Bindung und Abhängigkeit waren schon immer knifflige Themen in der Therapie. Ein Entwicklungstrauma bringt noch bodenlose Verzweiflung mit ins Spiel und macht alles viel komplizierter. Zur Vermeidung von ungesunden Abhängigkeiten wurde schon genug geschrieben. Ich möchte heute das Augenmerk darauf richten, was für einen Einfluss chronische Vernachlässigung in der Kindheit haben kann und wie dieses alte Muster sich manchmal in die therapeutische Beziehung schleicht, ohne dass jemand es merkt.
Manche Traumatisierte fühlen sich hilflos, machtlos und außer Kontrolle über ihr Leben. Sie suchen nach anderen, die das für sie reparieren, sich um ihre Probleme kümmern und dafür sorgen, dass sie sich besser fühlen. Mit einem Hintergrund von chronischer Vernachlässigung können wir auch das entgegengesetzte Muster entwickeln. Wir haben gelernt, dass unseren Bedürfnissen am ehesten begegnet wird, wenn wir uns selbst darum kümmern. Also werden wir in vielen Bereichen des Lebens außergewöhnlich kompetent, um sicher zu stellen, dass wir niemanden sonst brauchen. Wir machen es eben alleine. Nach Hilfe zu fragen bringt uns sowieso nicht weiter. Hinter dieser Hyper-Unabhängigkeit steckt oft die Angst vor Ablehnung und Verletzlichkeit. Es ist sicherer niemanden zu brauchen.
Wenn es um DIS geht, haben wir es in der Regel mit beiden Tendenzen zu tun, die auf verschiedene Anteile verteilt sind. Die, die das tägliche Leben managen können hyper-unabhängig sein während jüngere Anteile oft ein tiefes Bedürfnis nach Bindung haben. In beiden Sorten von Anteilen werden wir Gefühle von Vernachlässigung finden.
Hyper-abhängige Anteile
Es ist eine persönliche Beobachtung, dass zumindest ein gewisser Grad von Abhängigkeit von Ts bevorzugt wird. Das scheint eher die Regel bei Depressions- und Angst Patient:innen und viele Ts die wir erlebt haben, schienen sich damit wohler zu fühlen. Es wird erst krass, wenn bedürftige Kindanteile aktiviert sind und ihre alten Erfahrungen in der Therapie wieder erleben. Ihre Bedürftigkeit ist bodenlos und nichts als 24/7 Betreuung könnte je genug sein für sie. Je mehr man sich um sie kümmert, desto mehr tritt vielleicht die Frontperson zurück und lässt das passieren ohne daran teilzunehmen. Das verstärkt die Dissoziation und destabilisiert das System. Ts müssen Grenzen setzen.
Was uns in Verzweiflung zurück lässt. Es ist normal, dass dann traumatische Erinnerungen von Vernachlässigung hoch kommen. Wir werden von alten Überzeugungen geflutet (‘ich bin schlecht und verdiene keine Hilfe’, ‘Ich bin zu viel und werde deswegen verlassen’, ‘Ich sollte besser sterben/weg rennen/Kontakt abbrechen/mich bestrafen’ usw). Was da passiert ist nicht wirklich Vernachlässigung durch unsere Ts. Wir werden nur konfrontiert mit der ganzen alten Vernachlässigung, die wir damals erlebt haben. Das kann sich völlig überwältigend und Ohnmächtig anfühlen, wenn wir in der kindlichen Perspektive und Erfahrung fest stecken.
Was hilft
Wenn Bedürfnisse in der Vergangenheit fest stecken, ist es unmöglich ihnen heute zu begegnen. Das bedeutet, Anteile die verzweifeln in ihrer Angst vor Bindungsverlust müssen erst mal in der Gegenwart geerdet werden. Sie müssen lernen, dass der Körper jetzt groß ist, das Trauma vorbei, dass sie sicher sind, missbräuchliche Bezugspersonen weg sind und die Gegenwart anders aussieht.
