Dieser Artikel geht um sexuelle Gewalt und Sexualität und ist potenziell triggernd. Bitte achtet auf euch und hört auf zu lesen, wenn ihr Anzeichen von Dissoziation oder Flashbacks bemerkt.
Es ist schwer, über sexuelle Anteile zu sprechen, ohne dabei jemandem auf die Füße zu treten. Ich werde einen integrativen Ansatz mit euch teilen und ihr müsst euch dabei im Klaren darüber sein, dass das nicht die einzige Möglichkeit ist, sich dem Thema zu nähern. Am Ende müssen alle selbst raus finden, was bei ihnen klappt. Das hier funktioniert für uns und ich hoffe, es fügt eine Option für euch hinzu, sodass ihr mehr Auswahl habt. Es gibt hier keine Textbuch Lösung. Manche Menschen mit DIS haben auch gar keine explizit sexuellen Anteile und das ist auch normal.
Eine systemische Sicht
Bevor wir mit sexuellen Anteilen Kontakt aufnehmen, kann es helfen, ihre Rolle zu verstehen. Sexualität ist ein gesunder Teil der menschlichen Existenz. Alle haben Sexualität und sexuelle Bedürfnisse. Menschen unterscheiden sich darin, wie genau das ausgeprägt ist, aber das ist normal und geht auch nicht weg. Das bedeutet, es wäre gut sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass wir als System eine eigene Sexualität haben. Wir haben vielleicht gelernt, sie zu fürchten oder zu verachten, schämen uns dafür oder hassen sie, aber sie ist nun mal Teil von uns.
Wenn wir das Konzept von Handlungssystemen noch mal raus holen, können wir sehen, dass Sexualität da dazu gehört. Beim Versuch das ganze Thema aus unserem Bewusstsein zu verbannen, kamen Anteile bei raus, die das fürs ganze System übernommen haben, denn irgendwo musste es hin. Das ist der Preis, den wir dafür zahlen, uns eine Weile nicht damit auseinander setzen zu müssen.
Leider ist Sexualität ein ziemlich großes Thema und erstaunlich viel wichtiger als erhofft. Und sexuelle Anteile sind meist zu jung und langfristig nicht geeignet, um so einen großen Lebensbereich ohne Beistand zu managen, ganz besonders, wenn alle ihre Erfahrungen auf sexueller Gewalt beruhigen. Sie brauchen Unterstützung. Wir können das Thema nicht ewig vermeiden.
Ich halte es für sinnvoll, damit zu beginnen, sich anzuschauen, wer im System denn Zugang zum Handlungssystem von Sexualität hat. Vielleicht hat ein Anteil alles abgekriegt oder es gibt mehrere Anteile, die verschiedene Aspekte abdecken. Wenn wir Kontakt aufnehmen, werden wir es zumindest ein wenig mit Erinnerungen an sexuelle Gewalt zu tun kriegen, deswegen ist es völlig ok für sowas gar nicht tief zu gehen. Wir brauchen nur einen groben Überblick, wer in dem Bereich aktiv ist, damit wir wissen, mit wem wir arbeiten.
Anteile, die sich ein Handlungssystem teilen, haben es oft leichter mit der Zusammenarbeit. Es hilft, wenn es erwachsene Anteile gibt, die schon etwas vielfältigere Erfahrung haben, es ist aber auch sehr häufig, dass Host Sexualität grundsätzlich stark meiden. Wir gehen hier mal vom vermeidenden Typ ANP aus, weil der Weg zur Integration da der weiteste ist.
Wege des Überlebens
Dann können wir schauen, wie diese Anteile funktionieren. Es ist möglich da weiterhin sehr logisch zu bleiben, indem wir uns anschauen, zu welchen Handlungssystemen sexuelle Anteile denn noch Zugang haben.
Einige zeigen klar eine defensive Strategie von Appeasement und Unterwerfung. Sie mögen nicht, was da passiert, aber sie halten still und lassen es geschehen. Das ist eine schlaue Strategie, die zusätzlichen Schmerz oder Strafe verhindert. Diese Anteile beschützen das System vor Schlimmeren und haben oft einen sehr geringen Selbstwert, aber sie sind im ihren Kern nicht sexuell ausgerichtet.
Andere fühlen sich den Tätern überlegen, behaupten mit ihnen zu spielen, die Kontrolle über die Situation zu haben und dass es das ist, was sie wollen; sie bewegen sich im Handlungssystem von Dominanz und Kontrolle. Solche Anteile neigen dazu, sich zu prostituieren, um ihre Macht und Selbstständigkeit zu demonstrieren. Uns in einer hilflosen Situation zu überzeugen, dass wir in Kontrolle sind, ist eine kraftvolle Art zu überleben und sich dabei nicht versehrt zu fühlen.
