Die meisten Menschen, die Dysregulation oder Stress erleben, halten es für etwas schlimmes: sie schämen sich oder wollen, dass es weg geht. Sich mit diesen Wahrnehmungen anzufreunden, scheint kontra-intuitiv. (Wenn euch Stressreaktionen noch nichts sagen, fangt bei der polyvagalen Leiter an.)
Wenn wir unser Stresserleben ablehnen, lehnen wir unsere menschliche Natur ab. Der Körper ist dazu designed diese Reaktionen zu haben. Die sollen helfen. Es gibt gesundes Hyperarousal, in Momenten, wo wir in Gefahr sind oder versuchen den Zug noch zu erwischen. Es gibt gesundes Hypoarousal, wenn wir in Todesgefahr sind oder trauern. Unser Körper bewegt sich andauernd zwischen diesen Zuständen hin und er, in einem gesunden Fluss: er reguliert sich. Dieses Erleben ist in unser System mit eingebaut. Es ist natürlich und normal und wir können es nicht abschalten oder los werden, weil er Teil gesunder Regulation ist. Keine Therapie der Welt kann machen, dass alle unsere Stressreaktionen weg gehen. Sie werden uns unser Leben lang begleiten. Also könnten wir auch Frieden mit ihnen schließen.
Das Problem mit dem Ablehnen von Dysregulation
Wir nennen das nur Dysregulation, wenn die Reaktion nicht zur Situation passt. Das ist, wo Leiden entsteht. Es ist möglich, an unserem Stresstoleranzfenster zu arbeiten, um Dysregulation zu verringern. Aber dafür müssen wir uns bekannt machen mit unserer Physiologie von Stress, aufhören Angst davor zu haben und uns irgendwann damit anfreunden und Hand in Hand arbeiten. Wenn wir eine Stressreaktion erleben und mit Angst oder Ablehnung reagieren, verstärkt das die Stressreaktion. Dysregulation als Feind zu behandeln, der hektisch bekämpft werden muss, verstärkt den Eindruck unseres Körpers, dass er in einem Kampf ist und die Flight/Fight Energie benötigt wird. Todesangst zu haben, wenn wir in einen dissoziativen Zustand rutschen, sagt dem Körper, dass Dissoziation jetzt umso nötiger ist.
(Therapeut:innen sollten auch keine Angst haben. Ihre Patient:innen sterben nicht, die brauchen es, dass Sie ruhig bleiben für die Co-Regulation. Wer unsicher ist, kann sich fortbilden. Nur Kampf-Verhalten, mit laut werden und Hektik, ist ein sicheres Zeichen, dass was schief läuft)
Kenne dich selbst
Stressreaktionen sind in der Regel nicht gefährlich. Das ist nur dieses normale, ungemütliche Ding, was der Körper macht. Je besser wir uns auskennen, wie sich unser Körper anfühlt, wenn er gestresst ist, desto einfacher können wir es erkennen, wenn es uns passiert. Sobald wir eine Erklärung für unser Erleben haben, hat das auch schon das meiste seiner Bedrohlichkeit verloren. Es ist nicht das Trauma, was gerade passiert, nur eine Stressreaktion.
Es hilft sich ein paar Erinnerungen an stressige Erlebnisse (kein Trauma bitte, nur Stress) raus zu picken und zu schauen, wie sich das angefühlt hat. Dann könntet ihr alle Worte aufschreiben, die euch in den Sinn kommen, wenn ihr an euch selbst denkt in einer
- sicheren&sozialen Reaktion (zB ruhig, interessiert, konzentriert, spielerisch, neugierig, erholsam, Spaß, Verbindung…)
- Flight/Fight Situation (zB nervös, angespannt, wachsam, Bewegung, Bein wippen, schwitzen, Kiefer angespannt, Wut, ängstlich)
- Shutdown Reaktion (zB erschöpft, Scham, hoffnungslos, verlangsamt, keine Ideen, Starren ohne was zu sehen)
Das sind nur Beispiele. Eure Liste kann viel länger sein und Körperwahrnehmungen, Gefühle, Verhalten, Impulse und Gewohnheiten beinhalten, sowie alles was euch hilft, das zu erkennen, wenn ihr es erlebt.
Wenn wir erst mal in einem Stresszustand sind, wird das Denken schwieriger, deswegen ist es am besten, vorher über ganz eigene Anzeichen von Dysregulation zu reflektieren. Wenn wir sie dann spüren, können wir uns sagen, dass wir ganz genau wissen was das ist: es ist Stress. Und der hat seine Gründe.
Eine andere Übung….
bedient sich der Buchstaben deines Namen, um zu beschreiben, wie du persönlich dich in bestimmten Zuständen fühlst.
In meinem Fall würde ich also aufschreiben T H E R E S A und zu diesen Buchstaben brainstormen:
Sicher&Sozial: träumen, helfen, entspannt, reflektieren, entgegenkommend, sicher, anlehnen
Flight/Fight: Tachykardie , hektisch, Energie, rumlaufen, enger Hals, schreien, Angst
Shutdown: träge, Hilflosigkeit, einrollen, Rückzug, elend, Scham, Ausschaltknopf
Wenn ihr eine Liste habt, die euch in euren verschiedenen Zuständen beschreibt, schaut euch die noch mal genau an und bemerkt, dass das alles ihr seid.