Als nächstes sollten wir so richtig gut werden in Realitäts-Checks. Was passiert gerade wirklich? Wer sind die Ts, von denen wir Fürsorge erwarten? Was ist der Job von Ts und warum gehört da Freizeit, Grenzen und uns nicht betüddeln dazu? Was genau haben die gesagt, als sie eine Grenze formuliert haben? Wörtlich. Sie haben nie gesagt, dass sie weg gehen. Unser nächster Termin ist in 3 Tagen. usw
Kindanteile neigen dazu ganz ehrlich alte und heutige Erfahrungen nicht auseinander halten zu können und wir brauchen dieses ‘gleich aber anders‘-Spiel zur Unterscheidung, sonst bleiben sie da stecken. Das braucht meist Zeit zum festigen.
Je mehr Anteile von uns lernen sich selbst um die Bedürfnisse anderer Anteile zu kümmern, sie zu beruhigen oder bei ihnen zu sein, desto weniger müssen wir uns auf Personen von Außen stützen (Hilfe dafür). Die mit einer Neigung zur Fürsorge können üben das noch etwas mehr zu übernehmen. Ein inneres Team, das so zusammen arbeitet, wird nicht so schwer durchgeschüttelt, wenn alte Bedürfnisse getriggert werden.
Die gesunden Grenzen unserer Ts sind keine Vernachlässigung. Unsere Ts machen einen Job, zu dem Grenzen dazu gehören. Sie werden dafür bezahlt uns zu helfen zu lernen zusammen zu arbeiten, nicht dafür unsere Eltern zu spielen. Diese Gefühle von Vernachlässigung sind meist alte Gefühle aus der Vergangenheit und Ts die Grenzen setzen, werden eher kein Muster von Vernachlässigung bestärken, die re-aktivieren nur ein schon vorhandenes.
Hyper-unabhängige Anteile
Die wirkliche Gefahr alte Muster von Vernachlässigung noch zu bestärken tut sich bei den hyper-unabhängigen Anteilen auf. Die sind so geworden, wie sie heute sind, weil sie das mussten, niemand sonst hat sich drum gekümmert. Jetzt wissen sie sehr gut, dass sie es auch alleine schaffen, dass sie niemanden brauchen, sie sind stark, schlau und… einsam. Bräuchten dringend Unterstützung und Beistand. Vielleicht sind sie bitter, sehr wahrscheinlich aber mindestens zynisch was Hilfe angeht. Weder die Not noch der innere Wunsch nach Beistand sind weg. Die sind nur sorgfältig überdeckt mit hoch-funktionalem Verhalten. Manchmal haben wir auch einen Punkt erreicht, wo wir nicht mal mehr irgendwen an uns ran lassen wollen, wir lehnen Hilfeangebote ab und machen noch Witze drüber, aber tief drinnen macht uns die Isolation, die Einsamkeit und das immer alles alleine können müssen kaputt. Das hat den selben Beigeschmack von Verzweiflung, den auch hyper-abhängige Anteile spüren. Nur weil es die über-kontrollierte Variante ist, tut es nicht weniger weh.
Es sieht nur anders aus. Wir sind diejenigen, um die sich nie jemand sorgt. Menschen vertrauen uns auch knifflige Situationen ohne Supervision zu meistern. Weil wir keine Hilfe suchen, wird wohl alles in Ordnung sein. Man überlässt es uns Dinge rauszufinden, schließlich sind wir ja schlau.
Wir selbst hatten Ts, die uns mit allem rund um Anteile alleine gelassen haben und einfach erwartet haben, dass wir das hinkriegen. Und als wir es hin bekommen haben, war ja alles ok, dann braucht man sich auch nicht extra weiterbilden. Es können Wochen ohne Kontakt oder Termine vergehen und das fällt gar nicht auf. In Kliniken kann es passieren, dass ganze Teams uns einfach vergessen. Wenn wir nicht mit einem Problem ankommen, wird es keines geben. Derweil sitzen wir in unserem Zimmer und ringen völlig unbemerkt mit größter innerer Not und kommen gar nicht auf die Idee nach Hilfe zu suchen, weil es in unserer Welt keine gibt, das war nie anders. ‘Andere Menschen’ sind in unserem Muster von Problemlösungsverhalten schon vor langer Zeit als Option verschwunden.
