Dieser Artikel basiert auf „Die Polyvagal Theorie“ von Stephen Porges. Das Buch beschreibt eine größtenteils wissenschaftliche Theorie über das Nervensystem, ins besondere verschiedene Teile des Vagus Nervs und was dieser mit Stress und sozialer Interaktion zu tun hat. Die anatomischen Details sind langweilig und schwierig, deswegen werden wir das Ganze zerlegen und nur die Teile herauspicken, die für komplexe PTBS relevant sind. Jeder, der tatsächlich an Physiologie interessiert ist, sollte lieber das Buch lesen.
Im Schweinsgallopp durch die Kernaussage
Neurozeption: Wir nehmen sehr viel mehr wahr, als uns bewusst wird. Der Theorie nach kombiniert unser Gehirn all diese Informationen schon vor-bewusst und sortiert jede Situation in eine von zwei einfache Kategorien: sicher oder gefährlich.
Das traumatisierte Gehirn neigt dazu, Dinge öfter als gefährlich zu identifizieren, selbst wenn sie das nicht sind.
Reaktions-Schemata
Wenn etwas Neues passiert, reagieren wir mit einem Anstieg im physiologischen Erregungsniveau.
Je nachdem, ob Neurozeption eine Situation als sicher oder gefährlich eingestuft hat, drückt sich das unterschiedlich aus.
Die erste Erregungs-Ebene, die der Körper erreicht, ist Mobilisation.
In einer sicheren Situation zeigt sich Mobilisation in sozialer Interaktion, Kommunikation und Verbindung (ventraler Vagus).
Wenn die Situation als gefährlich eingestuft wurde, ist das Mobilisations-Schema, das aktiviert wird, Kampf oder Flucht (flight/fight/sympathische Aktivierung).
Mit einem weiteren Anstieg des Erregungsniveaus erreichen wir eine andere Reaktions-Ebene: Immobilisation (dorsaler Vagus).
In einer sicheren Situation wird aus sozialer Interaktion Intimität.
Wurde die Situation als gefährlich eingestuft, zeigt sich Immobilisation in einer Freeze Reaktion d.h. Dissoziation.
[Die Theorie deutet an, dass es möglicherweise einen Hybrid zwischen den Mobilisations-Systemen flight/fight und sozialer Interaktion geben könnte: Spiel. Das kombiniert milden Kampf mit sozialem Miteinander, während der ventrale Vagus dominant bleibt; für Traumapatienten eine schwierige Balance.]
Veränderung kann nur passieren, wenn wir den ersten Schritt, die Entscheidung ob etwas sicher ist oder nicht, wiederholen und dabei zu einem anderen Ergebnis kommen. Das tun wir bei Orientierungs- und Grounding Übungen.
Was bedeutet das für uns?
Menschen müssen sich sicher fühlen. Das gilt besonders für Traumatisierte.
Beziehungen: Zwischenmenschliche Regulation ist eine der stärksten Grounding Techniken überhaupt (für PTBS, nicht immer bei BPS). Wenn du dich mit jemandem verbunden fühlst, dissoziierst du in deren Gegenwart nicht so schnell. Ungewöhnlich viel Dissoziation in einer Therapiestunde könnte sogar ein Hinweis auf eine Störung in der therapeutischen Beziehung sein. Eine ruhige Sprechweise, freundliche Mimik und vertraute Bewegungen können dir helfen, dich mit jemandem sicher zu fühlen.
Orte: Du brauchst ein sicheres Zuhause. Und du solltest alle Trigger daraus entfernen. Auch deine Therapie sollte in einem sicheren Rahmen stattfinden, ganz besonders, wenn du für eine längere Behandlung in einer Klinik bist. Eine gute Traumaklinik stellt dir ein Einzelzimmer zur Verfügung, was du auch abschließen kannst. Eine konfliktbasierte Station ist nichts für dich.
Therapie: Traumatherapie beginnt in der Regel damit Innen und Außen Sicherheit zu schaffen. Das bedeutet auch einen Kontaktabbruch mit Tätern. Deine T wird dich recht früh mit der Imagination vom Sicheren Ort bekannt machen. Sicher sein und sich sicher fühlen sind das Fundament erfolgreicher Traumatherapie. Ohne sie hast du keine Chance zu heilen.
DIS SystemArbeit: Es ist wichtig, dass sich jeder Teil von euch sicher fühlt. Ein gewaltfreier Ansatz für die SystemArbeit wird euch helfen, euer System zu einer Angst-freien Zone zu machen. Dazu gehört Bestrafung und Schuldzuweisungen als Beziehungswerkzeuge abzuschaffen.
Das sind die verlässlichsten praktischen Ergebnisse der Forschung zum Vagus Nerv: Ein Gefühl von Sicherheit reduziert deine Symptome. Und du kannst bis zur Erschöpfung Skills verwenden, wenn du dich nicht sicher fühlst, wirst du dich nicht beruhigen. Die korrekte Reihenfolge um aus einer kniffligen Situation raus zu kommen ist diese:
Sicherheit, Orientierung und Grounding, Beruhigung (ggf. mit Hilfe von zwischenmenschlicher Regulation)
Wenn du dir nur eine Sache über die Polyvagal Theorie merkst, lass es dieses sein: Sicherheit zuerst!
Wenn du Spaß an Theorien hast, vielleicht magst du diese hier mit dem Stresstoleranzfenster vergleichen und die Reaktions-Schemata farblich kodieren!
Tiefere Einblicke
Wenn du mir in das Reich der interessanten Ideen folgen möchtest, müssen wir zuerst einen kleinen Blick auf die Physiologie werfen. Ich werde versuchen das verständlich zu gestalten, auf Kosten der Genauigkeit. Bitte nicht wörtlich nehmen.
