Host eines Systems zu sein ist ein schwieriger Job. Nicht auf die selbe Art schwierig, wie die Trauma-Erinnerungen zu tragen, aber auf eine ganz eigene Art schwierig. Zwischen Alltag meistern, dem System, Therapie und dem Umgang mit uns selbst, fühlt man sich leicht unzureichend und einfach niemals gut genug. Und es stimmt, wir werden nie perfekt sein. Aber ihr werdet feststellen, dass wir am Ende sehr wahrscheinlich doch gut genug sind.
Alltag
Es geht eben nicht nur darum Arbeit und Hausarbeit hin kriegen. Oft geht es um chronische Schmerzen, andere PTBS Symptome, unsere eigenen Gefühle, die ganze notwendige Selbstfürsorge, schwierige Beziehungen (oder, ganz ehrlich, auch schlicht nur am Ball bleiben mit normalen Beziehungen!), Armut, die Kinder, die kranke Katze, das Geschenk für Tante Polly besorgen… Ihr kennt das! Das ist eine Menge. Und das meiste davon macht keinen Spaß.
Vielleicht seid ihr wie wir und macht euch auch noch zusätzlich Druck, alles ganz genauso zu machen wie andere Leute (oder besser natürlich) und Aufgaben sofort perfekt richtig zu machen. Wir neigen zu Blindheit für die Tatsache, dass alles, was wir tun, für uns um einiges schwieriger ist als für Menschen, die in Sicherheit aufgewachsen sind. Wenn wir die selbe Aufgabe verrichten, hat es uns mehr gekostet. Und statt das anzuerkennen, mit Selbst-Lob oder einer Belohnung, wischen wir das einfach vom Tisch, als sei es nichts besonderes. Zum Kuckuck noch mal, das IST besonders! Wir verdienen Cheerleader und Feuerwerk dafür. Es ist möglich zu lernen, uns das selbst zu gewähren.
Vielleicht bin nur ich das, aber ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, wo es nicht erlaubt war, Fehler zu machen. Es wurde erwartet, dass ich sofort weiß, wie man Sachen macht, dass ich nie irgendwas üben muss und definitiv niemals Hilfe brauchen darf. Das sind unmögliche Erwartungen. Selbst damals hat das bei genauer Betrachtung nicht geklappt. Was Neues zu lernen, und da geht es auch um das Wissen und die Fertigkeiten, die wir für den Alltag brauchen, nimmt Zeit in Anspruch. Das geht mit Versuch und Irrtum einher, mit Fehler machen und daraus lernen. Mit Menschen nach dem richtigen Weg fragen, Youtube Tutorials schauen und andere um Hilfe bitten.
Wenn wir an der unnatürlichen und unmöglichen Erwartung festhalten, die wir verinnerlicht haben, wird das Leben unerträglich hart. Wenn das der Standard ist, den wir versuchen zu erreichen, dann ist es kaum verwunderlich, dass wir niemals genug sind. Der Maßstab ist kaputt. Wir brauchen einen neuen. Einen Realistischen. Wir dürfen unperfekt sein. Das ist die einzig wahre Art zu sein. Wenn wir uns von ungesunden Erwartungen befreit haben, können wir unseren eigenen, realistischen Maßstab formulieren. Und plötzlich sind wir gut genug, einfach so. Für uns selbst, nicht für irgendwelche Anderen. Und das ist in der Regel auch gut genug für alle, die wichtig sind.
Das System
Host sein heißt sehr oft, dass wir neben der Verantwortung für den Alltag auch das System managen müssen.
Das bedeutet, wir sind in mehr oder weniger engem Kontakt mit verletzten Anteilen, die viel über Trauma wissen und die sich für uns manchmal überwältigend anfühlen können oder beginnen uns mit ihren Bedürfnissen oder Erinnerungen zu fluten. Sich um diese Anteile zu kümmern, ist eigentlich ein Vollzeitjob. Sie sind oft nicht in Raum und Zeit orientiert. Ihre Bedürfnisse können tief wie ein Abgrund erscheinen. Die Forderungen nach Aufmerksamkeit, Fürsorge und Co-Regulation bringen uns in eine mütterliche Rolle für unsere Anteile und können das Gefühl erwecken, dass wir nichts zu geben haben. Zumindest niemals genug.
