Es gibt verschiedene Einstellungen zu Vermeidung und sie alle scheinen zu kurz zu greifen, wenn es um ein reales und vor allem auch funktionales Leben mit komplexer PTBS geht. Wir schauen uns erst einmal die extremen Aussagen zu Vermeidung an und erforschen dann das Konzept von Kapazität aus der Körperarbeit, um mehr Klarheit zu schaffen.
Vermeidung
Kontra
Manche glauben, dass Vermeidung in PTBS genau so ist, wie in einer Phobie. Je mehr wir versuchen etwas zu vermeiden, desto sensibler werden wir dafür. Deswegen werden unsere Reaktionen auf Trigger schlimmer, je mehr wir sie vermeiden. Stellt euch vor, wir versuchen dem Stadtlärm zu entkommen, indem wir in die Natur fliehen, nur um uns dann über-bewusst zu werden, wie laut die Bienen summen. Wieder in die Stadt zurückzukehren, wenn wir uns erst einmal so sensibilisiert haben, wäre ein völlige Überforderung. Das Mantra lautet hier: Vermeide Vermeidung!
Pro
Andere glauben, dass Vermeidung in PTBS aus einem guten Grund vorhanden ist. Wir verarbeiten nichts, wenn es getriggert wird, wir erleben nur mehr Stress, was uns Energie und Funktionalität kostet. Wenn wir uns unbarmherzig pushen, uns Dingen zu stellen, die schwierig für uns sind, verstärkt das nur das Trauma Schema von Überleben in unserem Körper und Denkmustern und treibt das Trauma tiefer in unser System. Das Mantra ist: Vermeide Stress um jeden Preis!
Das Problem mit diesen Positionen ist, dass sie wohl beide wahr sind, aber völlig am eigentlichen Kern vorbei gehen. Es gibt keine 0815 Antwort auf die Frage von Vermeidung; wir müssen jede Situation selbst abwägen und entscheiden, was das Beste wäre. Um das erfolgreich tun zu können, müssen wir Kapazität verstehen.
Kapazität
Der Ausdruck ‘Kapazität’ wird in der Trauma Körperarbeit verwendet, um die Fähigkeit unseres Nervensystems zu beschreiben, mit Stresssituationen umzugehen, indem es eine gesunde Stressreaktion zeigt und sich dann fließend wieder reguliert, zurück in unser sicheres und soziales System. (Falls noch nicht geschehen, macht euch bitte mit der autonomen Leiter vertraut; die ist die Grundlage für das, was ich hier versuche zu erklären.)
Das Wichtige ist nicht, dass wir nicht gestresst werden. Es ist eine flexible Dynamik in unserem Nervensystem zu haben und fähig zu sein, dem Rhythmus der Regulation zu folgen, zurück zu einem ruhigen Zustand.
Das Nervensystem und Stress
Wir können uns unser Nervensystem wie einen Pool voll Wasser vorstellen und stressige Situationen wie einen großen Wasserball, den die Welt uns in unseren Pool wirft. Das passiert andauernd. Wenn unser Nervensystem stark und gesund ist, erleben wir ein Ansteigen des Stresslevels in unserem Körper, unser Nervensystem wird angestoßen und beruhigt sich dann in kleinen Wellen, die dazu dienen, den Stress aufzulösen. Wenn wir an den Pool denken, dann transportieren sie den Wasserball an den Beckenrand und raus aus dem System. Auf diese kleinen Wellen, die Kapazität unseres Nervensystems sich zu regulieren, wenn es gestresst wird, müssen wir lernen zu achten.
Das traumatisierte Nervensystem
Trauma sind Wasserbälle, die in unseren Pool geworfen wurden und die zu groß waren, als dass wir die natürlichen kleinen Wellen hätten entwickeln können, um den Stress aus unserem Körper loszuwerden. Sie bleiben stecken und sitzen dann in unserem Pool, nehmen Platz weg und beschränken unsere Fähigkeit, kleine Wellen zu schaffen für die neuen Wasserbälle, die das Leben nach uns wirft. So passiert es leichter, dass noch mehr Wasserbälle in unserem Pool stecken bleiben und Raum beanspruchen. Wenn so viel Platz in unserem Nervensystem blockiert ist von Wasserbällen, begrenzt das, wie gut wir mit Alltagsstress zurecht kommen, weil unser Nervensystem nicht mehr frei ist sich zu bewegen, wie es das sollte.
