Es ist nicht selten, dass eine DIS oder Subform erst erkannt wird, nachdem eine EMDR Sitzung furchtbar schief gelaufen ist. Wenn wir verstanden haben, warum das Standard-Protokoll in manchen Systemen so viel hoch bringen kann, dass PatientInnen davon völlig überrollt werden, schauen wir uns eine andere Herangehensweise an EMDR an, die das Prozessieren für Menschen mit struktureller Dissoziation sicherer und machbarer gestaltet.
Auch wenn es nicht völlig klar ist, wie EMDR das Gehirn beeinflusst, geht man davon aus, dass die bilaterale Stimulation hilft, neuronale Netzwerke zu verbinden, die sonst dissoziiert sind. So können Menschen mit einem Einzeltrauma Zugang zu Details ihrer Erinnerungen bekommen, die vorher aus ihrem Bewusstsein abgespalten waren. Durch den Zugang zu diesen Gebieten wird es möglich, die Erinnerung zu integrieren und Symptome gehen runter. Menschen mit Monotrauma können so ihren Assoziationen folgen und nacheinander auf Fragmente ihrer Erinnerung stoßen, diese prozessieren und dann zum nächsten übergehen.
So weit man das gerade versteht, bestehen Anteile eines dissoziativen Systems aus eben solchen neuronalen Netzwerken, die größtenteils voneinander getrennt sind. Darin sind in unterschiedlichem Maß Erinnerungen, Emotionen, Gedankenmuster usw gespeichert. Zu TraumaZeit war es wichtig, das alles zu trennen, weil es sonst völlig überfordert hätte. Systeme reagieren individuell unterschiedlich auf bilaterale Stimulation und bei manchen führt sie dazu, dass Verbindungsbrücken zwischen diesen neuronalen Netzwerken entstehen. Das Ergebnis ist, dass Anteile, wenn sie sich dem Kerntrauma nähern, nicht nur geflutet werden mit all den schwierigen Dingen, die andere Anteile für das System tragen sondern auch mit allen Beziehungskonflikten innerhalb des Systems und der enormen Angst voreinander und dem was Innen passiert. Und das alles gleichzeitig. Wenn man ein Fragment von Erinnerung wach ruft, während bilaterale Stimulation angewendet wird, kann das ein dutzend Anteile gleichzeitig aktivieren und Regulation wird völlig unmöglich. Es besteht keine Chance mehr, dass so was zu einer Integration von Erinnerung führt! Das ist nur überfordernd und wahrscheinlich retraumatisierend.
Bei anderen Hosts passiert vielleicht gar nichts dramatisches. Sie bleiben beim Prozessieren nur dauernd stecken, erleben Sackgassen und ‘looping’, wo sich einfach nichts mehr verändert, obwohl es nicht zufriedenstellend verarbeitet wurde. Nur die Fragmente, die der Frontperson bekannt sind, werden bearbeitet und es fehlen riesige Stücke des Erlebens oder der nächste Schritt, den man brauchen würde, um in einem bestimmten ‘Tunnel’ weiter zu kommen, ist bei einem anderen Anteil gespeichert. Ohne innere Kooperation bleiben wir bei der Trauma Bearbeitung nur stecken.
Wenn wir sehr sensibel auf bilaterale Stimulation regieren, also alle unsere dissoziativen Barrieren sich einfach auflösen, entscheidet unsere T vielleicht, gar nicht mit EMDR zu arbeiten oder erst nach Jahren, in denen wir innere Verbindung und Kooperation stärken konnten. Sie verwendet dann wohl auch nicht den progressiven Ansatz sondern das Standard-Protokoll, aber erst wenn wir wirklich bereit dafür seid. (Wenn das bei euch so ist, wäre es gut, bilaterale Stimulation von eurer DBT Skills Liste zu streichen. So werdet ihr euch nie beruhigen!)
Tip-of-the-Finger Verfahren
Für die von euch, die da irgendwo dazwischen liegen, wird der EMDR Prozess auf den Kopf gestellt. Im Standard-Protokoll wählen wir eine Target Erinnerung und folgen dann den verschiedenen Assoziationen weg vom Kern des Traumas. Stellt euch eure Hand vor. Die Handfläche ist der Kern des Traumas und man folgt den Assoziationen nach außen zu den Fingerspitzen, kehrt dann zur Handfläche zurück und prozessiert den nächsten ‘Finger’.
