Wir denken von Appeasement (Beschwichtigung) als eine Gruppe von sozialen Verhaltensweisen, die das Ziel haben, eine sichere Beziehung und ggf. Bindung mit einer anderen Person wiederherzustellen, die als mächtiger oder bedrohlich wahrgenommen wird. Wenn wir ihnen irgendeinen Grund zum Ärger gegeben haben, müssen wir das reparieren und dafür sorgen, dass sie sich beruhigen und uns wieder mögen. So kehren wir zu einem Gefühl von Sicherheit in der Beziehung zurück.
Appeasement könnte so aussehen:
- Sachen zustimmen, die wir gar nicht wollen, Dinge gegen unseren Willen tun, aber ohne dabei aktiv gezwungen zu werden
- so tun, als würden wir Meinungen/Gefühle teilen, die wir gar nicht haben, den Kontakt mit unseren Meinungen/Gefühlen verloren haben
- sicher stellen, dass den Bedürfnissen von anderen zuerst begegnet wird, egal was mit unseren Bedürfnissen passiert
- keinen Kontakt zu unseren Bedürfnissen haben oder sie runter spielen
- Gefühlszustände anderer extrem sensibel wahrnehmen und einschreiten, um sie zu regulieren
- anderen Zugang zu unseren Ressourcen (wie unsere Zeit, Geld, Energie oder auch den Körper) erlauben oder anbieten, auch wenn es uns gar nicht so recht ist
- unfähig sein, Spannung in der Beziehung auszuhalten oder wenn jemand sauer auf uns ist
- jedes kleine Anzeichen von Misattunement bemerken und als Gefahrensignal deuten, das eine Wiedergutmachung von uns (natürlich nicht vom anderen) verlangt
- ein Moment von Schock und Scham, wenn ein Konflikt bemerkt wird, gefolgt von Versuchen, die Gründe für die Meinungsverschiedenheit zu eliminieren oder alles zu erklären als Entschuldigung
- Verstrickungen: Meinungen, Gefühle und Bedürfnisse werden zwischen den Personen vermischt
- nur eine Wahrheit in dem Moment wahrnehmen können, in der Regel was die dominante Person denkt, fühlt oder will, Verlust von Komplexität der Erfahrung, während Grenzen verschwinden
Appeasement als Bindungsstrategie
Während Dissoziation unsere beste physiologische Abwehrstrategie ist, wenn wir als Kinder in einem unsicheren und vernachlässigenden oder gewaltsamen Umfeld aufwachsen, ist Appeasement die beste Beziehungsstrategie, der wir folgen können. Unsere Bezugspersonen sind unberechenbar und es ist nicht sicher, sich zu nähern. Wir müssen uns aber nähern, um zu überleben und damit zumindest den grundlegendsten Bedürfnissen begegnet wird. Wir können sie nicht einfach zurücklassen und unser eigenes Leben leben, also müssen wir uns auf eine so beruhigende Weise präsentieren, dass wir keine Wut oder Gewalt hervorrufen. Je mehr wir uns an ihre Stimmungen anpassen und uns so verhalten, dass es ihren Bedürfnissen begegnet, desto kleiner ist das Risiko für uns. Ich glaube nicht, dass das etwas mit ‘Sozialphobie’ zu tun hat. Das ist ein komplexes, instinktives Coping Verhalten, das Überleben sichert. Menschen zeigen dieses Muster, wenn sie es mit einer mächtigeren Person zu tun haben und ein anderes Coping Verhalten das Überleben nicht langfristig garantieren würde. Es gibt dann keinen besseren Weg, mit der Situation umzugehen. Das wird erst zum Problem, wenn sich unser Leben verändert, diese Strategie nicht mehr gebraucht wird, wir es aber nicht schaffen, uns auch zu verändern und anzupassen.
