Wissenschaft rund um den Vagus ist ein aufregendes, neues Trendthema und wird so vermarktet, als hätte das fast magische Kräfte, damit Menschen sich besser fühlen. So kriege ich immer wieder E-Mails, wo gefragt wird, wie man den Vagus ‘stärken’ oder ‘stimulieren’ könnte. Ich denke manches davon basiert auf einem Missverständnis. Ich hoffe, ich kann das klären.
Der Vagus ist ein Nerv, kein Muskel. Ihr könnt den nicht trainieren, damit er stärker wird. Und ich kann keine Massage empfehlen, die irgendwie den Vagus stimulieren würde, so als könnte man den anfassen und dafür sorgen, dass er besser funktioniert oder eine Blockade lösen. Der ist so was wie ein elektrisches Kabel zwischen unserem Gehirn und unserem Körper. Es macht keinen Sinn ein elektrisches Kabel zu stimulieren. Massagen können uns helfen uns besser zu fühlen und der Vagus spielt da mit eine Rolle, aber aus völlig anderen Gründen. Euer Vagus ist wahrscheinlich völlig in Ordnung und muss nicht repariert werden. (Wenn nicht, habt ihr ganz andere Probleme…)
Genaugenommen gibt es so etwas wie Polyvagale Therapie nicht, wir können den Vagus nicht ‘behandeln’. Polyvagal-informierte Therapie gibt es sehr wohl.
Um da hin zu kommen, müssen wir als erstes verstehen, was in unserem Körper passiert.
Der Vagus ist wichtig, weil er unser Gehirn mit unserem Körper verbindet. Ein Bild, was dafür regelmäßig verwendet wird, ist eine Autobahn. Viel mehr Information geht vom Körper zum Gehirn, als vom Gehirn zum Körper geleitet wird. Wie 4 Spuren Körper-Gehirn und eine Spur Gehirn-Körper. Daraus ergibt sich eine Feedback-Schleife.
Unser Sinnessystem nimmt einen Reiz auf, die Information geht zum Gehirn. Das Gehirn braucht mehr Informationen und signalisiert zurück, dass der Kopf gewendet werden muss zum orientieren. Der Körper erstarrt und wir schauen und lauschen nach Hinweisreizen auf Sicherheit oder Gefahr. Unsere Muskeln spannen sich, das Gehirn kriegt all diese Empfindungen zurück, interpretiert sie und signalisiert zurück…
Unser innerer Zustand von Regulation (oder Dysregulation) ist ein Ergebnis dieser Feedback-Schleife.
Der zweite Schritt zu polyvagal-informierter Therapie ist die polyvagale Leiter zu verstehen und unsere Stress Systeme. Das lehrt uns, wie wir Dysregulation erkennen und wann wir einschreiten müssen. Wahrscheinlich die Hälfte von polyvagal-informierter Behandlung beruht darauf zu lernen zu erkennen, wann wir in Flight/Fight oder Freeze gehen, was der Körper tut, wie sich unsere Emotionen und Gedankenmuster verändern, wie sich ein Shift im Anspannungszustand anfühlt wenn wir uns von ventral vagaler Aktivierung zu sympathischer Anspannung oder dorsal vagalem Einfluss bewegen. Wenn wir uns nicht bewusst sind, was passiert, können wir es nicht verändern. Die Polyvagal Theorie hat uns vor allem neue Vokabeln gegeben, um diese Veränderungen in Spannungszuständen zu benennen.
Ziel ist es, zu lernen sich mit dem Rhythmus der Regulation zu bewegen und ihn zu beeinflussen.
Der Rest von polyvagal-informierter Therapie besteht daraus, Wege zu finden die Feedback-Schleife zwischen Körper und Gehirn bottom-up oder top-down zu beeinflussen. Das tut man nicht, indem man irgendwie am Vagus selbst rum spielt. Wir versuchen Hinweisreize auf Sicherheit zu erschaffen, sodass unsere Neurozeption die Situation als sicher erkennen kann. Wegen dem starken Einfluss vom Körper ausgehend, ergibt es Sinn dabei mit unserem Sinnessystem zu arbeiten und der Wahrnehmung von sicheren Reizen von außen, aber auch von innerhalb unseres Körpers. (Deswegen ist es ein sehr logischer Schritt von der Polyvagal Theorie zu Körperarbeit)
Bottom-Up
Wir finden vielversprechende Orte für Interventionen, wenn wir uns anschauen, wo der ventrale Vagus hin reicht:
- Herz
- Lungen
- Kehlkopf
- Stimmbänder
- Luft/Speiseröhre
- Gesicht/Augen
- Innenohr
- …
Nochmal, es geht nicht um den Vagus selbst, wir schauen nach Körperteilen wo wir den sensorischen Input ändern können, um die Feedback-Schleife mit dem Gehirn über den Vagus zu beeinflussen.
