Die neuere Literatur, die Therapieansätze für DIS erklärt, scheint sich auf impulsives Verhalten, sichtbare Stressreaktionen und maladaptives Coping wie Selbstverletzung oder Drogenmissbrauch zu konzentrieren. Sie beschreibt, wie herausfordernd diese Patient*innen sind, wie chaotisch und was für strenge Grenzen es auf Seite der Therapeut*innen braucht, um sich zu schützen. Ich spüre ein wachsendes Gefühl von Unruhe darüber und erinnere mich an Leeds, der fragte: ‘Vergessen wir etwas?’ Nicht alle DIS sieht so aus. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Mehrheit von DIS Betroffenen so aussieht.
Ich bin keine Forscherin und habe keine Studien durchgeführt, aber ich möchte auf eine andere Art hinweisen, wie DIS auch aussehen kann, basierend auf meinen eigenen Erfahrungen mit Menschen, die so sind, mich selbst eingeschlossen.
Die Trauma Trinität
Nijenhuis nennt die Funktionswege von struktureller Dissoziation Ignoranz, Fragilität und Kontrolle. Ich bin mir sehr sicher, dass dissoziative Systeme sich darin unterscheiden, wie viel davon jeweils außen sichtbar ist. Es gibt ein Nicht-Wissen (Ignoranz), aber es geschieht auf einem Spektrum. Manche ANPS wissen nichts, die dissoziativen Barrieren sind sehr hoch. Andere wissen ein wenig oder sogar eine Menge. Ein System als Ganzes kann viel von der Fragilität, die innerlich existiert, zeigen oder fast nichts davon. Das gleiche gilt für Kontrolle. Darüber reden wir nur nicht, wahrscheinlich weil es keine offensichtlichen Probleme bereitet oder Kontrolle fälschlich nur auf Täter-orientierte Anteile bezogen wird. Ich stelle die These auf, dass manche Menschen mit DIS mit dissoziativer Kontrolle als Fundament funktionieren und sie übersehen werden, kaum behandelt werden und ihr Leid nicht genug Aufmerksamkeit bekommt, um überhaupt Behandlungsoptionen für sie zu entwickeln.
Ich picke ein paar Bereiche heraus, wo sich Kontroll-basierte Systeme am deutlichsten von Fragilitäts-basierten Systemen unterscheiden, um zu erklären, wie sich dadurch die therapeutischen Herausforderungen verändern.
Bindung
Der sichtbare Bindungsstil eines Kontroll-basierten Systems ist ein vermeidender. Das bedeutet nicht, dass es innerlich keine Anteile gibt, die ängstlich sind und klammern, es bedeutet, dass sie fast nie sichtbar werden. Es gibt keinen Ausdruck von Attachment Cry. Wenn sich die Anteile, die alles anleiten, verlassen oder enttäuscht fühlen, wird das Bindungssystem deaktiviert und ersetzt mit emotionaler Taubheit, kühlem, logischem Denken und Detachment. Es wird kein Drama geben. Es ist wahrscheinlicher, dass man still den Kontakt abbricht und nicht zurückschaut, ohne dabei Anzeichen von Leid zu zeigen. Wo wir einen Protest erwarten würden, wenn ein Austausch zwischenmenschliche Bedürfnisse verletzt hat, kriegen wir gar nichts. So einem System näher zu kommen, ist schwierig. Es ist, als gäbe es da eine Mauer, die Menschen auf Distanz hält und einen auffälligen Mangel an verletzlichen, persönlichen Informationen. Das innere Erleben wird vor den Blicken von außen verborgen. So ein System kommt nicht mit Ansprüchen auf Ts zu und die empfohlenen starken Grenzen scheinen absurd, weil von Ts nicht wirklich etwas erwartet wird, geschweige denn eingefordert. Harte Grenzen sind ein sicherer Weg, um mit diesen Patient*innen den Kontakt zu verlieren, während sie weiterhin immer pünktlich zu Sitzungen erscheinen. Ts fühlen sich gleichzeitig frustriert und nutzlos.