Bei schwierigen Erlebnissen in der frühen Kindheit wie Misshandlung, Vernachlässigung oder unsicherer Bindung wächst unser Pool gar nicht erst zu der Größe, wie das bei anderen der Fall ist und wir sind nicht nur verletzlicher dafür, dass Wasserbälle stecken bleiben, wir können auch nicht mit so vielen umgehen, wie andere Leute, die mehr Platz haben, wo kleine Wellen passieren können. (siehe Polyvagal Theorie)
Wenn das Nervensystem stecken bleibt
Wir brauchen zumindest ein wenig Platz in unserem Pool, um die kleinen Wellen von Regulation zu erzeugen, die Stress auf natürliche Weise abbauen. Wenn unser Pool voll ist von Wasserbällen, bleibt unser Nervensystem in einem Stresszustand stecken; es reguliert sich nicht mehr zurück zu unserem sicheren und sozialen System. Wir leben nun in einer chronischen, funktionalen Flight, Fight oder Freeze Reaktion. Das bedeutet, wir haben kaum Kapazität und, weil Stresszustände viel Kraft kosten, auch wenig Energie. Mit dem Alltag zurecht zu kommen kann schwierig werden und wir haben keine Stresstoleranz dafür präsent zu sein, unseren Körper zu spüren oder mit Stress umzugehen.
Vielleicht kennen wir den Rhythmus von Regulation in kleinen Wellen gar nicht, weil wir nie eine Chance hatten, das zu erleben. Wann immer wir ein bisschen Kapazität schaffen und es kommt Bewegung in unser Nervensystem, kriegen wir Angst und versuchen das zu stoppen, oft indem wir uns Beschäftigen oder indem wir toxische Bewältigungsstrategien verwenden, um einen neuen Wasserball in unseren Pool zu werden, damit alles schön still ist und stecken geblieben, so wie wir das kennen.
Das Nervensystem wieder in Bewegung bringen
Um etwas Platz zu schaffen in unserem Pool, müssen wir entweder Wasserbälle raus nehmen oder den Pool größer machen. Wir brauchen zumindest einige Wellen, um einen Wasserball zu lösen, deswegen lernen wir in Phase 1 unserer Traumatherapie bestimmte Techniken zur Selbstberuhigung. Wenn wir uns gar nicht regulieren können, haben wir nicht die Kapazität für Trauma Bearbeitung. TherapeutInnen, die es da zu eilig haben und Kapazität ignorieren, werden damit für neue Wasserbälle in unserem Pool sorgen.
Es braucht Zeit und Geduld, aber es ist möglich den Pool vorsichtig zu erweitern. Wir tun das mit Hilfe von orientierungs-basierter Achtsamkeit und Grounding Übungen. Je mehr Bewusstsein wir für unser Umfeld und unseren Körper haben, desto mehr können wir Sicherheit erleben. Es ist dieses neue Gefühl von Sicherheit, das Raum eröffnet, wieder kleine Wellen zu erleben.
Es ist nicht angenehm, wenn man damit beginnt kleine Wellen zu erleben. Es bedeutet, Emotionen zu fühlen und die körperliche Wahrnehmung davon, durch Stressreaktionen zu gehen, bis der Körper sich wieder reguliert und im sicheren und sozialen System ankommt. Achtet darauf, das mit euren Ts zu erarbeiten. Für manche ist die Erfahrung von Bewegung im Nervensystem und von Regulation so fremd, dass das überfordern könnte. Deswegen versuchen wir den Pool nur in ganz kleinen Schritten zu weiten und stoppen Achtsamkeitsübungen, wenn sie zu unangenehm werden. Es macht hier keinen Sinn zu pushen. So funktioniert das nicht.
Mit Kapazität umgehen
Selbst wenn da Wasserbälle in unserem Pool stecken, können wir lernen, uns mit den kleinen Wellen von Regulation mitzubewegen, wie entstehen, wenn wir den Pool langsam ausbauen. Wir können gut darin werden, dem Prozess mit unserer Aufmerksamkeit zu folgen, zu bemerken, wenn wir gestresst werden und wie sich das anfühlt und dann dran zu bleiben am Prozess, sodass wir auch merken können, wie sich das Nervensystem wieder beruhigt. Indem wir den Wellen zuschauen, wie sie kommen und gehen, kriegen wir mehr Sicherheit mit diesem Prozess; wir wissen, dass wir uns wieder beruhigen werden. Mit der Zeit verlieren wir unsere Angst vor Dysregulation. Die ist nicht in sich schlecht. Das ist nur etwas, was passiert und dann vorbei geht, eine natürliche Bewegung, durch die unser Nervensystem geht. Oft ist das einzige, was uns in Dysregulation hält, unsere Bewertung, dass so etwas nicht passieren sollte oder gestoppt werden müsste.
Wir brauchen diese Stresstoleranz den Prozess der Regulation zu erleben für jede Art der Trauma Bearbeitung. Wir arbeiten dann zusammen mit unseren Ts daran bestimmte Wasserbälle zu lösen und lassen unser Nervensystem durch die kleinen Wellen gehen, um das Trauma aus dem System zu spülen. In Trauma Körperarbeit ist das ein Fokus, aber das passiert genau so auch bei jeder anderen erfolgreichen Technik, auch wenn die mehr auf dem Verstand basiert. Das ist es, was unser Nervensystem macht, wenn wir Trauma integrieren. Ich habe nichts übrig für Techniken, die versuchen an diesem natürlichen Prozess vorbei zu arbeiten (Mehr) oder darauf abzielen kurzzeitig künstlich Kapazität zu erschaffen (Mehr). Wenn wir lernen mit Stress umzugehen, indem wir unserem Nervensystem erlauben sich zu regulieren, schützen wir uns vor weiterer Traumatisierung und lernen bessere Bewältigung, die uns den Rest unseres Lebens helfen wird. Für langfristigen Erfolg müssen wir Kapazität aufbauen. Der Versuch das zu umgehen und nur schnell die Erinnerung zu bearbeiten ignoriert das Nervensystem und wird uns weniger nutzen.