Eine der schnellsten Wege unser Herz und unsere Lungen zu beeinflussen, ist unseren Atem zu regulieren. Das ist der Grund, warum Atemübungen ganz oben auf der Liste der Bottom-Up Interventionen stehen. Jedes Einatmen wird begleitet von einer kleinen Aktivierung im SNS, jedes Ausatmen aktiviert das PNS ein wenig. Deswegen verlängern wir immer das Ausatmen und achten darauf, eine kurze Pause zu machen, bevor wir wieder einatmen. Atemtherapie ist keine Erfindung der Polyvagal Theorie. Das wird schon sehr lange praktiziert.
Alles mögliche, was wir mit unserem Kehlkopf und unseren Stimmbändern anstellen können, kann helfen. Summen, singen, sprechen, einen Schluck Wasser trinken, einen Snack essen, an einem Bonbon lutschen. Es gibt Leute, die sich da Übungen zu ausgedacht haben, um diese Regionen zu aktivieren, aber das gute alte vor-sich-hin-summen, mit einer leichten Vibration im Kehlkopf, tut es tatsächlich auch.
Geräusche machen ist eng verknüpft damit, Geräusche zu hören. Musik hören sendet Feedback ins Gehirn. Wähle etwas Sanftes, ohne tiefe Bässe oder hohes Kreischen und ganz allgemein so, dass es mehr zum hin und her schwingen als zum Kopf-zum-Beat-nicken einlädt. Wie auch die Atemtherapie ist Musiktherapie nichts Neues. Wir verwenden das nur mit einem besseren Verständnis davon, warum das wirkt.
Sehen und Tastsinn bieten einfache Wege unser Wohlbefinden zu beeinflussen.
Forschung zeigt, dass der Anblick von Natur (besonders von natürlichen Wasserquellen, aber jede Natur funktioniert) unser Nervensystem beruhigt. Wir müssen mehr Spazieren gehen! Und Spaziergänge in der Stadt zählen dabei nicht.
Wir können uns aber auch Bilder von Natur anschauen und kriegen einen beruhigenden Effekt. Es wäre weise, unser Zuhause etwas umzudekorieren, Zimmerpflanzen, Bilder, einen Zimmerbrunnen etc hinzuzufügen. Man hat selbst festgestellt, dass der Anblick von Möbeln aus Holz mehr beruhigt als der von künstlichen Materialien.
Berührung kann schwierig sein für Traumatisierte. Das klappt prinzipiell nur, wenn das als sicher wahrgenommen werden kann. Dann könnte sowas wie Massagen, funktionelle Entspannung oder Feldenkrais vielleicht helfen.
Unsere Wahrnehmung von anderen Personen im Raum sendet Informationen zurück an unser Gehirn. Das läuft meist unbewusst ab, aber wir bemerken den Zustand des Nervensystems des anderen sehr schnell und das gibt uns entweder Hinweisreize auf Gefahr oder Sicherheit. In Gegenwart einer regulierten Person zu sein, ist eine der stärksten Wahrnehmungen, die unsere Feedback-Schleife beeinflussen, sodass wir uns entspannen. Augenkontakt mit jemandem aufzubauen ist Teil davon.
Co-Regulation beeinflusst jede Form von polyvagaler Intervention, die wir verwenden. Singen oder Summen in einer Gruppe oder im selben Takt mit jemandem atmen verstärkt den positiven Einfluss auf die Feedback-Schleife. Menschen sind Rudeltiere. Wenn die Gruppe entspannt ist und wir uns in der Herde sicher verbunden fühlen durch einen gemeinsamen Rhythmus, dann beruhigen wir uns auch.