Impulskontrolle
Ein Kontroll-basiertes System wird natürlichen Impulsen nicht folgen. Sie haben gelernt, diese sofort zu bemerken und zu unterdrücken. Das bedeutet nicht, dass es da keine Impulse gibt. Das System hat nur gelernt, stillzuhalten und Freeze (und nicht Shutdown) ist die häufigste Reaktion auf Stressoren. Wenn sich innerlich etwas bewegt und damit das Stillhalten verlässt, das mit viel Kontrolle permanent gehalten wird, dann hindert die automatisch einsetzende Freeze Reaktion es daran, außen sichtbar zu werden oder in einer Handlung oder Bewegung umgesetzt zu werden. Alles innerlich wird unter strenger Kontrolle gehalten und Switches sind selten. Wenn überhaupt switched das System eher zu noch kontrollierteren Anteilen, wenn es gestresst wird und Fragilität wird erst sichtbar, wenn alle kontrollierenden Funktionsanteile aufgebraucht sind. Das endet dann in einem Crash, aber das passiert so selten, dass das Fenster der Diagnostizierbarkeit noch kleiner ausfällt als sonst. Stressreaktionen bleiben hier fast unsichtbar. Wir merken vielleicht einen Moment, in dem sich die Muskeln versteifen, wenn die Freeze Reaktion greift und den natürlichen Ausdruck von Stress unterdrückt, das ist alles.
So ein System kann Jahre ohne Selbstverletzungen oder impulsives Copingverhalten auskommen. Gibt es Narben, sind sie an verborgenen Stellen. Alles, was sich anfühlt, als würde man die Kontrolle verlieren und was Aufmerksamkeit auf einen zieht, muss eliminiert werden. Das Coping ist in der Regel eine Form von Überkontrolle, wie restriktive Essstörungen oder Arbeit. Hier ‘Skills’ zu lehren, um das innere Erleben noch weiter zu kontrollieren, ist ein Behandlungsfehler. Ein von Kontrolle angetriebenes System wird immer ‘das Richtige’ tun und dabei eigene Gefühle oder Bedürfnisse als unwichtig abtun. Das führt nicht zu den klassischen dysfunktionalen Verhaltensweisen, sondern die Überkontrolle ist das dysfunktionale Verhalten, das einem glücklichen und entspannten Leben im Weg steht.
Funktionsfähigkeit
Diese Art von System benutzt Arbeit und mentale Herausforderungen als Coping Strategie. Zu funktionieren, ohne dabei negative Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ist das höchste Ziel. Je mehr Stress vorhanden ist, desto mehr wird sich auf die Arbeit konzentriert, um innerlich alles still zu halten. Dieses Maß an Hoch-Funktionalität passiert auf Kosten der natürlichen Bedürfnisse. Die Unterdrückung von emotionalen und zwischenmenschlichen Bedürfnissen taucht irgendwann in chronischen Schmerzen, Autoimmunproblemen oder einem anderen körperlichen Ausdruck auf. Die rücksichtslose Ausbeutung des Körpers führt zu Erschöpfung und Zusammenbrüchen.
Es fühlt sich deutlich einfacher an, die Kontrolle über Essverhalten, Bewegung und Schlaf zu erhöhen, als tatsächlich in Kontakt mit den spürbaren Signalen des Körpers zu kommen, die er gibt, um diese Bereiche zu regulieren. Auch wenn es gelingt, einen Zusammenbruch zu vermeiden, indem Kontrolle verwendet wird, um den Körper am Laufen zu halten, basiert das auf künstlicher Kontrolle und nicht einem integrierten Gefühl für den Körper. Alles, was hochkommt, wird mit mehr Kontrolle gelöst.
Emotionen werden in der Regel bis zur Unkenntlichkeit betäubt. Der Verstand ist in der Lage, diese seltsame Art zu funktionieren nachzuvollziehen, aber es kann unmöglich sein, sich vorzustellen, wie man anders funktionieren könnte. Dinge wie Impulsen zu folgen oder ein Bedürfnis auszudrücken, sind so fremd, dass sie unvorstellbar geworden sind. Wird es versucht, entsteht plötzlich das Gefühl auseinander zu fallen oder sterben zu müssen. Selbst wenn es möglich ist, über den Mechanismus selbst nachzudenken, verändert er sich nicht und scheint sich aktiv gegen Veränderung zu wehren. Der Verstand ist den eigenen Kontrollmustern gegenüber unflexibel, weil sie als überlebensnotwendig eingestuft werden, nicht aber gegenüber anderen Dingen.
So ein Profil führt zu einem ‘covert’, also einem verdeckten, System, das eine Menge Energie investiert, um sich unsichtbar zu machen. Das basiert nicht auf einem Nicht-Wissen über innere Erfahrungen, sondern auf Kontrolle darüber. Ich glaube, das dient vor allem dem Zweck, Bedürfnisse unsichtbar zu machen, weil die so leidvoll und beängstigend sind. Es verbirgt jede Dysfunktion hinter einer Mauer aus Kontrolle. Das reduziert nicht das Leid, es versteckt es nur besonders gut.