Ihr könnt euch ruhig und verbunden fühlen. Ihr seid auch die Person, die mal ängstlich oder unhöflich ist und ihr seid auch diejenigen, die sich schämen und hilflos fühlen. Das seid alles ihr, nur in anderen Stresszuständen. Ihr könnt wie all das sein und es verändert sich ständig. Es gehört alles zu dem, was ihr als Person seid. Ihr seid nicht nur die freundliche Seite, es gibt gestresste und zurückgezogene Seiten und die seid ihr genauso wie das andere. Euer Name kann all diese Dinge ausdrücken, sie gehören zu euch.
Kein Stresszustand hält ewig an, der Körper reguliert sich in eine andere Richtung, wenn wir ihn lassen. Wenn uns bewusster wird, wie wir alles sein können, finden wir auch mehr Mitgefühl mit uns selbst, wenn wir in einen Zustand kommen, der sich nicht gut anfühlt. Es kommt nichts Böses von außen, was uns weh tut, es ist nur der Körper, der wieder diese Regulations-Sache durchzieht, das geht vorbei. Wir können sanft zu uns sein, solange es anhält.
Wir sind kein Stresszustand, wir haben die. Dinge, die wir in einem bestimmten Zustand denken, gehen vorbei und in einem anderen Zustand erleben wir uns auch anders. Sich daran zu erinnern ist besonders bei der chronischen Scham in Shutdown wichtig. Wir sind nur ein wenig Regulation weit entfernt davon uns besser zu fühlen.
Kenne dein DIS System
Bei einer DIS können wir die Übung mit allen im System machen, die Lust darauf haben. Ihr könntet Namen verwenden, oder aber auch getrennte Listen machen, die ihr vergleichen könnt, wenn ihr merkt, die Namen sind eher im Weg.
Verschiedene Anteile haben vielleicht verschiedene Arten Stress wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Manche zeigen vielleicht bestimmte Reaktionen öfter als andere oder wissen überhaupt nicht, wie sich ein anderer Zustand anfühlt. All sowas ist enorm wertvolle Information, die euch helfen kann, euer System besser zu verstehen: warum es manchmal zu einem Switch kommt, damit eine bestimmte Reaktion ausgedrückt werden kann, warum manche Therapiewerkzeuge (zB Entspannung) für manche Anteile einfach nicht gehen usw. Was man da über die inneren Prozesse des Systems lernen kann, ist erstaunlich.
Und auch hier kann ein Blick auf unsere gesammelten Reaktionen uns ein bisschen Einblick darein geben, wer wir als System sind, das zusammen gehört, bestimmte Erfahrungen teilt und wo jemand Dinge ausdrücken kann, die die anderen nicht kennen. Wir ergänzen uns gegenseitig.
Dem Flow folgen
Unsere Stresszustände zu erkennen, ist der erste Schritt dahin, uns mit unserer Physiologie anzufreunden. Die ist jetzt nicht mehr völlig fremd. Um unser Verständnis noch etwas zu vertiefen, brauchen wir die Position eines distanzierten Beobachters. Stellt euch vor, ihr würdet in der Strömung eines kleinen Flusses stehen, der eure aktuelle Stressreaktion darstellt. Der Fluss hat irgendwo eine Quelle. Aus der Entfernung beobachtend, könnt ihr den Strom nach oben verfolgen und die Quelle, den Trigger, ausfindig machen. Da kommt das her. Wir sind mitfühlender und sanfter mit uns, wenn wir verstehen, was all die schwierigen Gefühle ausgelöst hat. Natürlich sind wir gestresst, wenn da so ein Trigger war! Ein Realitäts-Check oder eine Diskriminationsübung könnten hier helfen.
Aber wir könnten auch einfach warten und den Körper sein Ding machen lassen. Es gibt ein Fließen von Regulation im Nervensystem. Es bleibt nicht einfach in einem Zustand, es sei denn es bekommt Informationen, die ihm das sagen. Wenn wir abwechseln, uns unsere sichere Umgebung anschauen und dann achtsam bemerken, wie unsere Physiologie sich mit dem Flow bewegt (Pendulation), dann bemerken wir bald, dass wir uns beruhigen. So ein Strom nimmt nicht endlos zu. Er versickert irgendwann.
Regulation passiert in Wellen, denen wir mit unserer Aufmerksamkeit folgen können. Es gibt Hochs und Tiefs, das ändert sich immer. Im Kleinen passiert das ständig. Wegen der großen Wellen gehen wir zur Therapie. Wenn wir lernen, den Wellen mit unserer achtsamen Aufmerksamkeit zu folgen, ist es leichter durch zu kommen. Aber dazu müssen wir uns kennen lernen, damit wir keine Angst mehr vor diesen Erfahrungen haben. Wir können unserem Körper vertrauen sich zu regulieren und uns aus einem Zustand raus zu bringen, der sich nicht gut anfühlt. Unser Nervensystem kann unser Freund werden.
Mehr Übungen zum Kennenlernen gibt es in Deb Danas ‘Polyvagal Exercises for Safety and Connection’
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Stina says
Liebe Theresa,
ich wollte dir Tausend Dank sagen für deine wunderbare Seite. Ich bin zwar nicht „klassisch“ DIS, aber leide an starken Ängsten und dissoziiere dann teilweise, was so in der klassischen Angsttherapie nicht berücksichtigt wird und meine bisherigen Ts auch ratlos zurück ließ… Ich denke aber, es sind nur Begriffe, jeder ist anders und dennoch teilen wir sicher einiges. Deine Seite hilft mir selbst sehr, einige Reaktionen besser zu verstehen oder anders zu betrachten und ist eine enorme Bereicherung für meinen Prozess! Danke!