Unsere Kindheit ist vorbei und wir können sie nicht wiederholen, um das wieder gut zu machen, was uns angetan wurde. Um manche Dinge muss man trauern. Der beste Weg unseren verletzten Anteilen zu helfen, besteht darin, die mit der Gegenwart in Verbindung zu bringen. An diesem Ort kann Bedürfnissen nämlich begegnet werden, hier können wir uns unsere eigenen glücklichen Momente schaffen und die Vergangenheit betrauern. Im Heute können wir Selbstfürsorge anbieten. Die Bedürfnisse von Innenkindern, die gut geerdet sind, verändern sich. Sie sind nicht mehr endlos und es ist nicht mehr unmöglich dem zu begegnen. Wir müssen keine Superheld:innen sein, um besser für sie zu sorgen als je jemand vor uns. Im Heute können unsere Bemühungen ankommen und sie machen einen Unterschied. Vielleicht nicht die Bemühung von einem Tag alleine, aber das summiert sich mit der Zeit und langfristig ist das alles, was benötigt wird. Es stellt sich als gut genug heraus.
Vielleicht gibt es auch einen anderen Konflikt mit Anteilen im System, die versuchen unser Handeln durch Kritik, Strafe oder Beschimpfungen zu kontrollieren. Nichts, was wir tun, ist denen je gut genug. Wann immer wir Schwäche zeigen oder Bedürfnisse oder Anzeichen von Erschöpfung, wird der Druck erhöht. Das kann sich anfühlen, als wäre da immer noch der Schatten von Autorität von strafenden Eltern, ohne dem entkommen zu können, also bleiben wir in unserem Muster von Beschwichtigung und/oder Überkontrolle und akzeptieren, dass wir für sie nie gut genug sein werden. Misshandlungen auszuhalten ist ein altes Muster, mit dem wir uns gut auskennen, aber es ist nicht der Weg, um gut genug zu werden.
Was diese Anteile brauchen, ist nicht eine perfekte Host-Person, selbst wenn sie das glauben. Auch sie müssen besser mit der Realität verbunden werden. Dann könnten sie bemerken, dass die Täter gar nicht da sind; perfekt sein ist nicht mehr nötig. Die ganze Welt macht Fehler, bügelt sie wieder aus und macht dann weiter. Keine Gefahr fürs Überleben in Sicht. Es passiert nichts schlimmes, wenn man nicht perfekt ist. Als erwachsene Hosts können wir uns für diese Wahrheit stark machen und die Realisation davon in unseren Anteilen fördern. Wenn ihre Warnungen irgendwann in der Realität verwurzelt sind, können sie hilfreich sein und uns vor unnützen Fehlern bewahren. Aber dieses Gefühl, dass es unmöglich ist es ihnen recht zu machen, verschwindet. Selbst frühere Bestrafer werden anerkennen müssen, dass wir Dinge gut genug hinkriegen. Nicht perfekt, aber gut genug.
Therapie
Das Problem mit dem ANP sein ist, dass wir quasi per Definition getrennt sind von anderen Anteilen. Dissoziative Barrieren erschweren die Kommunikation. Dazu kommen Amnesien, die uns davon abhalten mehr zu wissen und da oben drauf kommt noch, was die Fachliteratur ‘Phobien’ nennt. Die sind wie eine extra Lage von Schutz, die uns davon abhält, die Existenz von Anteilen zu erforschen, von Trauma und Erinnerungen und dieser verrückten Idee, dass das alles uns passiert ist. Und sie bestehen aus Angst. Großer Angst. Wär ja sonst zu einfach.
Ts können uns anleiten, uns dem inneren Erleben zu stellen, unsere Anteile und auch unsere Vergangenheit kennen zu lernen, aber in allem, was wir da tun, werden wir gegen diese Phobien arbeiten müssen, gegen die Lagen von Angst, die uns davon abhalten, mehr zu wissen. Das ist unheimlich schwer. Um Überforderung zu vermeiden ist es normal, nur ganz kleine Schritte zu gehen. Tatsächlich die kleinsten Schritte, die wir finden können. Und dann kann das immer noch überfordern oder es passiert plötzlich zu viel auf einmal als Reaktion auf einen kleinen Schritt.
