CN: Wir reden über Sexualität, Schmerzen, BDSM, (organisierte) sexuelle Gewalt und spezifische Probleme mit Masochismus, die nach extremer Gewalt auftreten können und besprechen Interventionen, die eine tiefere Beschäftigung mit dem Thema BDSM und Experimente mit sexueller Lusterfahrung beinhalten. Bitte lest das nicht, wenn ihr gerade nicht stabil seid und hört auf zu lesen, wenn ihr zu sehr getriggert seid. Jetzt zum Beispiel. Wenn ihr von dem Überblick schon getriggert seid, lest nicht weiter. Das ist keine innere Arbeit, die ihr in Betracht ziehen solltet, wenn ihr noch in der Stabilisierungsphase seid. Sie wird außerdem nicht bei allen Systemen benötigt. Wenn ihr keine solchen Probleme habt, ist das auch völlig normal.
Masochismus als Rolle
Wenn wir uns Masochismus in Verbindung mit Trauma anschauen, dann erzählen uns die wissenschaftlichen Artikel in der Regel etwas von schlechtem Selbstwert und dem Gefühl, keine Liebe und Zuneigung zu verdienen. Wir können solche Anteile vielleicht Innen bemerken. Sie kommen nach Vorne, um die Last von negativen sexuellen Erfahrungen auf sich zu nehmen. Um das tun zu können, müssen sie sich selber weismachen, dass es das ist, was sie verdienen und wofür sie existieren. Sie hassen es und sie hassen sich selbst, aber ihre innere Landkarte von Beziehungen führt sie immer wieder zurück zu Täter*innen.
Es wird Sicherheit, Liebe, andere Gedankenmuster und die neue Erfahrung von Grenzen und Wahlmöglichkeiten brauchen, um ihnen zu helfen, sich mit sich selbst besser zu fühlen. Es ist wichtig, sie von ihrer früheren Rolle zu lösen und ihnen zu erlauben, Erfahrungen zu machen, die nichts mit Sexualität zu tun haben. Sie müssen das jetzt nicht mehr machen. Andere Anteile übernehmen und entwickeln für das System eine gesunde Sexualität.
So wird Masochismus in den meisten Artikeln definiert und es ist schwierig, darüber hinaus Informationen zu finden, in denen Anteile erwähnt werden.
Masochismus im Gehirn
Wenn ich solche Artikel lese, bin ich frustriert. Sie sagen gar nichts über das wirklich knifflige Problem, das mein System erlebt: Die Unfähigkeit, Schmerzen und Lust auseinanderzuhalten. Wann immer eine bestimmte Qualität von Schmerz auftritt, switchen wir und ein masochistischer Anteil nimmt statt des Schmerzes sexuelle Erregung wahr. Das ist ohne Zweifel eine exzellente Schutzfunktion gegen Überforderung und Leid. Schädliches wird einfach in etwas deutlich anderes umgewandelt. Es ist gleichzeitig eine zutiefst verwirrende Erfahrung und für junge Anteile nicht zu managen. Sie sind nicht reif genug, um mit sexueller Erregung von dieser Intensität und Dauer umzugehen. Dann gehen sie so damit um, wie es für sie möglich ist, was unweigerlich zu mehr Problemen führt.
Auf der Suche nach Antworten müssen wir die Trauma Literatur hinter uns lassen und uns der Neuro-Forschung zuwenden. Schmerz und Lust liegen im Gehirn sehr eng beieinander. Sogar bei gesunden Menschen vermischt sich das manchmal. Wir hatten als Kinder wahrscheinlich Erfahrungen, wo wir sexuell stimuliert wurden, während man uns auch weh getan hat. Manchmal passiert das als Nebenprodukt bei sexueller Gewalt und manchmal ist es mutwillig und geplant. Unser Gehirn wird so geformt, dass es die beiden Erfahrungen miteinander verbindet. Neuronen, die zusammen feuern, entwickeln eine gemeinsame Bahnung. Uns bleibt dann eine Unfähigkeit, Schmerz und Lust auseinander zu halten. Wenn dieses Lust-Schmerz Set im Gehirn aktiviert ist, switchen wir vielleicht automatisch und ein masochistischer Anteil landet Vorne. Vielleicht fehlt es auch an der Fähigkeit, überhaupt Lust zu spüren, wenn kein Schmerz vorhanden ist.
