Wenn wir eine DIS haben, ist es unglaublich einfach, eine Falschdiagnose zu bekommen, weil das Verhalten, das wir aufgrund unserer Traumageschichte oder unseres Inneren Erlebens zeigen, von Fachleuten fehlinterpretiert wird. Häufige Fehldiagnosen sind alle Arten von Persönlichkeitsstörungen, Bipolare Störung oder Schizophrenie. In seltenen Fällen zeigt man auch mal vereinzelt Verhalten, das als Anzeichen für imitierte DIS angesehen wird, bei uns hat das aber völlig erklärbare und logische Gründe. Deswegen braucht es für eine richtige Diagnose richtige Testung durch eine Person, die richtig ausgebildet wurde, diese auch durchzuführen.
Gründe für Verhalten
Es ist unmöglich, ein Verhalten zu beobachten und dann exakt genau zu wissen, was das verursacht hat. Eine Vielzahl von Gründen kann zum gleichen Verhalten führen. Ich kann ziemlich oft auf die Toilette gehen, weil ich zu viel Kaffee getrunken habe oder weil ich mir im Meeting das Lachen nicht verkneifen kann und das dann dort tue oder weil ich zwanghaft mein Gesicht im Spiegel sehen muss und es nicht lange ohne aushalte oder weil ich meiner Essstörung nachgehe oder vielleicht hab ich einfach meine Tage. Wer weiß das schon? Ohne mich zu fragen, bemerken Menschen nur, dass ich oft rausgehe und im Bad verschwinde. Wie sie das erklären und deuten, findet komplett in ihren Köpfen statt und sagt im ersten Moment mehr über sie aus als über die Realität meiner Toilettenbesuche. ‘Verhalten ist multi-determiniert’ ist ein Satz, den wir im Psychologie Studiun ständig gesagt bekommen haben. Viele Faktoren haben einen Einfluss auf das Verhalten, das wir beobachten können. Es ist unmöglich, ein Verhalten zu beobachten und alleine dadurch auf diese Faktoren zu schließen. Es scheint, dass manche Psycholog*innen das sehr schnell wieder vergessen.
Persönliche Erfahrungen [CN: Behandlungsfehler]
Während einer größeren Krise in meinem Leben, landete ich auf einer Psychiatrie-Station, die auf Persönlichkeitsstörungen spezialisiert war. Das war die einzige Abteilung, die regelmäßig mit dissoziativen Symptomen zu tun hatte und es gab keine Trauma Station. Die Situation war für das ganze System unglaublich erschreckend und beängstigend und wir haben begonnen, kleine Routinen als Anker einzurichten, um traumatisierte Anteile orientiert zu halten. Einer dieser Anker war, abends immer das gleiche zu essen, was sie an freundliche Menschen und Sicherheit erinnert. Je dysregulierter Mitpatient*innen waren und je verängstigter die Kindanteile wurden, desto mehr haben wir uns auf diese Anker gestützt. Das Team ging davon aus, dass wir eine Zwanghafte Persönlichkeitsstörung haben müssen und hat uns entsprechend behandelt. Habe ich Sorge über gefährliche Impulse von anderen Anteilen ausgedrückt, wurde das als Zwangsgedanken abgetan und mir erklärt, dass ich mir keine Sorgen machen sollte, weil das ja nicht real sei. Wann immer ich versucht habe, unter Leuten zu sein, weil ich vor unkontrollierten Symptomen Angst hatte und wollte, dass jemand Hilfe holen kann, wurde das als Suche nach Aufmerksamkeit verstanden. Zuletzt wurde meine zu dem Zeitpunkt seit 5 Jahren gesicherte DIS Diagnose neu interpretiert als ein Wunsch, etwas besonderes zu sein. Ich bin mit der Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung entlassen worden. Ich habe vor der Klinik und nach der Klinik nie wieder starre Routinen gezeigt. Das war das Produkt eines unsicheren Umfelds. Menschen, die mich kennen, lachen jedes Mal laut, wenn sie hören, dass man mich als Aufmerksamkeit-suchend eingeschätzt hat, weil ich hoch introvertiert bin und kaum je Hilfe suche, schon gar keine wahllose Aufmerksamkeit. Überhaupt an jemanden heranzutreten mit irgendeinem Bedürfnis, ist für mich nicht leicht.