Wir werden solche Appeasement Muster oft bei Hosts sehen oder bei ähnlichen Anteilen, die sich um Kontakte mit Täter*innen im Alltag gekümmert haben. Wir dissoziieren unsere Gefühle und Bedürfnisse dann, bis wir flach und fast unecht wirken, aber wir haben auch definitiv keine Ecken und Kanten, an denen sich Täter*innen stoßen könnten. Das kann dazu führen, dass solche Hosts sehr sozialverträglich sind. Es macht uns auch zu einer weißen Leinwand für die Projektionen anderer: Nicht immer hilfreich. Ratet, woher ich das weiß. Ecken und Kanten zu haben, ist, was anderen Menschen zeigt, dass wir eine eigene Persönlichkeit haben. Manchmal können wir den Kontakt zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen wiederherstellen, wenn wir uns Mühe geben und manchmal ist das tatsächlich abgespalten und bei anderen Anteilen untergebracht.
In größeren Systemen finden wir oft Anteile, die sich um den Mechanismus von Appeasement und Identifikation mit den Täter*innen rum entwickelt haben.Sie wiederholen deren Meinungen, versuchen, sich um deren Gefühle und Bedürfnisse zu kümmern und zeigen ihnen gegenüber Loyalität und warme Gefühle. Worte, die uns in den Sinn kommen, sind vielleicht ‘Stockholm Syndrom’ oder ‘Trauma Bonding’. Unser Bindungssystem bewirkt diese Identifizierung und löst die Grenzen zwischen uns auf. Ihre Ziele werden unsere Ziele, ihre Gefühle unsere Gefühle. Das passiert Erwachsenen. Als Kinder müssen wir uns noch viel mehr auf solche Überlebensinstinkte verlassen. Wir schauen uns den Umgang mit Täter-loyalen Anteilen woanders noch genauer an, weil es dafür mehr integrative Handlungen braucht.
Grenzen und Entwicklung
Wir sollten uns bewusst bleiben, dass wir es mit einer Verletzung während unserer Entwicklung zu tun haben und nicht nur mit einem Verhaltensproblem. Als kleine Kinder erleben wir uns nicht als ein ‘Ich’, das in einer Beziehung mit einem ‘Du’ steht, das anders ist als wir. Wir können die Außenwelt und unser innere Erleben nicht auseinanderhalten. Es gibt keine Grenzen. Eine ängstliche Bezugsperson macht uns ängstlich. Wenn sie uns schlecht behandeln, dann erleben wir uns als schlecht. Es gibt keinen Raum Dazwischen, wo wir reflektieren, unsere Erfahrung von der von anderen trennen und dann mit der Situation umgehen können. Wegen unseres Trauma Hintergrundes haben sich manche Anteile vielleicht nicht über dieses Stadium hinaus entwickelt. Sie stecken da fest und haben gar keine andere Möglichkeit, die Situation zu erleben. Und oben drauf werden sie oft noch von Anteilen runter gemacht, die Zugang zu anderen Strategien haben. Nur gesagt zu bekommen, wir sollten uns mal für uns einsetzen, tut genau gar nichts für uns. Wir können uns nicht ok fühlen, es sei denn, unser Gegenüber ist ok. Wir sind schlecht, bis sie aufhören, uns schlecht zu behandeln. Es gibt noch immer keinen Raum zwischen uns. Wir versuchen, die Situation zu beschwichtigen, damit sie auch für uns beschwichtigt wird. Eine Grenze zu setzen, die die andere Person noch zusätzlich verärgern würde, ist jenseits unserer Fähigkeiten.