Das bringt uns in eine ernste Situation. Es sieht so aus, als müssten wir entweder unsere Sexualität aufgeben und können dann sicher sein oder wir reinszenieren unser Trauma mit einer Person, die gewillt ist, uns weh zu tun.
Sensibilisierung
Es gibt noch eine dritte Option, die bei Einzelnen klappen kann oder auch nicht. Manchmal ist es möglich, das, was zusammen gebahnt wurde, wieder voneinander zu trennen. Dazu sorgen wir erst einmal dafür, dass die bestehende Verbindung nicht weiter durch Wiederholung verstärkt wird (keine Schmerz+Lust Koppelung mehr, um uns Lust zu ermöglichen) und wir bauen eine neue Verbindung, die dann ständig verstärkt wird (tun mutwillig etwas, dass sexuelle Lust bewirkt, aber in einem anderen Kontext). Dann bemühen wir uns, jedes noch so kleine bisschen von einem guten Gefühl, das wir wahrnehmen können, zu bemerken, egal wie klein es ist. Und wiederholen das etwa 200 Mal/Tage (kein Scherz, eher eine realistische Einschätzung, wie lange es dauern kann, bis sich etwas bleibend verändert). Es macht Sinn, Toys zu verwenden, um lustvolle Wahrnehmung zu erhöhen und einen verlässlichen Effekt zu erreichen. Eine investierte Partnerperson kann uns helfen, einen neuen Kontext aufzubauen. Es braucht Zeit und das ist am Anfang langweilig und auch etwas strange. Aber wir können unserem Gehirn beibringen, Lust auch als etwas zu bemerken, was für sich alleine stehen kann und gar nicht mit Schmerz zusammen auftreten muss. Das wird nicht mit den starken Orgasmen anfangen, die Anteile von uns erreichen können, wenn sie Schmerz dazu nehmen. Aber es gäbe zumindest Orgasmen. Und wir müssten dafür nichts tun, was den Rest des Systems noch mehr triggert als Sex das wahrscheinlich ohnehin schon tut. Wir müssen kein Trauma reinszenieren. Vielleicht kann das Wissen darum, dass es eine dritte Option gibt, helfen, innere Verhandlungen zu navigieren. Es müssen nicht irgendjemandes Grundbedürfnisse über Bord geworfen werden. Es gibt da ein Mittelfeld zwischen den Extremen. Und das wird auch immer erfüllender, je länger es benutzt wird.
Diese Übungen, die unserem Gehirn beibringen, wieder Unterschiede zu erkennen, brauchen viel Zeit und Geduld und sie sind herausfordernd. Es kann sein, dass es nicht nötig ist, Schmerz auf die selbe Weise zu erforschen, es sei denn es gibt Anteile, die Schaden verursachen, weil sie nicht bemerken, was sie da tun. Es fühlt sich doch so gut an, wie sollte das falsch sein! In dem Fall können wir ihnen mit der gleichen Geduld helfen, Schmerzwahrnehmung zu bemerken und ob sich etwas gerade gut oder nicht so gut anfühlt. Vielleicht müssen erwachsene Anteile dabei helfen und Rückmeldung darüber geben, wie sie die Situation erleben. Wir kalibrieren die Bewertungen von Wahrnehmung für diesen Anteil neu und sensibilisieren sie für Schmerz, der für sich allein stehend auftritt. Es kann sein, dass es ein Safeword braucht, um Anteilen zu sagen, wann sie sofort aufhören müssen. Das ist ein Geduldsspiel, aber es könnte für unsere persönliche Sicherheit notwendig werden.
