Das Konzept von Kapazität ist in der Traumatherapie sehr wichtig. Es beschreibt den Bereich, in dem wir reguliert sind und uns noch regulieren können, wenn wir gestresst werden. In gewisser Weise ist es für den Alltag wichtiger, als das mit dem Stresstoleranzfenster, wo es hauptsächlich darum geht Dysregulation zu bemerken. Es ist normal gestresst zu werden und Stressreaktionen zu haben und das wird uns unser ganzes Leben lang begleiten. Resilienz, also unsere Fähigkeit wieder in einen ruhigen Zustand zu kommen, nachdem wir Stress erlebt haben, ist wichtiger, als nie gestresst zu werden. Wenn wir uns außerhalb unserer Resilienz bewegen, sind wir in Schwierigkeiten. Diese Kapazität zu verstehen hilft uns, unser Leben zu navigieren und gute Entscheidungen zu treffen, sodass wir unseren Stress managen können und nicht davon überrollt werden.
Mit Komplextrauma wird unsere Kapazität sehr gering sein. Wir müssen vieles vermeiden, damit wir nicht in Überforderung landen und retraumatisiert werden und das schränkt unsere Freiheiten empfindlich ein. Wenn wir nur versuchen uns zusammen zu reißen und über unsere Grenzen gehen, müssen wir mehr Dissoziation verwenden oder andere Bewältigungsmethoden von früher. Wenn wir uns zwingen zu funktionieren, vergrößern wir unsere strukturelle Dissoziation und spalten große Teile unserer Erfahrung ab. Das ist keine Heilung.
Wenn wir uns in überfordernde Situationen zwingen, entwickeln wir dadurch nicht mehr Stresstoleranz. Wir werden nur noch dissoziierter und taub für unsere Gefühle und den Körper. Reine Exposition löst unser Problem nicht, weil unser Problem nicht Angst ist. Unser Problem hat etwas mit unserem Nervensystem zu tun, das überwältigt wird und dann alles dicht macht. Wenn überhaupt, machen wir es noch schlimmer, wenn wir uns zwingen uns mit etwas auseinander zu setzen, was uns klar überfordert. Das ist nicht therapeutisch. Das wird nur oft so gemacht, weil immer noch angenommen wird man käme bei Trauma mit reiner Verhaltenstherapie weiter und dem ist nicht so. Wir können uns nicht aus einem beschädigten Nervensystem raus ängstigen, das keinen Stress aushält. Es muss einen anderen Weg geben Toleranz zu vergrößern. Einen der etwas mit Wachstum zu tun hat und nicht mit Zwang oder Druck.
Die Fertigkeiten zur Regulation, die wir normalerweise in der Therapie lernen, sind gut zur Regulation, aber sie haben keinen Einfluss auf unsere Stresstoleranz für eine Situation. Wir können die Situation managen, aber wir werden die deswegen beim nächsten mal nicht besser tolerieren können. Unsere Stressreaktion ist dann genauso groß und wir regulieren sie wieder nur. Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Für mich ist das keine Lösung, es ist nur eine Verwaltung eines Problems, das sich durchaus lösen lässt.
Die Methode, von der ich weiß, dass sie effektiv ist, kommt aus Somatic Experiencing und verwendet Pendulation und Titration, während wir uns am Rande unsere Stresstoleranzfensters herausfordern. Der Gedanke dabei ist es, sich der stressigen Situation für einen Moment zu stellen, nur einer winzigen Portion davon. Wir können bis zu 3% über das hinaus gehen, was wir sonst tolerieren können und nicht mehr. Niemand mit Erfahrung im Krafttraining würde die gewohnten Gewichte einfach um 30kg erhöhen und erwarten so trainieren zu können ohne sich zu verletzen. Wir wollen langsames Wachstum und wir brauchen die kleinen Schritte, um da hin zu kommen. Die Herausforderung ist für unser Nervensystem mehr als genug. Um diese kleinen Schritte machen zu können, fangen wir entweder mit inneren Vorstellungen von der Situation an oder wir reden einfach nur darüber. Das reicht vollkommen, um den Einfluss zu haben, den wir brauchen. Erst mal müssen wir uns der Situation nicht im echten Leben stellen. Das kommt erst sehr viel später.
