Als wir zum ersten Mal etwas zur Polyvagal Theorie geschrieben haben, dachten wir nicht, dass euch das wirklich interessiert. Seitdem werden wir überhäuft mit der Bitte um mehr Informationen und hier sind sie. Wir lassen die ganze Neurowissenschaft hinter der Polyvagal Theorie der Verständlichkeit halber weiterhin weg.
Man geht davon aus, dass unser Autonomes NervenSystem aus 2 Sub-Systemen besteht, dem sympathischen NervenSystem (SNS) und dem parasympathischen NervenSystem (PSNS). Das PSNS entspricht dem Vagus Nerv. Porges revolutionäre Entdeckung war, dass der Vagus aus verschiedenen Teilen besteht, die mit verschiedenen Bereichen im Gehirn in Verbindung stehen. Der ventrale Teil übernimmt Funktionen im Gehirn, Gesicht und Herz, der dorsale Vagus reicht runter in unsere Eingeweide (ventral und dorsal sind nur hochtrabende Worte für ‘weiter vorne’ und ‘weiter hinten’).
Wir werden uns diese 3 Systeme, ventraler Vagus, SNS und dorsaler Vagus im Zusammenhang mit Stressreaktionen anschauen.
Die polyvagale Leiter
Es gibt eine festgelegte Reihenfolge, in der unser Körper auf Stress reagiert.
Wir bewegen uns von ruhig & sozial (ventraler Vagus)
zu Flucht/Kampf (SNS)
zu Shutdown& Dissoziation (dorsaler Vagus)
Der ventrale Vagus – unser soziales Beziehungs-System
Weil wir wissen, dass das schwierig sein kann, das alles Innenkindern zu erklären, nennen wir den ventralen Vagus Bob. Er ist ein sehr sozialer Typ, der gerne unter Leuten ist, gut kommuniziert und uns hilft, uns verbunden und zugehörig zu fühlen.
Bob ist aktiv, wenn wir uns sicher fühlen. Dabei ist die gefühlte Sicherheit wichtiger als tatsächlich sicher zu sein. Wenn wir also in einer kniffligen Situation sind aber in Gesellschaft von Menschen, denen wir vertrauen, können wir dabei ruhig bleiben.
Wenn Bob aktiv ist
- sind wir entspannt
- unser Puls wird langsamer
- wir atmen tief und in den Bauch
- unser Blutdruck geh runter und Hormone sind ausgeglichen
- wir haben Mimik und Prosodie (Sprachmelodie),
- halten Blickkontakt (und interpretieren Blicke von anderen richtig)
- stellen sicheren Körperkontakt her
- fühlen uns zu Interaktion mit Menschen hingezogen
- blenden Geräusche aus, um uns auf Stimmen zu konzentrieren
- und erkennen Anzeichen für Probleme richtig ohne beunruhigt zu sein
- ….
- ….
Bob ist ziemlich schlau. Mit ihm können wir
- aufmerksam sein
- reden und zuhören
- lernen und
- Probleme lösen
- in Zusammenarbeit mit anderen und
- während wir still sitzen
Gerade was Schule oder Beruf angeht ist das wichtig.
Andere Menschen haben auch einen Bob und wenn alle Bobs aktiv sind, fühlen wir uns sicher und vielleicht sogar glücklich oder zugehörig. Wir können in Beziehung zu regulierten Menschen geben und nehmen.
In diesem Zustand neigen wir dazu Störungen als neutral oder unwichtig einzustufen. Der Grund dafür ist, dass die Gedanken dem Zustand folgen („the story follows the state“). Wenn wir eine Situation interpretieren, dann bleibt die Geschichte, die wir uns dazu erzählen, innerhalb des sicheren Systems.
Wenn wir in diesem sicheren und sozialen Zustandes sind, verwendet unser Körper seine Energie für Gesundheit, Wachstum und Wiederherstellung.
Das ist das obere Ende der polyvagalen Leiter, der Ort, den wir anstreben. Ein aktiver Bob fühlt sich gut an und ist gesund für den Körper, weil Energie für Selbstheilung frei wird.
Das sympathische NervenSystem – Flucht/Kampf
Wenn wir Hinweise darauf wahrnehmen, dass wir nicht sicher sind, steigt unser Stresslevel und wir klettern auf der polyvagalen Leiter nach unten. Das Fokus bewegt sich von unserem Gesicht und Herzen weg und hin zu unseren Extremitäten. Wir nennen dieses Mobilisations-System Izzy. Sie ist voller Energie, die dafür gedacht ist, in kurzen, intensiven Ausbrüchen eine knifflige Situation schnell zu lösen. Von Natur aus wendet sich Izzy zuerst zur Flucht und versucht Distanz zwischen uns und die Quelle von Gefahr zu bringen. Wenn das nicht möglich ist oder aufgrund von früheren Erfahrungen, wendet sich Izzy zum Kampf.