Was ist schief gelaufen?
Das Klinikteam war es gewohnt, Persönlichkeitsstörungen zu sehen. Das war schließlich ihre Spezialisierung. Sie haben dabei aus den Augen verloren, dass nicht alles auf der Welt eine Persönlichkeitsstörung ist. Die haben Verhalten gesehen, dass sie schon früher bei Leuten gesehen haben und dachten, dass sie wissen, worum es da geht. Sie haben sich von der Beobachtung in die Interpretation, Erklärung und dann in die Bewertung/Diagnose bewegt, ohne mit mir über die Gründe zu sprechen, warum ich etwas tue. Sie haben nicht mal gefragt, ob das normal bei mir ist oder nur ein Nebenprodukt meiner Krisensituation. Sie haben nie auf Persönlichkeitsstörungen getestet, unter Umständen weil klar war, dass nichts davon gut genug passt, um damit zu einem Ergebnis zu kommen. Aber ich war ja sehr offensichtlich gestört in der Art, wie ich mich verhalten habe und das sah alles recht bekannt aus. Diese Situation hätte einiges mehr an Kommunikation auf Augenhöhe gebraucht, um zu klären, was überhaupt passiert. Die Interventionen passten nicht zu meinem Problem, weil man sich nicht bemüht hat, die Gründe für mein Verhalten herauszufinden. Am Ende wurde ich verantwortlich gemacht für das Scheitern der Behandlung, statt den eigenen Prozess noch mal zu überdenken.
Dinge, die Menschen mit DIS tun
Menschen mit DIS können alles mögliche Verhalten zeigen, das auf den ersten Blick wie irgendwas aussieht. Wir können zB
- laut mit den Stimmen in unserem Kopf sprechen
- im Außen mit Szenen interagieren, die eine innere Realität sind, so als würden wir halluzinieren
- plötzlich sehr bedürftig und emotional instabil werden wegen eines Switches
- plötzlich wütend oder ablehnend werden wegen eines Switches
- innere und äußere Realität verwechseln oder Gegenwart und Vergangenheit und dann Stressreaktionen zeigen im Bezug auf scheinbar triviale Dinge
- überhaupt keine Emotion haben und nicht im Kontakt mit Gefühlen sein, ein stilles Gesicht zeigen
- keine menschliche Verbundenheit oder Empathie mit anderen Leuten wahrnehmen, weil wir zu dissoziiert sind, um die überhaupt bewusst wahrzunehmen
- Flashbacks oder Switches erleben, die die Aufmerksamkeit von Leuten auf uns ziehen
- uns an strenge Regeln aus TraumaZeit halten, weil alles andere damals schwer bestraft wurde
- Anteile haben, die sich außer Stande sehen, mit dem Leben zurecht zu kommen und die sehr abhängig sind von anderen
- von Scham überwältigt werden und uns in unsere eigene Welt zurückziehen
- scheinbar gar kein Schamgefühl haben und fröhlich Dinge teilen, die man so normalerweise nicht teilen würde, weil die Gefühle dissoziiert sind und wir kein Gespür für Grenzen haben
- Anteile haben, die dramatische und intensive Gefühle zeigen, die nicht zur Situation passen
- kontrollierende Anteile haben, die versuchen andere zu dominieren, weil das zu TraumaZeit die einzige Möglichkeit für sie war, sich sicher zu fühlen
- alles intellektualisieren, weil wir taub sind für Trauma oder Emotionen und das die einzige Funktionsebene ist, die unseren ANPs zu Verfügung steht
- rigiden Abläufen folgen und von Angst überrollt werden, wenn sie nicht eingehalten werden, weil das zu TraumaZeit bestraft worden wäre, andere Arten von unflexiblem Denken zu alten Regeln
- über Trauma in so dissoziierter Art sprechen, dass es nicht möglich scheint, dass wir das selber erlebt haben. Es fühlt sich fürs Gegenüber nicht real an, weil es sich durch die Derealisation auch für uns nicht real anfühlt
- keine Mimik haben und keine sichtbare Stressreaktion, wenn wir über Trauma reden oder getriggert sind. Die Reaktionen laufen Innen ab und bleiben dadurch unsichtbar.
