Unsere eigene Integration beginnt im Thinking Mind unserer Therapeut*innen.
Ich habe das vor ziemlich genau 3 Jahren so geschrieben, als es um die therapeutische Beziehung ging. Je weiter ich mich in späte Phasen der Therapie bewege, desto mehr halte ich es für eine der tiefgründigsten Aussagen, die ich je formuliert habe. Seht mir deshalb dieses eine Mal nach, dass ich mich selbst zitiere.
Identität und Würde
Menschen haben die eigentümliche Art, ihre Identität durch Beziehungen zu finden und in dem, was andere Leute ihnen zurückspiegeln. Aktuell verwendete Theorien erklären, dass kleine Kinder etwas tun und dann die Reaktion auf ihre Handlung aus ihrem Umfeld erleben, in der Regel durch ein Gegenüber, und diese Reaktion bewirkt ein inneres Erleben, das ihnen zeigt, wer sie sind, eine Interaktion nach der anderen. Identität formiert sich aus den Millionen kleiner Reaktionen und aus dem, was wir über uns selbst sehen können, in dem, wie andere uns anschauen. Was wir über uns selbst glauben, hängt in hohem Maße davon ab, was für eine Rückmeldung wir von anderen Leuten bekommen. Deswegen klappt ‘fake it til you make it’ manchmal.
Identität und Würde sind eng miteinander verbunden. Wenn wir angeschaut werden als etwas Kostbares und Wertvolles, entwickeln wir ein Gespür für Selbst-Wert. Unsere Rolle in einer Gemeinschaft bewirkt in uns etwas, das bei unserer Wahrnehmung von Würde eine Rolle spielt. Das Bedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit wird ausbalanciert mit unserem Bedürfnis nach eigenen Entscheidungen (Autonomie) und danach, sich selbst auszudrücken. Das ist der Ort, wo Identität und Würde sich treffen. Wir haben die Chance, wir selbst zu sein und für uns selbst zu entscheiden, während wir auch von einer Gemeinschaft gehalten werden, die uns daran erinnert, wer wir sind. Denkt vielleicht an Synthese. Eine Person sein, die anders ist als andere, aber mit ihnen verbunden; ein Schlüsselelement von Integration. So können Menschen gesund wachsen.
Entmenschlichung und Desintegration
Chronische frühe Traumatisierungen wie solche, die zu einer DIS führen, sind zerstörerisch. Wenn Täter*innen uns anschauen, sehen sie weniger als ein echtes menschliches Wesen. Sie sehen ein Ding, das benutzt werden kann, benutzt werden sollte. Manche sagen, dass es nötig ist, die eigene Menschlichkeit und Würde zu dissoziieren, um andere Menschen in dieser Weise verletzen zu können. Sonst würden sie diese Würde auch in uns erkennen und diese Realisation würde sie stoppen. Wenn wir sie ansehen und die Art, wie sie uns ansehen, können wir sehen, dass wir in ihren Augen weniger sind als Menschen. Nicht wert, menschlich behandelt zu werden. Unser Gefühl von Zugehörigkeit und Verbindung geht im selben Moment verloren, in dem uns unsere freie Entscheidung genommen wird. Jemand anderes definiert dann, wer wir jetzt sein sollen. Das sind schwere Würdeverletzungen.
Beständige Rückmeldung dieser Art von anderen Menschen beschädigt, wie wir uns selbst erleben. Das kann nicht mit anderen Erfahrungen zusammen integriert werden, also trennen wir es ab. Man nimmt uns die Chance auf eine gesunde Identität und wir bleiben mit Fragmenten zurück. Jemandem die Menschlichkeit zu versagen, bedeutet, ihre Würde zu leugnen.
Entmenschlichung ist ein Merkmal, das sexualisierter Gewalt und der langfristigen Misshandlung von Kindern innewohnt. Die Folgen sind verheerend.
Rückkehr zur Menschlichkeit
Werkzeuge für die Traumatherapie sollen dazu dienen, Flashbacks zu reduzieren. Sie reichen kaum heran an die Tiefe von Leid und Versehrheit, die Würdeverletzungen in uns zurücklassen. Therapeut*innen sind herausgefordert, Heiler*innen zu werden. Dazu müssen sie mehr in die Therapie mitbringen, als ihre Therapiewerkzeuge. Sie müssen sich selbst mitbringen.
Manche würden darauf bestehen, dass es Empathie braucht und vielleicht stimmt das in gewissem Maße auch. Das ist auch, wie Therapeut*innen verletzt werden, wenn sie mit dieser Art von Trauma arbeiten. Ich würde nahelegen, dass eine Mischung aus tief wahrgenommener persönlicher Menschlichkeit und Mentalisierung den Kern von ‘Re-Humanisierung’ ausmachen. Die drücken sich in Mitgefühl aus, sind aber mehr als Mitgefühl. Heilung findet sich darin, gesehen, erkannt und realisiert zu werden als die, die wir sind. Wenn wir unsere Therapeut*innen anschauen, müssen wir jemanden sehen, die uns als menschliche Wesen erkennen, mit Würde und allem. Wir sehen das Spiegelbild dessen, wer wir wirklich sind, in dem, was sie sehen, wenn sie uns anschauen. Jemand mit Menschlichkeit schaut uns an und sieht Menschlichkeit und das erneuert etwas in uns, das uns sagt, wer wir sind. Erkannt und realisiert zu werden als die, die wir sind, hat sowohl einen Einfluss auf unsere Identität als auch auf unsere Wahrnehmung von Würde.