Wenn Izzy aktiv ist haben wir
- einen höheren Puls/Blutdruck
- atmen schneller
- schwitzen
- werden von Stresshormonen geflutet
- unsere Augen werden weit
- wir werden unempfindlich für Schmerzen
- Muskeln spannen sich an
- wir sprechen lauter und schneller
- fühlen keine komplexen Emotionen
- und wenn wir Mimik haben, dann zeigt sie Angst oder Aggression
- ….
- ….
Izzy ist stark, aber ihre Interessen sind begrenzt. Im Gegensatz zu Bob ist sie nicht gut mit Kommunikation und sie hört vielleicht menschliche Stimmen ohne sie zu verstehen oder überhört sie ganz. Dafür ist sie sehr gut darin mögliche Gefahren und Notfälle zu erkennen. Weil die Gedanken dem Zustand folgen, führen ihre Interpretationen von Situationen oft ins Verurteilen, Angreifen oder Beschuldigen von anderen, auch wenn die gar keine Bedrohung darstellen und sie regt sich über einen sozialen Austausch auf, den Bob als Sarkasmus oder unwichtig erkannt hätte (Ts sollten nicht versuchen Izzy mit Humor zu begegnen, sie versteht das nicht).
Izzy soll eigentlich immer nur für kurze Zeit aktiv sein, aber mit einem Hintergrund von PTBS sind wir oft bei ihr stecken geblieben und sehen von Bob nicht viel.
Das verursacht chronische Angstzustände und Hypervigilanz und ist wohl auch Grund für chronische Schmerzsymptomatik wie Fibromyalgie.
Izzy kostet unseren Körper nicht nur viel Energie, sie ist auch nicht gut für unsere Beziehungen. Wenn andere Izzy sehen, angespannt und gestresst und ohne freundliche Mimik, wird ihre Izzy etwas aktiviert und sie nehmen Abstand, um lieber Zeit mit ihrem Bob zu haben. Wir sehen für sie wie eine Bedrohung aus. Wir selbst gehen vielleicht instinktiv auf Abstand und so geht sozialer Austausch verloren.
Der dorsale Vagus – Shutdown & Dissoziation
Wenn unsere Anspannung weiter steigt gehen wir einen weiteren Schritt runter auf der Leiter. Vielleicht fühlt es sich wirklich so an als würde uns ‘das Herz in die Hose’ rutschen. Dort unten treffen wir auf die Immobilisation durch den dorsalen Vagus, den wir Moe nennen werden.
Für Moe geht es nicht mehr darum einen Notfall zu managen, Moe steht für nacktes Überleben. Hier landen wir, wenn ein Entkommen nicht möglich ist und wir hilflos und überfordert sind. Moe wir auch Freeze-Reaktion genannt und beinhaltet Dissoziation. Wir bleiben aber gerne beim Gedanken eines Shutdowns, weil wir in diesen Zustand auch geraten können ohne offensichtliche Zeichen von Dissoziation oder Erstarren.
Moe zeigt sich in
- einem Abfall von Puls/Blutdruck
- sich von Innen heraus kalt fühlen
- flaches Atmen bis hin zu Atemaussetzern
- keine Bewegung, steif
- möglicherweise Verlust von Muskelspannung
- hohe Schmerztoleranz
- Taubheitsgefühl
- Hoffnungslosigkeit & Scham
- Vermeidung von Blickkontakt/runter schauen
- zusammengesunken da sitzen
- Augen mit ‘totem’ oder starrem Ausdruck
- keine Mimik
- keine Sprachfähigkeit
- kein sozialer Austausch
- ….
- ….
Moes Gehirnfunktionen sind noch eingeschränkter als Izzys. Wir sind vielleicht desorientiert, können Zeit nicht mehr einschätzen und unser Gedächtnis speichert Sachen nur sporadisch ab. Das ist ein Grund, warum unsere Trauma Erinnerung oft so fragmentiert ist und wir uns manchmal an wenig von unserer Therapiestunde erinnern.
Sozialer Austausch ist mit Moe praktisch unmöglich. Darum fühlt er sich so einsam. Weil auch hier die Gedanken dem Zustand folgen, handeln Moes innere Geschichten in der Regel von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Scham.
Moe ist ein Teil von uns und sein Job ist ursprünglich uns zu helfen relativ schmerzlos zu sterben oder eine letzte Chance zur Flucht zu nutzen, selbst bei schweren Verletzungen. So wie Izzy war das nie dazu gedacht ein anhaltender Zustand zu sein. Es wird allerdings chronisch, wenn wir chronisch mit Trauma konfrontiert wurden.