Solange kein Schaden entsteht, kann es ok sein, es einfach so zu lassen. Es ist durchaus verwirrend, wenn Schmerz zu sexueller Erregung führt, aber es ist nicht gefährlich, solange wir verstehen, was los ist und uns um unsere Gesundheit kümmern können. Schmerztabletten reduzieren dann sexuelle Erregung. Für unseren Alltag ist es sehr viel wichtiger, Lust ohne Schmerzen wahrnehmen zu können, als bei Schmerzen nie Erregung zu spüren.
Masochismus als Missverständnis
Bei manchen Überlebenden gibt es eine große Überschneidung zwischen ihren Trauma Erinnerungen und der äußeren Erscheinung der BDSM Kultur. Irgendwas mit fesseln, einem Herren, Gehorsam, Bestrafung und Sex. Die Anteile von uns, die solche Trauma Erfahrungen haben, schauen sich BDSM Inhalte an und haben den Eindruck, dass das genau das ist, was sie kennen und wo sie sich zu Hause fühlen, wo sie hin gehören. Das ist ihre Welt, die sie verloren hatten. Und die bittere Wahrheit ist, dass es nicht stimmt. Das sieht nur oberflächlich so aus. Vielleicht haben wir Anteile, die sich in BDSM stürzen, ohne die Kultur der Community zu verstehen. Sie gabeln online irgendwelche Leute auf, die passend erscheinen, vertraut irgendwie. Es besteht die Möglichkeit, dass sie wieder an Täter*innen kommen, die nur daran interessiert sind, jemanden zu misshandeln. Wir landen in Reinszenierungen und Retraumatisierung.
Wenn wir Anteile haben, die sich zu so einer Art Beziehung hingezogen fühlen, dann sollte jemand sie darin unterstützen, mehr über BDSM zu lernen und wie das funktioniert. Wir brauchen ein besseres Verständnis davon, was das wirklich ist und klare, einfache Ressourcen, die wir Innen teilen können. Dann können wir eine Variante unserer Diskriminationsübung machen. Wir können den betroffenen Anteil fragen, an was sie erinnert sind, wenn sie an einen bestimmten Aspekt von BDSM denken und dann die Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten. Dabei werden wir über Themen stolpern wie Reden. Viel reden. Darüber Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen, statt es einer Seite zu überlassen, einfach zu tun, was nur sie wollen. Wahlmöglichkeiten und Sicherheit – das fremdartige Konzept, die Macht zu haben, alles zu stoppen. Vertrauen. Consent. Eine Beziehung, in der es von tiefer Bedeutung ist, wer wir sind. Trost. Die Liste fängt erst an.
Meiner Erfahrung nach kann es passieren, dass Anteile tief schockiert sind, wie sehr sich echtes BDSM von ihren Erfahrungen unterscheidet. Wir können einen Themenbereich nach dem anderen vergleichen und ihnen helfen zu verstehen, dass sie so keine der Erinnerungen aufleben lassen können, zu denen sie so starke Gefühle haben. Jede Phase von Play hat einen ganz anderen Beigeschmack, von der Vorbereitung bis zum Reconnecten. Keine verantwortungsvolle Partnerperson würde uns dabei assistieren, unsere Missbrauchserfahrungen nachzustellen. Manchmal sind Anteile so schockiert von der anderen Natur dieser Beziehungen, dass sie sich davon abgestoßen fühlen. Echtes BDSM fühlt sich plötzlich völlig fremd an und die Intimität dabei eher beängstigend. Es ist schwer das zuzugeben, aber das Verlangen war tatsächlich nach Misshandlung. Wir haben das so verinnerlicht, dass wir es unbewusst immer wieder wiederholen.