DIS wird oft als eine ‘disorder of hiddenness’ bezeichnet, eine versteckte Störung. Manchmal versteckt sie sich hinter Trauma-basierter Überkontrolle. Es alarmiert mich, wenn dieses Wissen in Vergessenheit gerät.
Mögliche Gründe für Kontroll-basierte Repräsentationen?
Ich habe zu diesem speziellen Thema keine Studien gesehen. Leeds weist darauf hin, dass Vernachlässigung bei der Entwicklung von DIS eine größere Rolle spielt, als man dachte und dass es wohl eine Verbindung zwischen Vernachlässigung und einem vermeidenden Bindungsstil bei Traumatisierten gibt. Hier ist mein eigener Erklärungsversuch:
Ein Element ist möglicherweise die Erfahrung von konsequenter Vernachlässigung. Es gab keine Bezugsperson, die manchmal auf Bedürfnisse reagiert hat und manchmal nicht, keine klassische ‘ängstliche und beängstigende’ Person und statt dessen einfach beständig nichts. Das Kind hat früh gelernt, sich selbst zu retten, sich zusammenzureißen, die Situation in die eigene Hand zu nehmen und Dinge zu tun, die eigentlich zu schwierig waren. Gefühle oder Bedürfnisse auszudrücken wurde konsequent bestraft und führte nie zu einem erstrebenswerten Ergebnis, also wurde es als nutzloses Verhalten abgelegt. Es gab keinen Weg, eine lebendige Person mit Bedürfnissen zu sein und damit existieren zu dürfen, weil schon das Existieren zu viel für die Erwachsenen um sie herum war (schwer das Bezugspersonen zu nennen, wenn kein Bezug bestand). Die friedvollste Art zu sein, war unsichtbar für die Erwachsenen, also hat das Kind Wege erschaffen, mit allem, was Probleme bereiten könnte, unsichtbar zu bleiben.
Hausarbeit zu erledigen, im Stillen für sich zu Lernen und in der Schule gut zu sein, waren die einzigen Dinge, die durch neutrale Aufmerksamkeit bestärkt wurden. Das macht Arbeit zu einer sicheren Verhaltensweise, die man zur Selbstregulation verwenden kann. Vielleicht gab es eine Ideologie, die behauptet hat, Schwäche (=Bedürfnisse) zu zeigen, sei verkehrt oder dass nach den eigenen Gefühlen und Impulsen zu handeln, unwürdig oder ungebildet sei. Das sind verbreitete Täter-Strategien, um Kinder davon abzuhalten, Anzeichen von Misshandlung zu zeigen, die zu Hilfe für sie führen würden. Selbstbeherrschung und Detachment/Dissoziation bleiben als einzige Coping Strategien, die nicht mehr Ärger machen, als sie wert sind. Sie haben geholfen, eine Kindheit zu überleben, die feindlich war für eine natürliche Entwicklung, Kreativität, Spiel und Kind-Sein. Kindanteile in so einem System können erst einmal älter wirken, bevor deutlich wird, wie jung sie wirklich sind. Die fragilsten, dramatischsten Anteile in so einem System könnten sogar die Täter-imitierenden Anteile sein, die nach Fürsorge verlangen. Parentifizierung geht dann mit der Vernachlässigung Hand in Hand. Während Vernachlässigung dieser Art eher nicht der einzige Grund für eine DIS ist, andere Dinge sind zusätzlich dazu passiert, ist es vielleicht ein Element, das die äußere Repräsentation beeinflusst. Das ist natürlich nur eine persönliche Beobachtung.
Persönlichkeitsstörung?
Was wir dann bekommen, sieht kein bisschen wie Borderline aus. Nicht alle Menschen mit DIS sehen impulsiv, instabil und chaotisch aus. Nicht alle haben offensichtlich desorganisiertes Bindungsverhalten und Unmengen Probleme in Beziehungen. In Kontroll-basierten Repräsentationen gibt es Schwierigkeiten, aber sie beziehen sich auf das innere Erleben und die Vernachlässigung, die wir an uns selbst reinszenieren. Andere Menschen merken davon in der Regel nichts. Vielleicht sehen sie manchmal Momente, wo sich unsere Muskeln versteifen und wir stillhalten, aber nicht viel mehr. Es hilft nicht, wenn die Behandlungsmöglichkeiten für DIS sich immer mehr auf co-morbides Borderline konzentrieren, bis sie nutzlos geworden sind für Menschen, die all diese Probleme nicht oder nur beiläufig zeigen. Das lässt es nur plausibler erscheinen, dass BPS und DIS sich so stark überlappen, dass sie irgendwie das selbe sein könnten. Können sie nicht. Aber das wird nur deutlich, wenn wir uns andere Repräsentationen von DIS anschauen und nicht nur die, die die lautesten Probleme verursachen.