Wenn wir uns die Leiter hinunter bewegen, verlieren wir die Funktionen der höheren Zustände. Wenn wir in Izzy-Modus gehen, verlieren wir unsere Fähigkeit für soziale Verbindung und klares Denken. Wenn wir auf Moe stoßen, verlieren wir die Fähigkeit uns aktiv zu schützen.
Wir können lernen, uns wieder die Leiter hinauf zu bewegen und mehr Zeit mit Bob zu verbringen. Es ist möglich sowohl chronische Izzy als auch chronischen Moe zu überwinden.
Ich halte es für wichtig zu wissen, dass wir, wenn wir von Moe kommen, an Izzy vorbei müssen, um zu Bob zu kommen, so als würden wir wirklich eine Leiter rauf steigen. Das bedeutet, dass wir Mobilisation brauchen, um die Immobilisation zu überwinden und in Entspannung zu kommen. Menschen, die chronisch in dissoziativen Zuständen leben, bekommen oft Angst, wenn sie Izzy begegnen und werden zurück geschleudert in die Dissoziation, um so eine schwierige Wahrnehmung zu vermeiden. Das selbe gilt für Menschen die chronisch hypervigilant sind. Bob zu treffen kann angsteinflößend und unbekannt sein und wir fliehen zurück in ein Gefühl, was wir besser kennen.
Deswegen ist es wichtig, das mit dem Leiter hoch steigen in Gegenwart einer sicheren Therapeutin zu üben, die unterstützen kann und nur kleine Schritte zu machen.
Es ist mühsam, aber es lohnt sich. Wir erarbeiten uns die Möglichkeit Frieden und Ruhe zu erleben, Liebe, tiefere Freundschaften und Zugehörigkeit.
All das ist ein großer Teil von Trauma Heilung, manche sagen der größte Teil.
Ihr könnt üben Bob, Izzy und Moe bei euch oder anderen zu erkennen. Es kann lustig sein, dass erst mal mit Darstellern in Filmen zu probieren. Ihr müsst euch nicht auf unsere Namen festlegen, aber es hilft, wenn ihr (und eure Innenkinder) und eure Therapeutin eine gemeinsame Sprache habt, um diese Zustände zu beschreiben.
Weil es physiologisch korrekter ist und wir gemischte Zustände hinzufügen können, um Dinge wie Spiel oder Intimität zu erklären, glaube ich, dass die polyvagale Leiter früher oder später das Konzept vom Stresstoleranzfenster schlucken wird.
Mehr über die praktische Anwendung der polyvagalen Leiter in
oder in „Die Polyvagal Theorie in der Therapie“ von Deb Dana
Wenn ihr gut Englisch könnt und ein bisschen nerdy seid, hört euch den polyvagal podcast an.
Da wird alles noch viel besser erklärt, als ich das kann.
Agnes Kowalski says
Liebe Theresa,
Ich lese und lese und könnte abwechselnd: “Ja genau!” und “Danke, ich bin weder schuld noch komisch” schreien. DANKE, dass ich immer besser verstehe, was ist und was war… Das tut soooo gut! Ich habe mich vor fast 1 Jahr von meiner Täterin getrennt, anfangs ohne wirklich in Worte fassen zu können, was das Schlimme an ihr ist, außer dass ich am Ende die Kontakte ausgehalten habe und am besten auf ein Minimum reduziert hätte. Sie merkte, dass ich immer weniger verfügbar war und wurde beleidigt und zeigte mir das an Heiligabend. Und wie gut ich dieses Gesicht, diesen für mich unaushaltbaren Zustand kannte!… Da wurde mir klar, alles in mir schreit nach: “Lass mich endlich in Ruhe!!” Ich habe mich danach erst durch schlimme Ängste, dann Wut, dann Trauer dann immer wieder Wur usw. vorgearbeitet! Kurz gefasst: meine Mutter ist selbst schwerst traumatiert, 2 Alkoholiker als Väter, Bindung, Sicherheit etc. alles Fremdwörter für mich, wie ich es im Nachgang herusgefunden habe. Ich war wohl schon schon früh weg… Besonders das mit Schuld und Scham obendrüber kenne ich SEHR gut, das erst hat mir wohl die Sicht vernebelt, ich war nicht ich, aber das wußte ich gar nicht. Das merke ich erst heute. Ich bin sehr froh, dass Menschen wie du anderen das Wissen über diese allgemein unbekannten Sachen in so klar verständlicher und liebevollen Art zur Verfügung stellen. Ich danke dir von Herzen und wünsche dir alles Liebe!
Agnes