die ‘beamen’ sich manchmal weg. Aber was eben auch oft passiert, ist dass sie in großen Stress geraten, wenn es um Trauma Themen geht und in einen Shutdown gehen. Das ist keine bewusste Entscheidung und kann auch nicht kontrolliert werden. Mit dem Switchen ist es so ähnlich. Das wird oft von Stress und Trauma Themen ausgelöst und ist nicht so leicht zu kontrollieren. Natürlich switcht man, um extremen Stress zu vermeiden, so funktioniert strukturelle Dissoziation. Anschuldigungen von Vermeidung helfen da aber nicht. Und intensive sensorische Stimulation auch nicht. Einen ‘trance out’ als Escape Verhalten vermeidet man, indem man besseres Coping beibringt, eine vertrauensvolle Beziehung aufbaut und genau aufs Pacing achtet.
Also was ist jetzt Dissoziation? Eine Art wie man als Persönlichkeit organisiert ist? Psychologische Ausfallerscheinungen? Psychologische Abwehr? Stress Reaktion und physiologische Abwehr? Ein Symptom einer Traumafolgestörung? Oder ein Symptom, das auch in anderen Störungen auftaucht? Oder gar keine Störung sondern eine gesunde und natürliche Stressreaktion? Das wird selten klar gestellt. So bleibt es auch oft unklar, ob es jetzt Integration bräuchte oder sensorische Stimulation, Pacing oder Sicherheit und Grounding.
Es geht dieses Gespenst von einem Gedanken um, dass alle Dissoziation kontrolliert werden kann (Bohus). Ich widerspreche. Das meiste, was Dissoziation genannt wird oder Dissoziation genannt werden sollte, kann nicht kontrolliert werden. Das ist entweder strukturell abgespalten von Kontrolle, ein unwillkürlicher Mechanismus des Körpers oder ein Symptom, das sich nicht mutwillig herbeiführen lässt. Ein Teil von dem, was Dissoziation genannt wird, kann willentlich beeinflusst werden. Menschen können sich entscheiden, auf die gewohnte Selbsthypnose zu verzichten und sie können Veränderungen im Bewusstseinsfeld beeinflussen, nachdem diese unwillkürlich aufgetreten sind. Es ist falsch, alles, was Dissoziation genannt wird, gleich zu behandeln. Es ist nicht das selbe. Manches überschneidet sich, ist ähnlich, verwandt, aber nicht identisch und kann auch nicht gleich behandelt werden. EPs in einer Stressreaktion, die extremer sensorische Stimulation ausgesetzt werden, ist eine sehr häufige Form der Fehlbehandlung, die Menschen mit DIS erleben. Genau wie auch Anklagen und Schuldzuweisungen gegen Menschen, die in tonic immobility geraten und so aus der Situation gehen.
Deswegen müssen wir über die Definitionen reden, die wir verwenden, wenn wir von Dissoziation sprechen. Wir müssen sicher stellen, dass wir über das selbe Problem reden. Die Frucht davon, alles mögliche undifferenziert als Dissoziation zu bezeichnen, ist Miss-be-handlung.
Leave a Reply