Sobald wir bemerken, dass wir in Stress geraten und bevor wir in eine richtige Flight/Fight/Freeze Reaktion rein gehen, lassen wir das Thema oder das innere Bild fallen und gehen direkt zum Grounding über. Das bedeutet, wir brauchen genug Gespür für unseren Körper, um Stress bemerken zu können, sonst kriegen wir das mit dem Tempo nicht hin und brauchen dabei Hilfe von außen, die uns unterbricht. Und wir sollten gut in Orientierung&Grounding sein, bevor wir das überhaupt probieren. Man kann auch das Thema wechseln, auf einen Bereich umschwenken, wo man sich besonders gut auskennt und die Gehirnaktivierung so beeinflussen und sich dabei richtig umschauen. Das Ziel ist es, uns richtig runter zu regulieren. Wenn ihr glaubt ihr wärt so weit, hängt noch mal 3-5min Grounding hinten dran. Wir haben die Tendenz uns nicht ganz zu beruhigen und zu schnell weiter zu machen, weil wir immer mit erhöhtem Stresslevel durchs Leben gehen. Normale Ts machen den selben Fehler. Sie helfen uns gerade so lange uns zu beruhigen bis wir weiter reden können, aber nicht bis wir wirklich ruhig sind. Es geht hier aber gerade nicht um unsere Fähigkeit zu funktionieren. Wir brauchen von unserem Nervensystem, dass es sehr bestimmte Dinge für uns tut und in diesem Fall, dass es sich vollständig reguliert und nicht nur bis zu dem Punkt wo wir irgendwie funktionieren. Das macht einen großen Unterschied beim Effekt.
Wenn wir so richtig ruhig sind und es Anzeichen gibt, dass unsere Sicheres & Soziales System an Bord ist, können wir uns wieder der stressigen Situation zuwenden. Wir tauchen nur einen Zeh rein. Keine Kopfsprünge bitte. Wir stupsen unser Nervensystem nur ein wenig an, mehr braucht es nicht. Es wird dann wieder anfangen gestresst zu sein und wir wiederholen den Prozess, hören sofort auf, machen Orientierung & Grounding und nutzen alle anderen Regulationsfertigkeiten. Bis wir reguliert sind, bis ganz nach unten. Eine der Herausforderungene ist, nicht zu weit in die Stressreaktion rein zu gehen. Die andere, uns wirklich zu beruhigen. Deswegen hilft es, das alles mit einer Person zu üben, die darin geschult ist Stressreaktionen des Körpers zu beobachten. Am Anfang braucht das Hilfe, weil unser eigener Maßstab nicht sensibel genug für die Feinheiten ist.
Diese rauf und runter Bewegung mit den kleinen Schritten kann mehrere Male wiederholt werden. Wenn man das richtig macht, ist es erstaunlich erschöpfend und ich würde nicht raten das für mehr als 30min zu probieren. Selbst wenn 27min davon gebraucht werden, um uns wieder zu beruhigen und es so scheint, als würde nicht genug von dem wirklich schweren passieren. 3/27 ist ein gutes Verhältnis! Sich zu beruhigen ist die schwere Arbeit, schwerer als sich die stressige Situation anzuschauen. Das ist für den Prozess elementar wichtig, weil es bei dieser Methode kein bisschen um Exposition geht. Wir müssen mal alles rund um Exposition über Bord werfen und uns angewöhnen in einem Grundgerüst zu denken, bei dem es um Bewegung im Nervensystem geht.
Es dauert gar nicht so lange und wir werden bemerken, dass wir es mit der Situation etwas länger aushalten bevor wir spüren, wie der Stress steigt oder wir können näher ran oder tiefer rein ins Thema. Die Verbesserung entsteht, wenn unser Nervensystem lernt in dieser Situation wieder in Bewegung zu sein. Was da fest steckte wird wieder dynamisch. Vielleicht kann man es sich vorstellen, als würden wir trainieren uns in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu bewegen. Unser Nervensystem ist es gewöhnt wie verrückt zu rennen und dann umzufallen, weil es zu viel war. Wir bringen ihm bei sich hin zu setzen, zu laufen, kurz zu rennen, langsamer zu machen, ein bisschen rum zu stehen usw. So lernt es, dass es da mehr Möglichkeiten hat und nicht jede Reaktion ein Sprint sein muss. Es kann sich langsamer und schneller bewegen und es ist sicher, das so zu tun. Wir stellen wieder eine flexible Dynamik her. Mit der Zeit reduziert sich dadurch, wie oft es überreagiert. Es lernt, dass langsam machen völlig ausreicht und wie man langsamer macht.
Ihr braucht vielleicht nicht zwingend Körpertherapie, um dieses Werkzeug zu verwenden, solange eure Ts Stressreaktionen und ihre Anzeichen verstehen. Ihr solltet sowieso keine Trauma Ts haben, die sich der Rolle des Körpers nicht zumindest bewusst sind. Es ist ihr Job über Stress Bescheid zu wissen und da auf dem laufenden zu bleiben. Meiner Erfahrung nach warten Ts chronisch zu lange bevor sie eingreifen, weil sie es gewöhnt sind sich an der Grenze des Funktionieren zu orientieren, aber das ist nicht das Konzept, das wir hier brauchen. Ihr müsst über die Details der Technik möglicherweise sprechen, damit ihr gut zusammen arbeitet. Alle Gedanken Richtung Exposition gehören nicht hier her. Es geht nicht um Exposition, es geht um Bewegung im Nervensystem, um Stress und Regulation. Unser Problem ist nicht Angst. Unser Problem ist ein sehr kleines Stresstoleranzfenster. Das kann vorsichtig von innen heraus geweitet werden, wenn wir Pendulation am Rand unserer Fähigkeiten verwenden und uns immer wieder völlig beruhigen. So können wir langsam und sanft Kapazität erhöhen.
