Scham war schon immer ein großes Problem in meinem Leben und ist grundsätzlich charakteristisch bei Komplextrauma und DIS. Deswegen habe ich schon mehr über Scham geschrieben, als über jede andere Emotion.
In meinem Ringen mit Scham ist es wertvoll geworden, mir anzuschauen, was in den spezifischen Situationen passiert, wo sie auftaucht und zu verstehen, warum sie da ist und wodurch sie ausgelöst wurde. Es kann da feste Muster geben, die sich über viele Situationen hinweg wiederfinden lassen. Ich werde die Muster mit euch teilen, die ich am meisten erlebe. Die könnten euren eigenen ähneln oder euch inspirieren, euch eure näher anzuschauen. Wenn wir das erst mal durchschauen, ergeben sich daraus auch sinnvolle Interventionen.
Gesunde Scham:
Wir spüren Scham, weil wir uns fehl-verhalten haben und jemand anderes, die Regeln der Gesellschaft oder unser eigenes schlechtes Gewissen melden uns zurück, dass wir inakzeptabel sind, wenn wir so bleiben. Das kann auch auftreten, wenn Anteile sich nicht gut angepasst verhalte haben. In diesem Fall können wir daran arbeiten, unser Verhalten zu ändern, sodass wir angepasst sind, oder wir entscheiden, dass wir uns abseits stellen als gesellschaftlich Verstoßene und stolz darauf sind.
Scham als Angst davor ausgeschlossen zu werden:
Das kann eine Spielart gesunder Scham sein. Von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, war mal das schlimmste, was Menschen passieren konnte. Scham führt zu sozialem Verhalten, das uns einen Platz in der Gruppe sichert. Sie kann aber auch in Trauma und alten Erfahrungen von Vernachlässigung verwurzelt sein. Das erkennen wir, wenn Angst vor Strafe, Ablehnung oder Verlassen werden unser Scham-Erleben dominiert. Dann ist unser Gefühl nicht in der Gegenwart geerdet und andere Menschen verstehen unsere Scham überhaupt nicht, weil sie nie vorhatten uns auszuschließen.
Scham aufgrund unfairer Vergleiche:
Eine Menge Scham entsteht, wenn wir uns mit Menschen vergleichen, die in völlig anderen Umständen aufgewachsen sind, Zugang zu ganz anderen Ressourcen haben und eine vollkommen andere persönliche Geschichte. Wir suchen uns gewöhnlich deren Bestes aus, um es mit unserem Schlechtesten zu vergleichen. Vergleichen ist menschlich, aber wir behandeln uns hier nicht fair. Meist vergleichen wir, wenn wir unsicher sind und nach Bestätigung suchen. Dem könnte man auch zielführender begegnen.
Scham darüber anders zu sein:
Wir sind anders als andere Menschen. Es hilft da auch nicht sehr, uns zu sagen, dass ja alle Menschen anders sind. Nicht alle Menschen haben Anteile, die nach Vorne kommen und Dinge tun, die uns eingehen lassen vor Scham. Akzeptanz ist eine große Aufgabe. Es hilft zu wissen, dass wir nicht die einzigen sind, die anders sind. Die meisten Menschen denken, dass sie mit ihrem Erleben alleine sind, obwohl das nicht stimmt. Diese Art von Scham löst sich am besten in Gemeinschaft mit ähnlichen Menschen. Mehr
Scham darüber nicht normal zu sein:
Unser Leben war nie normal und wegen unserer Symptome ist es das auch heute nicht. Vielleicht wird es nie ‘normal’. Ein bisschen spielt da der unfaire Vergleich mit rein, aber wir sind auch konfrontiert mit Leid, kaputten Träumen und der Herausforderung, Sinn in einem Leben zu finden, das weniger ist, als wir uns gewünscht hätten. Wenn wir uns den Bedürfnissen und Wünschen hinter der Scham zuwenden, eröffnen sich Möglichkeiten einen Weg zu finden, der für uns funktioniert, auch wenn er nicht der Norm entspricht.