Die komplexe Handlung des „Sich-Beruhigens“ benötigt einen bestimmten Teil unseres Nervensystems. Das hat mit dem Vagus Nerv zu tun und spezifisch mit dem ventralen Teil des Vagus, den ich Bob nennen werde. Bob ist wie ein Oktopus in deinem Gehirn, mit Armen, die in verschiedene Regionen deines Körpers reichen. Diese Regionen sind
- Herz
- Atmung
- Rachen&Schlucken
- Saugbewegung
- Sprechen
- Mimik
- Kopfdrehen
- differenziertes Hören
Sich beruhigen ist eine aktive Kraftanstrengung. Bob muss hart dafür arbeiten, indem er die „Muskel“-Spannung hält. Wenn Bob los lässt, erleben wir eine Aktivierung. Das ist natürlich und gut, solange das kein anhaltender Zustand ist. Seine persönlichen Begabungen liegen bei Aufmerksamkeit, Gefühlen und Kommunikation. Wenn du schon mal bemerkt hast, dass du nicht gut kommunizieren kannst, wenn du gestresst bist oder emotional taub wirst und dich nicht konzentrieren kannst, ist das ein Mangel an Bob-Aktivität. Gestresste Menschen kommunizieren schlecht.
Baby Bob
Bob wächst und entwickelt sich am besten, wenn wir als Kinder eine sichere Bindung zur Mutter haben. Er lernt quasi vom Bob der Mutter, bewegt sich im Einklang mit ihr, bis er den Dreh raus hat. Unsichere Bindung führt zu einem schwächeren Bob, was unsere Anfälligkeit für Stress erhöht. Das ist in sich noch kein Trauma, erhöht aber die Verletzlichkeit für Trauma.
Trauma Bob
Ein sexueller Übergriff führt zu einer besonders schädlichen Situation. Es bedeutet eine erzwungene Immobilisation während eines Zustands großer Angst und sympathischer Mobilisierung. Diese Kombination kann unser Nervensystem nicht prozessieren und Bobs Fähigkeiten uns zu beruhigen werden nachhaltig verringert. Unser Gehirn verändert sich. Es kann sein, dass wir Probleme mit positiver Immobilisation entwickeln und in intimen Situationen in das Angst-basierte System der Dissoziation rein rutschen.
Der resiliente Bob
Resilienz beschreibt die Fähigkeit zur ursprünglichen Form zurück zu kehren, nachdem Druck ausgeübt wurde. Es ist natürlich, dass Bob die Spannung fallen lässt, wenn eine Situation gefährlich sein könnte. Wir wären krank, wenn das nicht passieren würde! Der wirklich interessante Messwert, wenn es um unsere Fähigkeit zur Selbstberuhigung geht, ist wie schnell Bob seine Arbeit wieder aufgreift, nachdem er davon verschreckt wurde. Versuche zeigen, dass der traumatisierte Bob länger braucht als ein gesunder, um zu seiner Arbeit zurück zu kehren und dann auch nicht mit voller Kraft dabei ist. Mehr zu polyvagalem Pendeln
Unterstützung für Bob?
Es braucht noch eine Menge Forschung, um verlässliche Wege zu finden Bob zu beeinflussen und seinen Einfluss zu ‘stärken’. Einige Ideen basieren auf den Körperregionen, in die Bob seine Arme ausstreckt (siehe oben). Der Einfluss besteht nicht nur in eine Richtung (zB Gehirn über Bob zum Herzen) sondern auch anders herum (Herz über Bob zum Gehirn). Etwa 80% der Aktivierung in Bob gehen vom Körper zum Gehirn. Da kann man ansetzen.
Die Dinge, die wir jetzt nennen, wurden auf ihre Wirksamkeit zur Selbstberuhigung und Emotionsregulation hin getestet. Man hat das allerdings noch nicht alles im Hinblick auf Bob-Testwerte gemacht. Sie passen trotzdem schlüssig in die Theorie.
- Sport (offensichtlich ein Allheilmittel, also los!)
- Atemübungen
- etwas Wasser trinken
- singen (das verbindet gleich mehrere hilfreiche Ideen)
- pfeifen oder ein Blasinstrument spielen
- saugen (lieber an Stim Toys als an Zigaretten. Sowas findest du in Läden für den Autismus* Bedarf. Da gibt es auch Gewichtsdecken, die sich sehr interessant in die Theorie einfügen)
- sprechen während einer Orientierungs/Grounding Übung
- mutwillig Mimik verwenden, wie ein Lächeln halten
- Musik hören (Bob mag ganz tiefe und sehr hohe Töne nicht. Vielleicht also ohne Bass und Kreischen)
- Yoga, als integrierte Erfahrung von Körper, Atem und Aufmerksamkeit
- sichere Berührung zB eine Massage
- ….
Ich hoffe, du findest das alles auch so interessant wie ich. Wenn du Fragen hast oder Gedanken zur Theorie, schreib das gerne in die Kommentare unten rein.
Mehr zur Polyvagal Theorie in
*Autismus zeigt ähnliche Bob-bezogene Probleme wie PTBS: Probleme in Kommunikation und Verbindung, Affekt Information und Regulation, Prozessieren von sensorischer Stimulation, Augenkontakt, Aufmerksamkeit, Schlaf, Überflutung bis hin zum Shutdown etc.
Lea says
Großartiger Artikel. Vielen Dank.
Mein Bob ist etwas angeschlagen. Ich freue mich etwas darüber zu lernen, wie ich ihm helfen kann.
Rudi says
Wunderbar!
So anschaulich und verständlich habe ich das bisher noch nirgends gefunden! Vielen Dank – das ist große Kunst!