Und selbst wenn Hilfe angeboten wird, haben wir vielleicht gar kein Grundkonzept davon und wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. Wenn jemand neben dran sitzt, wissen wir nicht, wie wir diese Gegenwart in etwas Hilfreiches für uns umwandeln sollen, weil wir nicht wissen, die man andere rein lässt oder helfen lässt. Manchmal wird man dann beschuldigt, sich nicht helfen lassen zu wollen, aber wir wissen buchstäblich nicht wie. Wir sind eben nicht mehr wie die Kinder, die noch schreien. Wir sind wie die Kinder, die resigniert sind und andere Menschen gar nicht mehr als mögliche Bindungspersonen oder als Quelle von Unterstützung wahrnehmen.
Ts, die unsere Hyper-Unabhängigkeit als ein Zeichen deuten, dass alles ok ist, bestärken dieses innere Muster von Vernachlässigung. Sie werden uns alleine lassen und den Hilfeschrei übersehen, der sich hinter dem Funktionieren verbirgt. Die goldene Regel bei DIS lautet: Wenn ihr das Drama nicht seht, dann findet es im Stillen statt.
Was hilft
Hyper-Unabhängigkeit ist nicht gesund, weil das nicht ans Leben angepasst ist. Wir können unmöglich alles können oder lernen, was es fürs Leben bräuchte. Menschen brauchen sich gegenseitig. Es ist normal Bedürfnisse zu haben und sich Beistand zu wünschen. Wenn wir uns unseren normalen menschlichen Bedürfnissen akzeptierend annähern, können wir mit unserem Verhalten flexibler werden und öfter Hilfe suchen.
Um neue Erfahrungen machen zu können, müssen wir anderen Menschen die Chance geben zu reagieren. Das bedeutet wir müssen kommunizieren und unsere Bedürfnisse ausdrücken. Wenn wir ein wenig Hyper-Unabhängigkeit abgeben, heißt das nicht, dass wir gleich total abhängig werden. Wir schrauben unser Verhalten nur runter auf gesunde Unabhängigkeit. Überkontrollierte Anteile laufen ohnehin eher nicht Gefahr anderen Menschen so viel Kontrolle über ihr Leben zu geben…
Eine schwierige Situation tut sich auf, wenn wir um Hilfe bitten und sie nicht kriegen. Das passiert oft. Menschen haben andere Verpflichtungen, keine Zeit oder Energie usw. Es kann unmenschlich schwer sein ein zweites Mal zu fragen, wenn wir beim ersten Mal abgelehnt wurden. Wenn wir versuchen eine Überzeugung wie ‘Ich bin immer alleine, niemand ist je für mich da’ zu ersetzen, dann können wir das nicht mit einer Überzeugung wie ‘es ist immer jemand da zum helfen’ machen. Das ist nicht wahr und spiegelt nicht die Realität wieder. Menschen sind für uns da, manchmal. Und oft kriegen wir nicht die Hilfe, die wir brauchen. Es braucht da gründliche Realitäts-Checks um zu klären, wie die Statistik so ausfällt. Vielleicht sind 10% unserer Versuche erfolgreich. Das sind dann 10% und nicht Nichts. Wir können dann unsere Erwartungen von Beistand entsprechend runter schrauben. Das ist immer noch super schmerzhaft, weil wir die meiste Zeit alleine bleiben, aber wenn wir die Einschätzung der Zahlen hin kriegen, hält uns das davon ab völlig in die gefühlte Vernachlässigung zu kippen. Manchmal gibt es Hilfe. Nicht ideal, aber sie ist da. Wenn es noch weniger positive Reaktionen als das gibt, müssen wir uns vielleicht andere Menschen suchen, an die wir uns wenden. Vielleicht fragen wir die falschen.
Manchmal wird das Bedürfnis sich zurück zu ziehen und einfach niemanden mehr anzusprechen übergroß. Warum die Mühe, bei der niedrigen Erfolgsrate. Wenn wir uns entscheiden, dass wir uns nicht mehr darum bemühen, sollten wir uns sehr klar machen, dass das unsere eigene Wahl ist. Wir suchen uns das aus, dass es uns lieber ist alleine zu sein statt eine 10% Erfolgsrate zu riskieren. Es gäbe da schon ein bisschen Beistand aber wir entscheiden bewusst, ihn nicht zu suchen. Wir kontrollieren diese Situation durch unsere Wahl. Dieses Bewusstsein kann uns davor schützen ein altes Muster von Vernachlässigung zu verstärken. Es ist nicht Vernachlässigung, wenn wir Hilfe mutwillig abgelehnt haben.