Neue Grundlagen
Um überhaupt erst über Grenzen nachdenken zu können, müssen wir ein paar grundlegende Konzepte verstehen. Wir sind eine Person. Und alle anderen Menschen sind auch Personen. Jede Person auf diesem Planeten hat ihre eigenen Gedanken und Meinungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche usw. Die sind alle gleich erlaubt und haben alle ein Recht zu existieren. Wir können uns das wie Spielfiguren für ein Brettspiel vorstellen. Meine Spielfiguren für meine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse sind vielleicht blau und eure haben vielleicht andere Farben, aber sie haben alle die gleiche Größe. Eins ist nicht mächtiger oder wichtiger und Spielsteine können sich vor den anderen auch nicht beugen. Sie existieren einfach nur. Alle haben solche Spielsteine. Wenn wir unsere noch nicht kennen, können wir darüber reflektieren, neue Sachen ausprobieren und unsere Erfahrungen erweitern. Nehmt euch mindestens eine Woche und bemerkt jeden Tag eure Gedanken und Meinungen, eure eigenen Gefühle, eure Präferenzen und Wünsche. Andere Anteile können euch dabei unterstützen, indem sie ihre Erfahrungen mit dem Leben teilen. Ihr könnt dann prüfen, ob ihr das genauso seht oder etwas anders ist.
Die ganze Welt ist voll von unseren eigenen Spielsteinen und denen von anderen.
Wir können üben, die jeweils zu bemerken, indem wir uns eine Kinderserie anschauen, die wir mögen. Aus rein wissenschaftlichen Gründen natürlich. Versucht zu bemerken, wenn jemand einen Gedanken, ein Gefühl oder ein Bedürfnis ausdrückt. Bemerkt, wie verschiedene Charaktere verschiedene Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse haben und die alle gleichzeitig existieren. Nichts muss verschwinden. Sie sind alle gleichzeitig da.
Unsere Spielsteine müssen nicht so aussehen wie die von anderen Leuten. Wir sind immer noch in Sicherheit, wenn wir anders sind. Niemand kann uns unsere Spielsteine wegnehmen. Die bloße Existenz von Spielsteinen, die anders aussehen, kann uns nicht weh tun. Dazu bräuchte es reale Handlungen und vor denen schützt uns das Gesetz.
Nehmt euch etwas Zeit, um in Alltagssituationen zu beobachten, wann eure eigenen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse auftauchen und wann die von anderen. Je mehr ihr das übt zu erkennen, desto einfacher wird es, die Dynamiken zu sortieren.
Der Raum Dazwischen
Wir brauchen ein bisschen Sicherheit damit, solche ‘Spielsteine’ im Alltag zu erkennen. Dann können wir damit beginnen, Situationen zu analysieren, die wir als schwierig erlebt haben. Startet mit etwas, das euch selbst und eine weitere Person betrifft. Stellt euch vor, ihr sitzt an einem großen Tisch mit einem Spielbrett in der Mitte. Dann könnt ihr die Spielsteine sortieren, die überall rum stehen. Was sind die Gedanken und Meinungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche, die zu euch gehören? Welche gehören zu der anderen Person? Nehmt euch Zeit, eure eigenen Spielsteine zu euch her zu ziehen. Die gehören euch und das ist ok. Die dürfen existieren. Schiebt nun die Spielsteine der anderen Person auf ihre Seite drüber, weg von euch. Die gehören nicht zu euch. Die gehören zu jemand anderem. Die können die haben, das ist gar kein Problem, aber es gibt keinen Grund, warum sie so nah an euch dran sein müssen. Ihr könnt mit der Hand auch eine Geste machen, mit der ihr das von euch weg schiebt, wenn euch das hilft. Was entsteht, ist ein Raum Dazwischen, wo es einfach nur ein leeres Spielbrett gibt, das einen neutralen Raum bietet für einen Austausch. Bemerkt diesen Raum. Die Person ist nicht vermischt oder viel zu nah. Ein Austausch passiert nicht auf unserem Territorium oder auf ihrem. Er findet in dem Raum Dazwischen statt. Wann immer wir uns von jemandem überrollt fühlen, kommen wir zurück zum Bewusstsein für diesen Abstand. Ohne diesen Raum zu spüren, kann es keine Durchsetzungsfähigkeit geben. Ich glaube, das ist die wichtigste Entdeckung, wenn es darum geht, Appeasement Muster abzulegen.