Das kann sich anfühlen, als würden wir ewig brauchen. Wir denken vielleicht, dass es uns schon längst besser gehen müsste und warum sind wir nicht schon etliche Phasen weiter!? Möglicherweise machen wir uns runter, dass wir nicht hart genug dran arbeiten oder nicht gut genug sind oder einfach zu blöd, um das alles zu verstehen. Aber die Wahrheit ist, dass der Weg schwierig ist. Er ist unglaublich komplex und voller Stolperfallen und unerwarteten Krisen.
Die meisten Systeme, die wir so auf Social Media sehen, zeigen nur einen kleinen Teil von dem, was wirklich abläuft. Manche sind selbst noch so tief in Vermeidung, dass sie ihre Probleme sogar vor sich selbst verstecken, manche gehen einfach nicht mit ihren Problemen hausieren und behalten sie für sich. Manche leben tatsächlich ein stabiles Leben, aber wenn man fragt, erfährt man, dass sie Jahrzehnte daran gearbeitet haben. Manche Leute halten mich für ein Vorbild, aber wir kennen nicht mal die Hälfte unseres Systems und ich ringe sehr intensiv mit der Angst davor mehr zu erfahren. Ich bin auch nur ein Mensch.
Was ich versuche zu sagen ist, dass der langsame Fortschritt normal ist. In jedem Moment, wo wir uns hinsetzen und unser bestes versuchen, sind wir Held:innen. Es gibt da kein Drehbuch, das uns sagen kann, wie man heil wird. Es gibt auch keine Deadline, bis wann wir das raus gefunden haben müssten. Es gibt keine Anleitung, kein Lehrbuch und kein standardisiertes Protokoll. Wir tun einfach unser bestes. Und manchmal machen wir gar nichts, um unsere Situation zu verbessern, und wisst ihr was? Das ist auch ok. Niemand kann ständig gegen die Angst ankämpfen und niemand kann sich gedanklich ständig mit Trauma beschäftigen. Da wird man ja verrückt. Wir sind nicht besser und nicht schlechter als alle anderen, die sich abmühen einen Weg durch das alles zu finden. Es versuchen, wenn wir es versuchen können, ist genug. Nichts tun, wenn wir nichts tun können, ist genug. Ich hab noch nie irgendwen getroffen, die sich nicht durch den größten Teil dieses Prozesses durch gewurschtelt haben. Das ist absolut gut genug. So geht das eben. Wir entdecken nicht irgendwann auf wundersame Weise ‘Den Richtigen Weg’. Das hier ist alles, was es gibt. Durchwurschteln ist gut genug.
Wir selbst
Ein Lied mit einem Titel, den ich schon lange wieder vergessen habe, fragt „What does it take to be so hard on yourself?“ [Übersetzung etwa: Was kostet es dich, so hart zu dir selbst zu sein?]. Ist es nicht wahr, dass wir oft härter mit uns selbst umgehen, als wir je zu anderen Menschen wären? Wir glauben tief drinnen, dass wir nicht geliebt werden können, wenn wir nicht Gott-gleich in allem sind. Aber wir wollen doch die Liebe und Gemeinschaft mit Menschen, und selbst Mensch zu sein, ist der sicherste Weg sie zu bekommen. Wir dürfen mit unseren Gefühlen ringen; alle Menschen tun das. Wir dürfen Bedürfnisse haben, ich würde sogar dazu ermutigen. Alle gesunden Menschen laufen mit Bedürfnissen rum.
Selbst Hosts dürfen ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse haben. Und wir dürfen uns die Zeit nehmen, uns darum zu kümmern. Hosts dürfen Pausen machen. Wir dürfen Tage haben, wo wir nicht dem System hinterher rennen und Wünsche erfüllen, und dann dürfen wir immer noch Freizeit haben für Selbstfürsorge und einfach nur abhängen. Unsere Wünsche und Bedürfnisse müssen sich nicht in Luft auflösen, wenn wir uns erst mal um die Wünsche und Bedürfnisse unserer Anderen gekümmert haben. Wir sind wichtig. Unser Wohlergehen ist wichtig. Uns gut um uns zu kümmern stellt sicher, dass wir uns gut um alles andere kümmern können. Ich weiß, wir haben gelernt alles mögliche durchzustehen, aber heute ist es wichtig, wie wir uns fühlen, während wir was schaffen. Es ist ok sanft mit uns umzugehen. Hart zu sein kostet uns so viel mehr.