Scham, die Verletzliches beschützt:
Es ist ganz klassisch die Aufgabe von Scham, uns davor zu beschützen verletzt zu werden, weil wir Verletzlichkeit zeigen, wo Menschen sie missbrauchen könnten. Eine lange Reihe von Trauma Erlebnissen hat uns beigebracht, dass dieser Schutz fürs Überleben notwendig ist. Später im Leben ist es uns vielleicht nicht mehr möglich, sichere Situationen oder Personen zu erkennen und wir bleiben in der Scham, damit wir uns nicht zu weit öffnen. Es braucht Geduld und neue Erfahrungen um zu lernen, dass Verletzlichkeit manchmal sicher sein kann.
Scham als Reaktion auf Freundlichkeit
Manchmal sind Menschen zu lieb zu uns. Die Erfahrung passt nicht mehr ins Stresstoleranzfenster. Die Freundlichkeit, die sie versuchen uns zu zeigen, wird dann zur Überforderung und kann sogar zu einem Beziehungsbruch führen. Daraus resultiert ein vermehrtes Gefühl von Scham. Es hilft, wenn man weiß, dass das passieren kann. Dass auch gute Dinge überfordern und sich dann wie Trauma anfühlen. Dann können wir anderen sagen, dass sie langsamer machen müssen oder sich auf eine Art ausdrücken, die wir einfacher annehmen können.
Scham als Reaktion auf Misattunement in der Vergangenheit
Eine Theorie zu chronischer Scham erklärt, dass diese eine Folge von Entwicklungstrauma und Misattunement ist. Unsere Bindungspersonen waren nicht in der Lage, unsere Bedürfnisse zu erkennen oder konnten/wollten da nicht angemessen drauf reagieren, oder alles zusammen, was zu einem Bruch in der Beziehung führt, der nie repariert wurde und der zu Scham führt. Scham kann hier als Beziehungswunde verstanden werden.
Scham als Reaktion auf Misattunement heute:
Weil wir alle nur Menschen sind, werden wir oft Situationen erleben, in denen andere nicht merken, wie es uns geht und was wir gerade brauchen und nicht auf hilfreiche Art und Weise reagieren, was sehr viele Gründe haben kann. Solche fehlende Abstimmung aufeinander führt zu Scham. Zu viel Freundlichkeit wäre ein spezielles Beispiel dafür. Die andere Person merkt nicht, dass sie uns überfordert. In anderen Fällen sind sie vielleicht verletzend oder nachlässig. Das passiert oft, wenn Menschen gestresst oder zu sehr mit sich oder anderen Dingen beschäftigt sind. Das kann auch anders rum sichtbar werden, unsere Scham darüber, wenn wir uns nicht gut auf die andere Person einstellen könne. Über sowas kann man reden.
Internalisierte Scham:
Vielleicht wurde uns ständig gesagt, dass etwas mit uns nicht stimmt und wir haben diese Überzeugung internalisiert. Das kann auch in Form einer konditionierten Reaktion auftauchen. Jedes Mal, wenn uns etwas an die vergangene Situation erinnert, taucht die Scham auf, weil wir innerlich automatisch die Scham Botschaft noch mal hören. Es hilft, sich da noch mal genau anzuschauen, wer uns da beigebracht hat, dass wir uns schämen sollen. Das ist vielleicht nicht die zuverlässigste Quelle für Informationen.
Scham Anteile wurden getriggert:
Manchmal wurde die Scham zu einer Trauma Situation abgespalten und wenn das getriggert wird, kommt es in überwältigender Intensität hoch. Und manchmal treffen wir auf innere Anteile, die die Scham Botschaft aufgegriffen haben, die wir so oft gehört haben, und diese endlos wiederholen. Es ist möglich, mit beschämenden Anteilen zu verhandeln und beschämte Anteile zu orientieren und liebevoll einzubinden.