- kein instabiles Gefühl von uns selbst und unserer Identität haben, so als würden wir je nach Situation ständig neu ausprobieren, jemand anderes zu sein
- …
Gar nicht so selten kommt all das und Ähnliches zusammen und wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten sichtbar.
Um aus solchem Verhalten Sinn zu erschließen, muss man mit uns über unser Erleben sprechen. Sind wir narzisstisch und haben keine Empathie oder sind wir so depersonalisiert, dass wir gar nichts spüren, weder uns selbst noch andere, und uns das eben auch von Empathiefähigkeit abtrennt? Ich hab oben eine ganze Reihe Verhaltensweisen aufgelistet, die typisch sein könnten für das ganze Spektrum von Persönlichkeitsstörungen. Aber wenn man sie zusammen nimmt, sind sie für keine wirklich spezifisch. Sieht man so ein Muster, ist es der leichte Ausweg, das einfach eine kombinierte Persönlichkeitsstörung zu nennen und dabei zu belassen. Aber was wäre… Was wäre, wenn ein PS-Framework einfach nicht passt, weil das Grundproblem Dissoziation ist. Diese Art von Alles-Und-Nichts Patient*innen brauchen vielleicht eine frische Sicht auf die Lage, die zum ersten Schritt der Beobachtung zurück kommt und noch mal neu beginnt.
‘Wer tut was warum?’
Das ist ein Ansatz von Nijenhuis, der in der DIS Therapie zentral ist. Wer verhält sich da? Das ist nicht immer der selbe Anteil der Persönlichkeit. Was genau tun sie? Und was glauben sie selbst, da zu tun? Was wir sehen, kann sich manchmal deutlich von dem unterscheiden, was sie erleben. Und warum tun sie das? Das Warum ist von größter Bedeutung, um Verhalten überhaupt verstehen zu können. Es gibt gute Gründe. Und diese Gründe sind in der Regel komplexer und anders gelagert als eine ‘gestörte Persönlichkeit’ zu haben. Sie beruhen meist auf Schutzstrategien und Realitäten aus TraumaZeit. Es ist möglich, die Bausteine von Integration zu identifizieren, die fehlen. Verhalten kann nicht bewertet werden, bis wir das Warum kennen. Missverständnisse passieren, wenn Fachleute sich so sicher mit ihrer Interpretation unseres Verhaltens sind, dass sie es versäumen, uns nach dem Warum zu fragen. Plötzlich soll man zwanghaft sein, wenn man eigentlich nur versucht, Innenkinder während einer verwirrenden Zeit an einem verwirrenden Ort zu orientieren. Eine Frage hätte ausgereicht, um festzustellen, dass das ein vollständig iatrogenes Verhalten war und nicht mal ein richtiges Symptom. Patient*innen wird immer gesagt, dass sie ihren Denkprozess überprüfen sollen und nicht alles gleich glauben. Ihnen wird gesagt, dass sie ihre Theorien über Menschen testen sollen und bedenken, dass ihre Interpretationen vielleicht kein gutes Abbild der Realität sind. Patient*innen sollen ihre Schritte von Beobachtung, Interpretation und Bewertung trennen und erwarten, dass ihnen in diesen Schritten Fehler unterlaufen. Therapeut*innen sollten sich da auch dran erinnern. Es gibt keinen Grund, warum sie irgendwie über sowas stehen sollten und besser wären als andere Leute und eine Spezialisierung führt manchmal erst recht zu schnellen Interpretationen und Bewertungen, die voller Missverständnisse sind. Fragen Sie. Es ist nicht schwer. Und fragen Sie mit einer inneren Offenheit, etwas Neues zu hören. Wenn alle Antworten sofort so uminterpretiert werden, dass sie zu der schon erfolgten Beurteilung passen, kann man sich das Fragen auch sparen.