Streng standardisierte Verfahren, bei denen es nicht gelingt, das Individuum zu sehen, geschweige es angemessen zu behandeln, erreichen nicht die Tiefe von Würdeverletzungen, sie verstärken sie möglicherweise noch. Mehr als eine App oder ein Werkzeug brauchen wir einen menschlichen Blick, der uns sicher hält und ehrt, wer wir sind. Unser Gegenüber hält unsere Würde sicher für uns fest, bis wir sie selbst annehmen können.
So ein Blick kann schwer auszuhalten sein und vielleicht wehren wir uns gegen die Menschlichkeit unseres Gegenübers, um sie zu vermeiden. Die bringt den Schmerz von Entmenschlichung auf eine Art an die Oberfläche, die wir kaum kennen, weil Würde vorher nie eine Option war.
Integration
Unsere Therapeut*innen sammeln die Bruchstücke von Eindrücken, wie sie uns erleben und halten sie in ihrem Inneren beisammen. Sie sind mit uns durch die Stabilisierung gegangen, haben mit uns Ressourcen aufgebaut. Wenn sie das ordentlich gemacht haben, wissen sie, worin wir gut sind, welche Themen uns begeistern, was uns leidenschaftlich wütend macht. Sie haben sich auch unsere Trauma Geschichten angehört und wie andere uns behandelt haben. Und in ihrem Geist fügen sie diese Puzzleteile zusammen, um uns als eine komplexe Person zu sehen, die eine lange Geschichte zu erzählen hat.
Wir sagen immer, dass man DIS Therapeut*innen braucht, die fähig sind, uns als eine Person mit DIS, und damit mit vielen Anteilen, zu sehen und nicht als viele Leute mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen, weil wir diese Fähigkeit von ihnen brauchen, alles gleichzeitig und miteinander verbunden zu sehen. Mein eigener Wunsch, Therapeut*innen würden einfach all den Horror vergessen, den ich ihnen erzähle, ist fehlgeleitet. Im Spiegel des Bildes, das sie zusammengesetzt haben und aktiv in ihrem Geist halten, finden wir uns selbst. Wenn sie uns ansehen, was sehen sie? Erinnern wir uns an all die Dinge, die wir geteilt haben, was ist das Bild, das sie von uns in sich halten? Wer ist dieses integrierte Selbst, das sie stellvertretend für uns festhalten, auf die gleiche Art, wie sie unsere Würde für uns gehalten haben, bis wir sie selbst für uns annehmen konnten?
Es ist kein einfacher Schritt, wenn wir das auf einer kognitiven Ebene für uns aufschlüsseln wollen, weil es auch von uns Fähigkeiten zur Mentalisierung verlangt und zusätzlich Kommunikation, um zu bestätigen, dass wir richtig liegen. Das kann eine kraftvolle Erweiterung unseres Bewusstseins sein, die unser Selbstkonzept aufbricht und neu sortiert. Für manche wird es einfacher sein, in der therapeutischen Beziehung verbunden zu bleiben und den Interaktionen zu erlauben, zu wirken. Was erleben wir, wenn wir jemanden sehen, der uns anschaut wie einen integrierten Menschen? Was ist die Rückmeldung, die wir aus dieser neuen Beziehung kriegen? Wie fühlt sich das an? Wahrscheinlich kombinieren wir beide Herangehensweisen und arbeiten mit dem, was sich leichter annehmen lässt.
Wir probieren uns an solchen Themen nicht zu Beginn der Therapie, weil das überfordern würde. Wenn Integration zu einem relevanten Thema wird, können wir langsam erlauben, dass die Version davon, wer wir sind, die von jemand anderem zusammengehalten wird, auch mehr zu einer inneren Realität für uns selbst wird. An der Stelle hört Therapie auf eine ‘Technik’ oder ein ‘Werkzeug’ zu sein und wird zu einer Sache von Resonanz, wo ein Mensch einem Menschen begegnet. Das ist heutzutage etwas aus der Mode gekommen. Ich glaube nicht, dass man mit weniger in der Lage ist, den Schäden von Würdeverletzungen in denen zu begegnen, die sie überlebt haben. Es braucht Menschlichkeit, um die Folgen von Unmenschlichkeit und Entmenschlichung zu heilen. Und es braucht ein Gegenüber, was uns vorübergehend im eigenen inneren Erleben zusammenhalten kann, um die Fragmentierung zu heilen und bei der Integration zu helfen. Das ist roh, es tut richtig weh und darin liegt auch eine sprachlose Schönheit.
Zum Weiterlesen interessiert euch vielleicht das Konzept des Looking-Glass Self von Charles Cooley. Einen seichten Überblick über den Würdebegriff findet ihr in Gerald Hüthers Buch ‘Würde’ und eine ausführliche Diskussion von Würde und Entmenschlichung findet ihr in ‘Torture and Dignity’ von J. M. Bernstein.