An beschämende Menschen erinnert werden:
Schon Kleinigkeiten können uns manchmal darüber verwirren, wer unser Gegenüber eigentlich ist. Wir verwechseln sie mit Menschen, die uns in der Vergangenheit beschämt haben und reagieren mit Scham, selbst wenn die reale Person heute gar nichts falsch gemacht hat. Das ist ein Problem von Übertragung und sowas kann man lösen, wenn man darüber redet. Es passiert oft, dass wir von Ts beschämende Botschaften erwarten, selbst wenn die nichts als Akzeptanz zeigen.
Scham um unser Bild von anderen zu schützen:
Wenn wir es brauchen, dass Bindungspersonen oder andere Menschen sicher sind, um zu überleben oder um zu vermeiden verlassen zu werden, dann nehmen wir selbst Schuld und Schamgefühle auf uns, um Situationen zu erklären, wo sie es nicht sind. Wir werden die Fehler bei uns selbst finden, um das Bild zu beschützen, das wir von ihnen haben, weil das einfacher ist, als sie zu verlieren. Es lässt sich einfacher damit leben der Teufel unter Heiligen zu sein als zu wissen, dass man die Unschuldige unter lauter Teufeln ist. Wenn wir das langfristig nicht lösen, wird uns das in ungesunden Beziehungen gefangen halten, weil wir nie lernen, andere Menschen und ihr Handeln in Frage zu stellen und statt dessen nur uns selbst hinterfragen.
Scham als Schutz vor Hilflosigkeit:
Wie wir hier erklärt haben, ist es oft einfacher Schuld oder Scham zu fühlen, als sich einzugestehen, dass man machtlos war. Wenn es unsere Schuld war, weil etwas mit uns verkehrt ist und wir uns weismachen können, dass wir alles verdient haben, dann sind wir nicht hilflos und da ist keine unsagbare Ungerechtigkeit. Es ist hart und traurig zu realisieren, dass Menschen uns nie geliebt haben, dass sie uns Unrecht getan haben und dass wir keine Möglichkeit hatten, das zu verhindern. Es war nicht unsere Schuld.
Herrenlose Scham aufgreifen:
Viele Täter:innen weigern sich, sich für ihr Verhalten zu schämen. Die Situation schreit nach gesunder Scham auf ihrer Seite, aber sie weigern sich, diese anzunehmen und selbst zu spüren. Dann steht die dissoziierte Scham quasi herrenlos im Raum. Und Opfer neigen dazu, sie dann auf sich zu nehmen. Es ist ziemlich schwierig, Scham einfach so im Raum stehen zu lassen, bis die wahren Besitzer:innen sie zu sich nehmen und wir sind es oft schon gewöhnt Scham zu sammeln, also nehmen wir diese auch mit. Wenn wir verstehen, dass das passiert ist, können wir sie symbolisch zurück geben. Die verdienen es, die zu haben. Wir machen es ihnen nicht noch leichter.
Wahrgenommene Scham aufgreifen:
Sensible Menschen spüren bei anderen manchmal Unsicherheiten oder Scham und wenn wir das ohnehin schon gewohnt sind herrenlose Scham einzusammeln, nehmen wir die auch noch mit. Dann schämen wir uns dafür, wenn jemand anderes komisch mit uns umgeht und fühlen uns, als wäre mit uns was nicht richtig. Wenn wir dazu neigen die Scham der Anderen auf uns zu nehmen, hilft es sich regelmäßig zu fragen: Wessen Gefühl ist das gerade?
Scham darüber den Erwartungen nicht zu entsprechen:
Wir werden andere Menschen ab und zu enttäuschen und sie werden uns spüren lassen, dass sie enttäuscht oder sauer sind. Für viele Traumatisierte ist das ein Zeichen von Gefahr und wir unterwerfen uns automatisch, um die Situation zu lösen. Das sind keine guten Beziehungstools auf Augenhöhe und vielleicht brennen wir irgendwann aus, weil wir versuchen unmögliche Erwartungen zu erfüllen. Es ist nötig Grenzen zu formulieren und klar zu sagen, was man von uns erwarten kann und wo es ein Limit gibt.