Das Spiel im Raum Dazwischen
Wenn wir uns des Spielbrettes, des Raumes Dazwischen, bewusst sind, können wir entscheiden, wie wir unser Spiel spielen wollen. Wir können einen unserer Spielsteine aufs Brett stellen und schauen, was unser Gegenüber macht. Vielleicht zeigen sie uns auch einen ihrer Spielsteine und wir können dann darauf antworten. In manchen Beziehungen entsteht durch so einen ehrlichen Austausch Tiefe und ein Gefühl von Zugehörigkeit. Bedürfnissen wird direkter begegnet und die Verbindung wird gestärkt. Es ist weniger beängstigend, uns zu öffnen und unsere eigenen Spielsteine zu zeigen, wenn wir wissen, dass es auf einem Spielbrett passiert, wo alle Spielsteine gleichwertig sind.
Wenn wir uns nicht sicher fühlen, müssen wir auch keinen unserer Spielsteine zeigen. Es gibt keine Regel, die sagt, dass wir sie aufs Spielbrett stellen müssen. Sie können trotzdem existieren und uns gehören. Es ist nicht nötig, sie zu dissoziieren. Wir entscheiden uns nur, sie nicht zu zeigen.
Es ist ok, sich die Spielsteine anzuschauen, die jemand anderes aufs Spielbrett gestellt hat und zu entscheiden, dass das kein bisschen zu unseren Spielsteinen passt. Die dürfen alle existieren, aber es wird keinen Austausch mehr auf dem Spielbrett geben. Wir lassen den Raum Dazwischen leer und machen mit unserem Leben weiter. Es gibt keine Regel, dass wir Spielsteine setzen müssen, nur weil jemand anderes das zuerst gemacht hat.
Manchmal meinen Menschen, unsere Spielsteine mit ihren Meinungen angreifen zu müssen, aber ihre Meinung ist auch nur ein Spielstein auf dem Brett, wo sie ausgedrückt wird. Sie ist nicht größer oder wichtiger als unsere und wir können sie jederzeit zu ihren Besitzer*innen zurück schieben, um den Raum Dazwischen zu betonen. Ihre Meinung kann uns nichts tun, sie ist einfach nur da. Laut zu sein, gibt niemandem besondere Rechte.
Nicht jeder dissoziative Anteil wir dieses Werkzeug brauchen. Manche sind schon sehr gut darin, die Spielsteine anderer weg zu schieben und sie lernen am besten noch andere Beziehungsfertigkeiten. Diejenigen, die in Appeasement Mustern fest stecken, werden sich bewusst bemühen müssen, den Raum Dazwischen zu finden, damit der Austausch mutwilliger und weniger reaktiv wird.
Dieses Konzept ist für mich sehr wichtig, wenn ich es mit Gefühlen von Einschüchterung zu tun habe. Es wird einfacher für mich, meine Grenzen und mein Recht als Person/Anteil zu existieren zu spüren, wenn ich mir bewusst bin, dass es den Raum Dazwischen gibt und alle Spielsteine auf dem Brett die gleichen Rechte haben. Sichtbar zu werden und auszudrücken, was ich denke und fühle, wird einfacher, seit ich das behandle wie einen Austausch auf neutralem Boden, der mir nicht so nah kommt, dass es mich sofort überrollt. Ich bin nicht so verletzlich, wie ich mich immer gefühlt habe und auch nicht so ausgeliefert. Wenn mir ein Austausch nicht gefällt, kann ich die Spielsteine der anderen einfach zu ihnen zurück schieben. Es ist heute ein interaktives Spiel und keine Frage des Überlebens mehr. Auch gruselige Menschen sind nur Menschen mit Spielsteinen auf dem Spielbrett und nicht mehr. Und mit den richtigen Menschen kann so ein Austausch auch erstaunlich intim und wunderschön sein.
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Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.
– V. Frankl
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