Bei schwerer Traumatisierung und Fragmentierung benutzt eure T die ‘tip-of-the-finger’ (Fingerspitzen) Technik und kümmert sich erst mal nur um die Erfahrungen, die am äußeren Rand des Traumas liegen. Sie pickt dann Fragmente heraus wie eine Emotion oder einen Gedanken, von dem ihr in der Therapie erzählt und bietet bilaterale Stimulation an, wo ihr euch nur auf diesen kleinen Teil konzentriert. Es braucht da eine gut geschulte und sensible T, die euch hilft, nicht in das große Ganze rein gezogen zu werden. Den starken Fokus auf Assoziationen wie im Standard-Protokoll gibt es hier nicht mehr. Statt dessen leitet eure T sehr direkt an und bleibt eng bei euch. Mit vielen kleinen Momenten von Verarbeitung kommt ihr irgendwann näher an den Kern des Traumas ran und wenn ihr da hin kommt, ist vieles von dem außen rum schon bearbeitet, sodass es nicht mehr so völlig überfordernd ist.
Wenn wir Dinge von den ‘Fingerspitzen’ aus hin zum Kern verarbeiten, können wir schon auf dem Weg dahin eine Erleichterung in unserem Leben erfahren; Gefühle und Gedanken werden prozessiert und verändern sich. So erlangen wir mehr Stabilität und Sicherheit, die es dann wieder möglich machen, mehr zu bearbeiten und näher an die ‘Handfläche’ ran zu gehen. Das braucht so mehr Zeit und Geduld als die ‘schnelle und saubere’ EMDR Lösung, die Menschen mit einem Einzeltrauma gerne versprochen wird, aber da das ohnehin nicht in unserer Reichweite ist, ist das fragmentierte Prozessieren der sicherste und schnellste Weg für uns. Auch wenn man nur mit einem Fragment nach dem anderen arbeitet, kann das ins große Ganze integriert werden. Wir machen es nur einfach nicht alles gleichzeitig.
Erwachsene Selbst
In der Regel wird euer EMDR T erst einmal mit euch daran arbeiten euer ‘erwachsenes Selbst’ zu stärken. Das könnte Hosts meinen oder andere erwachsene Anteile, die viel Vorne sind, es kann aber auch alle erwachsenen Aspekte von euch meinen, die über das ganze System verteilt sind und sich manchmal auch bei jüngeren Anteilen finden. Euer T wird euch immer bitten als ‘erwachsenes Selbst’ Kontakt mit bestimmten Anteilen der Persönlichkeit aufzunehmen und diese beim Prozessieren zu unterstützen. Das Fragment der Erinnerung wird bearbeitet, während ein erwachsener Anteil Vorne und ein Trauma-Anteil co-bewusst dabei ist. So wird auch Verbindung gestärkt, während das Trauma verarbeitet wird und wir wiederholen kein altes Schema, indem Trauma Anteile alleine zurück gelassen werden, wie das bei struktureller Dissoziation passiert. Wenn wir uns wieder nur damit alleine lassen würden, hätten wir nicht viel gewonnen; Trauma Integration ist mehr, als nur das Bearbeiten von Erinnerungen. In seltenen Fällen stimmt ein T vielleicht zu, mit einem Trauma Anteil alleine zu arbeiten, wenn Unterstützung durch das System völlig unmöglich ist, aber eine Entlastung unbedingt benötigt wird. Das wäre bei diesem Verfahren eine Ausnahme. Gründliche Stabilisierung kann nicht übersprungen werden, Kooperation ist zentral. Unsere Angst vor den traumatischen Erinnerung zu überwinden, ist Teil der Heilung, und das beinhaltet, bei unseren traumatisierten Anderen zu bleiben. Switches können nicht immer vermieden werden, aber Ziel ist es, die Bearbeitung ohne zu schaffen.
Dualer Fokus
Als Vorbereitung auf die Verarbeitung kann es sein, dass euer T mit euch erst einmal bifokale Aufmerksamkeit übt. Das bedeutet, dass ihr euch auf das Hier und Jetzt konzentrieren könnt (wie die bilaterale Stimulation) und gleichzeitig auf das Fragment, das ihr bearbeiten wollt. Menschen mit struktureller Dissoziation neigen dazu, entweder mit beiden Beinen im Hier und Jetzt zu stehen (ANPs) oder mit beiden Beinen in der Vergangenheit (EPs). Ihr müsst vielleicht eine Balance von ‘ein Fuß drinnen – ein Fuß draußen’ erst mal lernen, bevor ihr mit dem Prozessieren beginnen könnt. Das heißt in der Regel solides Ko-Bewusstsein aufzubauen. Ohne klappt das alles nicht.