Scham darüber inneren Erwartungen nicht zu entsprechen:
Oft schämen wir uns, weil wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen. Dann könnte es an der Zeit sein, unsere Ansprüche zu prüfen. Ein wichtiger Schritt dabei ist, uns zu fragen, wo die Ansprüche her kommen. Das sind oft Ansprüche von Täterpersonen oder Menschen, die ihnen gegenüber loyal sind und sie selbst scheren sich da nicht drum oder sie sind ungesund, weil sie es versuchen. Dann wäre es gut zu verhandeln, ob der eigene Weg wirklich so aussehen soll oder ob wir für uns selbst bessere Maßstäbe finden.
Scham nicht zu sein, wie andere uns wollen:
Das geht über enttäuschte Erwartungen hinaus. Andere Menschen haben manchmal ein inneres Bild von uns und verlangen, dass wir genau so sind, wie sie das wollen und brauchen und wenn wir das nicht sind, machen sie einen Aufstand. Manchmal wurden wir von genau diesen Menschen erzogen, die uns nicht geholfen haben zu sein, wer wir wirklich sind, sondern uns nur gesagt haben, wer wir werden müssen. Scheiß auf die. Das hier ist unser Leben und wir können sein wer und wie wir wollen. Die können sich ihr Ideal von uns sonst wo hin stecken. Auf Meinungen scheißen ist ein Lösungsansatz für Scham. Und kein schlechter.
Scham darüber nicht zu reagieren, wie andere das wollen:
Das ist wesentlich subtiler. Viele Menschen haben eine Agenda, wenn sie mit uns reden. Selbst wenn sie nicht direkt manipulativ sind, sagen und tun sie doch Dinge, um einen Effekt zu erzielen, vielleicht eine bestimmte emotionale Reaktion. Wenn wir in einem manipulativen Umfeld aufgewachsen sind, werden wir Schuld und Scham spüren, wenn wir nicht so reagieren, wie wir das sollen. Ihnen nicht die Kontrolle über uns zu geben, fühlt sich dann an, als würden wir etwas falsch machen. Tun wir nicht. Was auch immer wir fühlen ist richtig, ganz egal ob das ihrem Plan entspricht oder nicht. Das sind unsere Gefühle und wir müssen uns für die nicht rechtfertigen.
Scham als Gateway Emotion:
In manchen Fällen trauen wir uns nicht, die meisten Gefühle zu spüren, weil die gefährlich erscheinen. Wir haben gelernt, dass es nicht sicher ist, die zu haben. Scham ist ziemlich sicher. Täter:innen bestrafen Scham in der Regel nicht. Das bedeutet, dass es sein kann, dass wir erst einmal Scham fühlen, wann immer irgendein Gefühl hoch kommt. Das ist für uns alles eins und in dem Fall eben Scham. Das geht auch mit anderen Gefühlen, manche Menschen werden traurig, sobald da ein Gefühl ist, aber Scham gehört zu den sichersten Gateway Emotionen. Wenn wir uns Zeit nehmen und genau hin spüren, bemerken wir mit der Zeit auch die Gefühle, die dahinter stehen. Es braucht Übung, um zu bemerken, dass da mehr passiert als Scham, und meist auch was völlig anderes als Scham.
Diese Liste ist offensichtlich nicht vollständig. Ich wollte nur zeigen, was für eine Vielzahl von Gründen es für Scham geben kann. Wenn wir unsere eigenen Muster besser kennen lernen (und die Arbeit kann ich euch nicht abnehmen), wird es einfacher darüber zu reflektieren und Realitäts-Checks zu machen. So werden hoch-spezifische Interventionen möglich. Nicht alle Scham lässt sich auf die selbe Weise auflösen. Je besser wir darin werden zu identifizieren was los ist, umso einfacher wird es.
Jarka says
Danke dir von Herzen für die umfangreichen und rückhaltgebenden Informationen!!@@Ich finde deine Worte zu einem wichtigen Wendepunkt in meinem Leben!!!Danke dir und von Herzen das Beste für dich!!!