Wir können unser Herz weicher für uns selbst machen, indem wir unser Menschlich-Sein beobachten und als normal akzeptieren. Über-Mensch zu sein kann nicht erwartet werden. Wir sind nicht perfekt, wir machen Fehler und brauchen Vergebung. Wir haben Bedürfnisse und Gemütszustände, die nicht ideal sind, aber sie sind real. In diesem ganzen Leben können wir nur echt sein und für diese Realität Gnade erleben. Es ist ok. Nur ein Mensch sein ist ok. Etwas gesundes Mitgefühl mit uns selbst kann uns diese Wahrheit offenbaren. In unserem menschlichen Leben ist ‘nur ein Mensch sein’ genug. Wenn wir lernen, uns in dieser Haltung von Gnade und Sanftheit zu bewegen, können wir außergewöhnlich gute Hosts, Partnerpersonen, Eltern, Freund:innen und Teammitglieder sein.
Wir werden nie perfekt sein. Die gute Nachricht ist, dass das gar nicht nötig ist. Weder im Alltag noch für unser System. Nicht auf unserem Weg zur Heilung und nicht mal für uns selbst. Echt sein und da sein so gut wir können, ist genug. Es ist tatsächlich gut genug.
Nini says
Danke, danke, danke für diesen Text!!
Simone says
Danke, dass Du Deine Gedanken und Dein Erleben mit uns teilst.
Anue says
Das berührt unser Herz. Danke.
Friederike says
Hallo Theresa, danke für diesen Artikel. Besonders “angeguckt” haben mich Formulierungen wie zum Beispiel: “Und manchmal machen wir gar nichts, um unsere Situation zu verbessern… Und das ist auch ok.” oder “Nichts tun, wenn wir nichts tun können, ist genug.” “Und dann dürfen wir immer (kursiv gesetzt) noch Freizeit haben.”
Es tut gut, wenn einem von Jemand anderem eine “Erlaubnis” gegeben wird, die man sich selbst noch nicht geben kann. Bis man irgendwann dahin kommt, sich diese Erlaubnis selbst zu geben (was vermutlich “effektiver” ist).
LG, Friederike
Ute says
Liebe Theresa,
Dein Blog, Deine Artikel und Beschreibungen sind so viel mehr als eine Hilfeseite oder Selbsthilfe. So viel mehr!! Ich werde es nicht in Worte fassen können welche Bedeutung es für mich hat diesen / Euren Blog gefunden zu haben und welche Dimension das für mich (noch kein wir) bedeutet. Ich habe Krokodilstränen der Erleichterung geweint, dass endlich jemand in der Lage ist das so gut und genau zu beschreiben, was ich vergeblich versuche anderen irgendwie verständlich zu machen. Deine Seite ist nicht nur Hilfe und Unterstützung Theresa. Für viele wird die Genauigkeit mit der Ihr beschreibt und Dinge auf den Punkt bringt Rettung sein. Damit andere endlich verstehen können. Mein Dank kann nicht gross genug ausfallen. Theresa… Ihr beantwortet alle Fragen. Das hier, der Blog ist Wahnsinn, so besonders und so bedeutend für alle, die mit dergleichen Katastrophe des nichts und gleichzeitig viele sein und einem verlorenen Selbst zu kämpfen haben. Ganz ganz grosse Klasse!!!
Theresa says
Das meiste habe auch ich aus Büchern gelernt. Da sind die Infos weiter verstreut und vielleicht schwieriger zu verstehen, aber ich baue auch nur auf die Errungenschaften von anderen Menschen auf und auf das Wissen, das mir TherapeutInnen vermitteln. Es ist mein Privileg zu sowas Zugang zu haben und das teilen zu können.