Statt einen Hype aus polyvagalen Interventionen zu machen, möchte ich euch einladen, einfach mal selber drüber nachzudenken, basierend auf den bisherigen Erkenntnissen. Weit mehr als jede schlaue Übung brauchen wir eine Neurozeption von Sicherheit.
Top-Down
Der Einfluss von unserem Verstand auf den Körper ist geringer, aber er ist vorhanden.
Imaginationsübungen sind wohl der effektivste Weg so die Feedback-Schleife top-down zu beeinflussen. Wenn wir uns die Gehirnaktivität anschauen, können wir sehen, dass wenn wir uns etwas vorstellen, das Gehirn quasi die selbe Aktivierung zeigt, wie wenn wir etwas wirklich tun. Der Körper reagiert dem entsprechend.
Stell dir einen super saftigen Burger in deiner Hand vor, wie warm sich das Brötchen in deinen Fingern anfühlt, wie er riecht und wie du jeden Moment einen Bissen davon nehmen wirst, wie es schmecken wird… vielleicht läuft dir wortwörtlich das Wasser im Mund zusammen. Der Körper reagiert.
Wenn wir beruhigende Imaginationen wie den Inneren Garten oder eine Übung mit Wasser oder einfach nur den guten alten Sicheren Ort verwenden, hacken wir die Feedback-Schleife und unser Körper reagiert mit Entspannung. YouTube ist voll von Anleitungen zu entspannenden Imaginationen. Sucht euch was aus.
Ähnlich wie bei klassischen Imaginationsübungen können wir auch positive Erinnerungen verwenden von Situationen, wo wir uns sicher, verbunden und geborgen gefühlt haben. Wir nehmen uns Zeit, uns an gute Zeiten zu erinnern und der Körper beruhigt sich.
Wir können auch unsere Vorstellungskraft nutzen und innere Bilder entstehen lassen von zukünftigen Situationen, wie zB bei lieben Menschen zu sein, einen Urlaub am Strand, nach der Arbeit im Pool zu sitzen…
Weil Dysregulation in direkter Verbindung zu einer (inneren) Situation steht, können wir versuchen unsere Gedanken darüber zu verändern. Es braucht Übung, um fähig zu sein Gedanken umzulenken und achtsame Meditation kann uns helfen, das zu lernen. Wir können auch positive Zusprache und eine freundliche, ruhige, melodische innere Stimme verwenden, um uns selbst zu sagen, dass alles gut wird. Manchmal kann es schon helfen, uns eine Situation zu erklären, mit Mitgefühl die Stressreaktion zu benennen, die wir gerade erleben, achtsam zu bemerken wie uns das beeinflusst und uns zu versprechen, dass es vorbei geht, um den Stress zu reduzieren und den Körper ein klein wenig zu entspannen.
Man kann aus sowas keine neue Therapieform basteln. Das wird alles schon lange verwendet und ist zum Teil schon seit Jahrhunderten bekannt. Die Polyvagal Theorie schenkt uns nur ein besseres Verständnis davon, warum es funktioniert. Die moderne Therapeutin wird dieses Wissen immer wieder in der normalen Therapie Arbeit einstreuen. Sie schafft ein sicheres Umfeld in ihrer Praxis, setzt bewusst Hinweisreize von Sicherheit. Sie achtet auf die Stressreaktionen ihrer Klientinnen und bietet Co-Regulation und kleine Interventionen wie oben beschrieben an.
Wenn wir nach einer schon real existierenden Therapieform suchen, die sich stark auf die Polyvagal Theorie stützt, müssen wir uns Körperarbeit im allgemeinen und Somatic Experiencing im speziellen anschauen. Das arbeitet nah an polyvagalen Konzepten. Das ist auch ganz spezifisch für Traumapatienten. Wenn du diesen Beitrag gefunden hast, weil du nach einer Entlastung von Stress in deinem Alltag gesucht hast, würde ich dich bitten, diese sehr begrenzten Plätze bitte denen zu lassen, die sie am meisten brauchen. Achtsames Yoga hast wissenschaftlich erwiesen einen positiven Einfluss durch den Vagus. Versuch es einfach.
Wenn du mit komplexem Trauma lebst, würde ich dich einladen, dir das Konzept von Somatic Experiencing mal anzuschauen. Das unterscheidet sich von anderer Trauma Arbeit und ist eine wertvolle Ergänzung zu kognitiven Verfahren.
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