Sam says
Liebe Theresa,
Vielen Dank für die Informationen. Ich habe eine Verständnisfrage. Worin liegt nochmal der Unterschied zwischen Selbstregulation und Kapazität erweitern?
Ist Selbstregulation üben nicht auch die Erweiterung der Kapazität?
Vielen Dank
Theresa says
Im Grunde ist Kapazität nur ein anderer Blickwinkel auf Stresstoleranz, bei dem mehr Augenmerk auf die Fähigkeit eine Situation integrieren zu können gelegt wird als nur auf die Stressreaktion. Damit beschreibt Kapazität einen Funktionsbereich und keine Handlung an sich. Es geht um den Bereich in dem wir reguliert sind + den Bereich, in dem wir uns noch selbstregulieren können, auch wenn wir in einer Stressreaktion gelandet sind und ausgeschlossen ist der Bereich, wo wir Kontrollverlust erleben und die Situation nicht mehr integriert werden kann.
Regulation ist das erste, was wir lernen, um Kapazität zu erhöhen. Dann kommt auf unseren ruhigen Bereich auch ein Bereich oben drauf, in dem wir die Situation mit Hilfe von Selbstregulation managen können. Für viele Menschen reicht das dann völlig, um so durchs Leben zu kommen. Leute, die bei mir landen, haben oft auch mit allen ihren Regulationsfertigkeiten nicht die Möglichkeit am normalen Leben teilzunehmen, weil es immer noch nicht reicht. Stresstoleranz bzw integrative Kapazität sind zu klein, um weiter zu kommen und werden auch mit mehr Regulationstechniken nicht mehr besser. An dieser Stelle entsteht das Muster, wo sich Szenen ständig wiederholen und man kommt auf keinen grünen Zweig. Wenn wir versuchen Kapazität zu erhöhen, geht es darum den Bereich auszuweiten, in dem wir uns regulieren können ohne im Bereich zu landen, wo unser Nervensystem überwältigt wird. Die Übung ist ein Versuch ein neues Level an Regulation zu trainieren, das nicht von Selbstberuhigungsskills abhängt sondern die Baseline anhebt, die wir haben ohne eingreifen zu müssen, weil der Körper das lernt von alleine zu tun. Bei der DIS Therapie wird das Konzept von integrativer Kapazität verwendet, um vorherzusagen, ob Interventionen greifen können, also ob eine integrative Handlung durchdringt und hängen bleibt. Da betrifft das ganze strukturelle Dissoziation und ist nicht wie bei den Stressreaktionen sichtbar. Es beschreibt aber immer noch den Bereich wo Integration von Informationen geschehen kann und wird abgegrenzt von dem Bereich, wo Fragmentierung passiert, weil die Kapazität zum integrieren fehlt.
Man kann also diskutieren, für wen das Konzept sinnvoll ist. Menschen, bei denen die Kapazität durch Regulation alleine ausreicht für eine Traumabearbeitung, können auch einfach ohne das Konzept arbeiten Und die Traumabearbeitung an sich löst hoffentlich Stress auf und sorgt für mehr Stresstoleranz. Je größer der Schaden am Nervensystem und je mehr Dissoziation, desto eher muss man vielleicht einen anderen Weg wählen. Das merkt man, wenn Selbstregulation eben trotzdem nicht reicht zum Leben oder Weiterkommen. Bei DIS tut man sich einen Gefallen ein Gefühl für Kapazität zu kriegen, weil es da nicht so sichtbar aber besonders wichtig ist.
Theresa says
So machen jetzt mal ein Experiment, wo 2 verschiedene Anteile das beantworten…
Wenn wir Kapazität erweitern, dann bringen wir unserem Nervensystem bei, das mit der Regulation wieder von alleine zu tun, so wie das bei gesunden Menschen passiert. Wir müssen dafür nicht mehr so bewusst eingreifen und bewusst Fertigkeiten anwenden. Der Körper verträgt mehr und kann mehr selbst. Wir haben die automatische Regulation gefördert statt nur die künstliche, die wir oben drauf setzen.
Selbstregulation ist eine Erweiterung der Kapazität, hat aber ihre Grenzen und dann wird das mit dem Erweitern der Grundregulation wichtig.
S says
Vielen lieben Dank für die ausführliche Antwort. Das war hilfreich. Danke Dir.