Ein Wort an Ts
Wenn eure Patient:innen auffällig viel weniger Arbeit machen, als das zu erwarten wäre, ist es wahrscheinlich dran, doppelt zu prüfen was los ist. Das ist nicht automatisch ein Erfolg oder Grund sich zu freuen. Sie brauchen vielleicht Hilfe, können eine Interaktion aber nicht initiieren oder realisieren überhaupt nicht, dass eine Interaktion es besser machen könnte. Darauf zu warten, dass hyper-unabhängige Patient:innen von selber ankommen klappt nicht wirklich. Das ist ja gerade das Problem mit der Hyper-Unabhängigkeit. Geht dem nach, ladet ein, fragt, bietet Wahlmöglichkeiten. Unserer Erfahrung nach nutzt eine Einladung zum Testen wenig, wenn es innerlich gar kein Konzept von Hilfe gibt. Zu sehr pushen verstärkt nur die Vermeidung, aber gar nicht nach-gehen kann vernichtend sein und untergräbt in völliger Stille die therapeutische Beziehung, ohne dass irgendjemand was gemacht hat. Nur weil man uns nicht hören kann, heißt dass nicht, dass wir ok sind. Vernachlässigte Kinder sind es gewöhnt sich zurück zu ziehen und still zu werden und so wenig Arbeit zu machen wir nur möglich. Deswegen ist das ja so nützlich für Täter:innen. Wenn ihr nie checkt wie es bei uns aussieht und abwartet, ziehen wir uns nur mehr zurück. Nichts tun ist das Schlimmste, was ihr tun könnt.
Silvi says
Danke für diese wahre Zeilen. Ich verspüre gar kein Bedürfnis nach Hilfe, davor stehen der Glaube ‘es gibt einfach keine, es entweder allein schaffen oder etwas sein lassen, um Hilfe bitten bedeutet Scham, zugeben daß ich zu doof und zu schwach bin, sich abhängig machen, dem anderen was schuldig sein, und das allerschlimmste ist jemand anderem zur Last zu fallen, also unbedingt vermeiden 🙁 . Insgeheim wünsche ich mir einen Helden, Beschützer, Retter, Kümmerer und gleichzeitig wissend daß es auch das nie für mich geben wird. aufgegeben. wenn es wirklich dann mal jemand gibt der da ist und was für mich tut, falle ich leicht da rein selbst nichts mehr zu tun, doch auch dieses Gefühl ist mir zuwider daß ich mich lieber wieder von dem Mensch entferne und zurück ziehe.
doch es gibt auch kleine Erfolge bei bestimmten Dingen nach Hilfe zu fragen und die anzunehmen.
ich will gerne was selbst können und verstehen, aber nicht alles. manches was für die meisten einfach erscheint traue ich mich nicht heran. das hat aber auch noch andere Gründe.
ein großes Problem, daß es scheint ich könnte alles, bräuchte deshalb keine Hilfe, weil ich auch nie frage, obwohl es anders ist, ich es nicht zeigen kann, nicht weiß wie, dann kommen wieder die Dinge zu tragen wie oben beschrieben. ein offenes ehrliches und freies Angebot von außen immer wieder könnte den Weg öffnen, auch wenn es vielleicht anfangs öfter abgelehnt wird.
ich wünsche wir wären alle aufmerksamer und sensibler – für uns selbst und auch mit anderen – liebevoll, jenseits von Egomanien !
Nini says
Liebe Theresa, ich kann dir gar nicht genug danken für diese Zeilen.
Genau das kenne ich auch und zwar beides.
Wenn ich jetzt anfangen würde, mich auf konkretes zu beziehen, müsste ich den ganzen Artikel zitieren, deshalb lasse ich es!
Erst vor kurzem hatte ich es mit meinem Th über sein Grenzen ziehen und den Hardcore Realitätscheck. (Gibt es Beweise, mit denen du zur Polizei gehen könntest …) und auch, dass sein Grenzen setzen nicht bedeutet, dass er uns verlässt oder dass wir keine Bedürfnisse haben dürfen.
DANKE, DANKE, DANKE!