Das Konzept von Kapazität ist dem des Stresstoleranzfensters überlegen, weil es genauer ist, was den Prozess von Regulation angeht und Dysregulation nicht unnötig verdammt. Die Frage ist nicht zwingend, was wir alles schaffen, ohne jemals in Berührung mit Hyperarousal zu kommen. Sie ist viel mehr, wie viel Stress wir erleben können und dabei die Kapazität erhalten, uns in einem natürlichen Fließen wieder zu regulieren. Das ist für ein reales Leben mit PTBS sehr viel näher an der Praxis.
Kapazität und DIS
Genau wie wir eine gewisse Kapazität brauchen, um Wasserbälle zu lösen, brauchen wir sie, um dissoziative Barrieren zu reduzieren oder sie aufzulösen. Integration lässt sich nicht hetzen. Versucht nicht einfach dissoziative Barrieren nieder zu reißen! Wir müssen langsam Stresstoleranz für innere Verbindungen aufbauen, sodass wir die Kapazität entwickeln, integrierter zu sein. Der Gedanke ist, zu üben zusammen zu sein und uns dabei regulieren zu können. Zusammen Orientierungs- und Grounding Übungen zu machen ist unersetzlich. Wenn wir erst einmal Kapazität aufgebaut haben, sind Co-Bewusstsein oder Blending viel einfacher und in manchen Fällen passiert Integration dann spontan.
Kapazität und Vermeidung
Was also bedeutet das alles, wenn es darum geht zu entscheiden, ob man Stress besser vermeidet?
Wir können auf unseren inneren Pool schauen, um zu sehen, wie viel Kapazität wir haben. Gibt es in unserem Nervensystem genug Platz, sodass wir uns regulieren können, wenn wir einen weiteren Wasserball von Stress in unseren Pool werfen? Wenn das geht, dann lassen die Wellen von Regulation den Wasserball an den Rand treiben und aus dem System. Das bedeutet, dass wir innen eine Aktivierung erleben, aber es geht uns am Ende noch gut, wir haben keinen neuen Wasserball zu unserer Sammlung hinzugefügt.
Neben den Bedingungen in unserem Pool sollten wir auch auf die Größe der neuen Wasserball-Situation schauen und sie mit unserer Kapazität vergleichen. Könnte das vielleicht zu groß sein, um es zu bewältigen? Sich nach einer stressigen Situation nicht regulieren zu können, ist ein Zeichen, dass es zu viel war. Nach Stress aktiv Orientierung, Sicherheit und Regulation zu suchen, kann Vermeidung unnötig machen.
Bei DIS ist es manchmal funktional, bestimmte Anteile noch zu vermeiden. Es hat keinen Wert uns zu zwingen Vermeidung zu reduzieren, wenn wir uns dann nicht regulieren können. Man braucht sich innerlich nicht vermeiden, wenn man Kapazität hat.
Unser Pool ist jeden Tag ein bisschen anders. Manchmal haben wir gut geschlafen, wir hatten sichere und positive Begegnungen, haben eine vertrauenswürdige Person zur Co-Regulation mitgebracht etc und wir haben etwas mehr Kapazität. Manche Tage sind einfach blöd und wenn wir darauf achten, wissen wir: dass ist kein guter Tag, um uns Wasserbällen zu stellen.
So entscheiden wir, ob wir vermeiden oder pushen. Es gibt da keine Formel, die das einfacher macht, wir werden auf uns achten und unserem Körper zuhören müssen. Nur weil wir unser Nervensystem an einem Tag durch ein sportliches Programm jagen können, heißt das nicht, dass wir es auch am nächsten Tag können oder jeden Tag tun sollten. Uns an Tagen mit weniger Kapazität mit unserer Schwäche anzufreunden, ist eine Teil ordentlicher Selbstfürsorge. Es wäre Torheit, uns über unsere Kapazität hinaus zu pushen, nur weil jemand uns sagt, wir müssten Vermeidung vermeiden. Vermeidung ist gar nicht das Problem. Jede Unterhaltung über Vermeidung in PTBS, die Kapazität ignoriert, geht am Problem vorbei.
Also, checkt euren Pool, prüft neue Wasserbälle, stellt sicher, dass ihr Kapazität habt, vergrößert eure Kapazität mit der Zeit und behaltet immer im Hinterkopf: Wir können das Leben nicht kontrollieren. Es wäre sinnvoll, auf unvorhergesehene Wasserbälle vorbereitet zu sein und nicht ständig alle Kapazität verplant zu haben. Das ist der Weg zur Stabilität.
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