Zwanghafte PS vs Kontroll-basierte DIS
Wenn überhaupt, dann sieht Kontroll-basierte DIS noch am ehesten wie eine Zwanghafte Persönlichkeitsstörung aus.
Ähnlichkeiten
- extrem hohe Ansprüche an sich selbst
- Probleme Gefühle auszudrücken
- Schwierigkeiten mit Nähe in Beziehungen
- zieht Arbeit Freizeit vor
- starre Regeln für sich selbst, vielleicht auch zur Kontrolle über den Körper
- starkes Verantwortungsgefühl
Unterschiede
- nicht die gleichen Erwartungen an andere
- akzeptiert Fehler von anderen leicht, versteht dass sie auch nur Menschen sind
- hoch-funktional: verliert sich nicht in Details oder Perfektionismus, Projekte werden wie geplant beendet
- Effiziente Planung, kein über-planen, flexibel darin Pläne anzupassen
- Keine unlogischen obsessiven Gedanken oder Zwangshandlungen
- kein magisches Denken (außer vielleicht, dass mehr Kontrolle immer die Lösung ist)
- kein Handeln nach Impulsen oder innerem Drängen
- oft nicht sozial isoliert, in wichtigen Rollen umgeben von Menschen, nur keine sichtbare emotionale Verbindung zu ihnen
- persönliche Regeln lassen sich leicht mit Trauma Erfahrungen erklären
Und manchmal hat man auch beides.
DIS sieht nicht grundsätzlich wie Borderline aus. Sie ist nicht grundsätzlich auffällig oder von Fragilität angetrieben und Menschen mit DIS zeigen nicht grundsätzlich impulsive Handlungen. Die Menge von Ignoranz, Fragilität und Kontrolle, die außen sichtbar ist, variiert. Das ist besonders wichtig zu wissen, wenn wir uns Online umschauen, wo ein offener Ausdruck dramatisch überrepräsentiert ist. Wir reagieren dann vielleicht schockiert und mit der tiefen Überzeugung, dass wir kein bisschen ‘so’ sind und nicht mal in der Nähe von sowas sein wollen. Das ist verständlich. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, die DIS Diagnose zu akzeptieren. DIS hat viele Gesichter und das Kontroll-basierte ist nicht weniger valide und auch nicht so selten, wie das in Behandlungs-Lehrbüchern und im Internet vielleicht erscheint. Es kann eine große Entlastung sein, Systeme kennenzulernen, die auf ähnliche Weise funktionieren. Das ist in Wirklichkeit kein so seltener Ausdruck von DIS. Es ist nur ein leiser und versteckter, der nicht so viel Lärm um sich macht, weil genau das es zu einer nützlichen Überlebensstrategie gemacht hat. So wird es zum unter-diagnostizierten Ausdruck. Ihr seid damit nicht alleine und auch nicht seltsam. Aber es ist schwieriger, Behandlung zu bekommen, die auch funktioniert, weil Ts es sich nicht zum Thema gemacht haben, welche zu finden. Wir sind so pflegeleicht und scheinen ohnehin das meiste alleine herauszufinden… das ist ein Symptom, nicht die Lösung. In mir klingt Leeds’ Frage nach: Vergessen wir etwas?
Wenn ihr euch hier wiedererkannt habt, interessieren euch vielleicht folgende Artikel
Reinszenierungen von Vernachlässigung in der Therapie
Verbindung mit dem Körper wiederherstellen
Aus chronischer Dysregulation rauskommen
Hilfe dissoziieren als Reaktion auf Vernachlässigung
Radikale Offenheit für die Gedanken
Erworbene sichere Bindung zwischen Anteilen
Der Artikel, auf den hier Bezug genommen wurde, ist von Andrew Leeds und heißt Developmental pathways to dissociation: Are we forgetting something? und wurde im ESTD Newsletter Dezember 2012 veröffentlicht. Darin geht es um die Rolle von Vernachlässigung bei der Entstehung von struktureller Dissoziation und dass dieses Thema vernachlässigt wird. Leeds hat sich danach weiter mit Vernachlässigung und vermeidendem Bindungsverhalten beschäftigt und einen ersten Versuch gemacht, ein EMDR Werkzeug dafür zu entwickeln. Ich erwarte nicht, dass irgendwer die Referenz verstanden hat, aber es macht mir manchmal persönlichen Spaß, mich auf Fachtexte zu beziehen.