Wo das Standard-Protokoll Ts rät die PatientInnen zu pushen noch ein klein wenig länger durchzuhalten, wenn sie signalisiert haben, dass sie eine Pause brauchen, gilt für den progressiven Ansatz das Gegenteil. Eure T muss sofort aufhören und Intervalle kürzer halten, als was sie für euch für machbar hält. Wir ringen meist ohnehin damit zu erkennen, wann wir aufhören müssten und eine T sollte doppelt und dreifach prüfen, was wir sagen und uns manchmal auch zurück halten, wenn wir nicht bemerken, dass wir zu weit gehen. Langsamer ist schneller. Es geht in der Trauma Behandlung nicht darum, uns zu pushen nur wieder eine weitere Extremsituation zu überleben.
Manchmal, wenn wir etwas als Team bearbeiten, merken wir vielleicht, dass der Stresslevel des Anteils Vorne steigt und es scheint, als würde die bilaterale Stimulation alles nur schlimmer machen. Gleichzeitig nimmt beim emotionalen Anteil das Leid ab, das Fragment an dem wir arbeiten wird prozessiert. Der Anteil Vorne kommt vielleicht nur näher ran an ein Erleben, dass ihnen vorher nicht bewusst war. Das heißt nicht, dass deswegen EMDR kaputt ist.
Die Trauma Bearbeitung bei einer DIS braucht immer Team Arbeit. Das System muss sich einig werden, dass sie die Erlaubnis haben, an bestimmten Fragmenten von Erinnerung zu arbeiten. Manchmal haben Anteile ihre eigenen Gründe, warum sie an etwas festhalten wollen und ihr könnt nichts gegen euren Willen prozessieren. Es kommt oft vor, dass Täter-imitierende oder Täter-loyale Anteile mitten in der Bearbeitung auftauchen, wenn sie vorher in der Entscheidungsfindung nicht mit einbezogen wurden. Es hilft, sowas vorher zu klären.
Vertrauen in den T ist zentral. Bei EMDR kommen vielleicht Sachen hoch, für die ihr euch schämt. Stellt euch vor, mitten beim Prozessieren beginnt ein Täter-loyaler oder sexualisierter Anteil plötzlich einen Streit und der Körper reagiert in merkwürdiger und verwirrender Weise. Für euren T ist das keine seltene Situation mit sowas umzugehen, aber ihr müsstet genug Vertrauen haben, auch solche Erfahrungen mitzuteilen, auch wenn es peinlich ist. Sonst bleibt ihr mit der Verarbeitung stecken und steht am Ende alleine damit da, den Streit zu schlichten.
Die Grenzen zwischen den Phasen von Stabilisierung und Trauma Bearbeitung verschwimmen, wenn eure T mit dem progressiven Ansatz arbeitet. Zuerst werdet ihr hauptsächlich an Stabilität arbeiten und ab und zu an einem ‘Fingerspitzen’ Fragment, das euch dabei im Weg steht, noch stabiler zu werden. Mit der Zeit geht eure T dann zu mehr Prozessieren über, während ihr immer wieder zu Stabilität zurück kehrt. Auch die Bedingungen fürs Prozessieren verwischen etwas. Eure T wird sich darauf konzentrieren die Dinge zu bearbeiten, die es euch erst möglich machen, diese Kriterien zu erfüllen. Gedanken und Gefühle zu verarbeiten, die bei euch Täterkontakt aufrecht erhalten, wäre zum Beispiel ein frühes Ziel, damit euer Leben sicherer wird. Was immer euch davon abhält ‘Nein’ oder ‘Stopp’ zu sagen, wäre ein weiteres wichtiges Thema. Weil alles so eng miteinander verwoben ist, ist es schlicht unmöglich, an Stabilität zu arbeiten, ohne auch ‘Fingerspitzen’ Inhalte zu prozessieren. Das 3-Phasen Modell für die Trauma Therapie wird nicht mehr im Wortlaut eingehalten, die grundlegenden Prinzipien dahinter werden aber nicht über Bord geworfen.
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