Es kann einfacher sein, mit jüngeren Anteilen ins Gespräch zu kommen, die in so einem Verlangen stecken geblieben sind, wenn wir eine Geschichte haben mit Charakteren, über die man reden kann. Wir haben viel unserer Diskriminations-Arbeit mit Hilfe von einem BDSM Manga gemacht, das jungen Erwachsenen das Thema durch eine Erzählung näher bringt. Fragt in der BDSM Community nach, was die empfehlen. 50 Shades of Gray ist ungeeignet. Ich muss nicht dazu sagen, dass das nur Anteile begleiten sollten, die nicht zu sehr getriggert werden. Das ist einer dieser Momente, wo es nützlich ist, dissoziative Barrieren mutwillig verstärken zu können. Es ist keine Arbeit, die man normalerweise in der Stabilisierungsphase machen würde, außer es ist für die Sicherheit dringend erforderlich. Wir sollten fähig sein, uns zu regulieren, die Stresstoleranz dafür haben, uns so ein schwieriges Thema anzuschauen und co-bewusst mit masochistischen Anteilen bleiben können, auch wenn ihr Erleben der Welt sehr anders ist. Das erfordert einiges. Das ist es auch wert.
Genau genommen kein Masochismus
Es gibt Probleme mit Trauma-Bezug, die bestimmte Aspekte von BDSM für uns attraktiv machen können. Vielleicht sind wir so taub und chronisch dissoziiert, dass es extreme Stimulation braucht, damit wir überhaupt etwas spüren. Oder wir haben so große Angst, die Kontrolle über unseren Körper zu verlieren, dass das Gefühl gut verschnürt zu sein uns hilft, in unserem Körper zu bleiben. Ihr wisst bestimmt, was es für euch ist. Ich traue euch das zu, dass ihr darüber reflektieren könnt und die Quelle des Bedürfnisses findet. Das Grundproblem hat meistens gar nichts mit Sexualität zu tun. Da merken wir es nur am meisten. Ihr könnt entscheiden, ob das für euch so ok ist oder ob sich was ändern soll. Solange ihr euch nicht schlimm triggert oder Probleme im System verursacht, habt ihr es mit einer Lösung zu tun, die ihr gefunden habt. Es kann da noch mehr und andere Lösungen geben und die zu kennen, würde euch die Freiheit geben, wählen zu können. Wahlmöglichkeiten sind ein wichtiger Teil von Heilung. Was ihr tut, ist vielleicht nicht die Art Reinszenierung, die es zu vermeiden gilt, um zu heilen.
Letztendlich werde ich euch hier nicht sagen, wie ihr euer Sex Leben organisieren sollt. Es ist schwierig genug etwas zu finden, was funktioniert, ganz ohne dass da noch Leute daher kommen und Regeln und Urteile verkünden. Mir ist klar, dass es in so einem System unterschiedliche Meinungen und Bedürfnisse gibt und dass das Fehlen einer akzeptablen Lösung oft zu unschönen Machtkämpfen führt. Ich bin nur hier, um euch zu sagen, dass es Möglichkeiten gibt, an das Problem ran zu gehen, die neue Optionen zu denen hinzufügen, die ihr schon kennt. Niemand versucht irgendwas wegzunehmen. Es ist keine Alles oder Nichts Situation. Es gibt dieses Mittelfeld dazwischen. Es braucht nur viel Mut und Geduld da hin zu kommen.
Dieser Artikel stützt sich stark auf persönliche Erfahrung, weil es an Fachliteratur dazu fehlt. Wenn ihr professionelle Ressourcen zum Thema habt, teilt die gerne in den Kommentaren.
Moor says
Ja, ich persönlich kann ein Buch empfehlen in dem achtsam über SM und Trauma gesprochen wird und Ärzte auffordert, genau hinzusehen:
https://www.melanie-buettner.de/buecher/
Danke für den Blog! Ich bin gerade darüber gestolpert und habe mich festgelesen 🙂
Thomas Markgraf says
Vielen Dank für den Mut dies zu veröffentlichen trotz Gefahr verrissen zu werden.
Ich möchte Ihnen Danken für diesen Ansatz, der tatsächlich eine Lücke füllt und Unterscheidungsvermögen und eventuell Heilung oder Verbesserung ermöglicht.