Und dann gibt es Anteile, die gelernt haben, die sexuellen Interaktionen, zu denen sie gezwungen wurden, zu mögen. Sie spüren echte Lust, mögen die Aufmerksamkeit und sie fühlen sich gut damit. Sie bewegen sich eher im Handlungssystem von Bindung oder sozialer Interaktion. Manchmal haben sich Schmerz und Lust vermischt und sie sind masochistisch und verlangen Schmerz, wenn sie sich sexuelle Abenteuer suchen. Auch das ist ein Weg, wie wir uns selbst verdrehen, um einer unmöglichen Situation zu begegnen. (Mehr zur Logik des Überlebens)
[Organisierte Gewalt führt oft zu etwas anderen Anteilen, weil sie aktiv für sexuelle Interaktionen trainiert werden. Manche lernen zu performen ohne dabei irgendwas zu spüren, andere werden konditioniert den Wünschen von Käufern mit Lust zu begegnen. Wir sind keine Expertin in dem Gebiet. Ich sag das nur dazu, weil die Behandlung hier etwas anders aussehen kann]
Ablehnung überwinden
Solche Anteile zu haben, ist schwer zu akzeptieren. Weil sie so eng verknüpft sind mit Übergriffen, machen sie Angst und so wie sie sind, scheinen sie Ablehnung verdient zu haben, weil sie unsere Grundwerte verletzen. Sie können uns manchmal in schlimme Situationen bringen, wenn sie übernehmen, von Promiskuität über illegale Handlungen und Rückkehr in missbräuchliche Situationen bis hin zu gefährlichen Genitalverletzungen durch Reinszenierung. Manche sind Tätern gegenüber loyal und lieben sie. ANPs wollen am liebsten nichts von ihnen wissen, Trauma Anteile hassen sie, weil sie lieben was als furchtbar erlebt wird, kontrollierende Anteile schauen vielleicht auf sie herab. Es ist eine echte Herausforderung, die Phobie vor solchen Anteilen zu überwinden und sie als etwas anderes anzusehen als feindlich oder eine Quelle von Scham und Abscheu. Es geht aber, wenn wir uns das gesamte Bild anschauen und wie sie notwendig waren fürs Überleben. Sie haben fürs ganze System eine kritische Rolle eingenommen. Das ist logisch nachzuvollziehen und es gibt sogar Untertypen, weil es eben typisch so passiert und wir nicht alleine damit sind. Wir persönlich finden es hilfreicher, von solchen Anteilen als Beschützer zu denken, unabhängig von ihrem Alter, statt zu versuchen sie zu den Kindanteilen zu zählen.
Irgendwer musste den ganzen Bereich von Sexualität fürs System abdecken. Es war zu viel und ließ sich nicht weg machen, deswegen musste es dissoziiert werden. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie sind, wie sie sind. Es ist nur irgendwann Zeit, dass wir mit ihnen zusammen Zugang zu diesem Handlungssystem kriegen, damit wir helfen können.
Sicherheit
Wenn es problematisches Verhalten gibt, müssen wir einen neuen Rahmen stecken, in dem Sexualität sicher Ausdruck finden kann. Das heißt oft, Kontakt zu unsicheren Menschen abzubrechen. Es braucht vielleicht lange Gespräche mit Partnerpersonen, um immer wieder zu schauen, wie es gehen kann. Um für alle Anteile sichere Lernerfahrungen zu bieten, kann es wichtig sein, in Sexspielzeug zu investieren. Die verhindern Verletzungen, die passieren können, wenn Anteile wahllos Gegenstände verwenden und sie helfen Lust und Sexualität zu erforschen, ohne das gleich mit einer Beziehung zu vermischen und den Bedürfnissen einer anderen Person. Oft ist das auch weniger triggernd, weil Spielzeug nicht wie Genitalien aussehen muss. Eine neue Regel, dass Spielzeug verwendet wird, statt sich auf die Suche nach Abenteuern zu machen, bildet ein sicheres Fundament, um in dem Bereich arbeiten zu können.
Wenn ihr euch damit unwohl fühlt, könnt ihr euch dran erinnern, dass das einem therapeutischen Zweck dient und helfen soll mehr über gesunde sexuelle Erfahrungen zu lernen. Sicherheit ist hier wichtiger als Schamgefühl. Wenn man versucht problematisches Verhalten zu kontrollieren, führt das nur zu Machtkämpfen. Es braucht eine Alternative, die sexuellen Bedürfnissen begegnet. Wir müssen aufhören damit, das alles nur weg machen zu wollen. Es ist hilfreich und möglich die meisten Trauma Erinnerungen erst mal in containment zu halten und nur an der heutigen Situation zu arbeiten.
Da bleiben
Wenn sexuelle Anteile Probleme bereiten, dann haben wir oft Amnesie dafür, was genau passiert ist. Wir kommen zu uns, müssen alles wieder richten und irgendwie versuchen zu einem Gefühl von Sicherheit zurück zu kommen. Wenn wir die Amnesien stoppen wollen, heißt das, dass wir lernen müssen, bei diesen Anteilen zu bleiben, wenn sie nach Vorne kommen, statt weg zu gehen, wo wir nichts davon wissen müssen. Es muss nicht perfekt sein und es gibt da Raum für Wachstum, aber es ist wichtig zu verstehen, dass Amnesien nicht einfach so passieren. Wir machen automatisch und aktiv dicht, wenn diese Anteile auftauchen und wir können daran arbeiten immer ein klein wenig länger dabei zu bleiben, um mitzukriegen, was passiert. Indem wir lernen co-bewusst zu bleiben, bekommen wir eine Chance, Einfluss auf die Situation zu nehmen. Dann können wir diesen Anteilen unsere Wünsche erklären und sie anleiten etwas anderes zu probieren und sie kriegen eine Gelegenheit zu erfahren, wie wir uns fühlen, statt nur ihr Ding zu machen. Wenn wir unser bestes geben das alles im Bereich der Selbstbefriedigung zu halten, ohne die zusätzliche Verwicklung mit einer anderen Person, dann ist das im ersten Moment vielleicht immer noch abstoßend oder triggernd, aber es ist harmlos genug, dass wir nicht gleich weg rennen müssen von dem was passiert.
Anteile, die Gewalt als Teil von Sexualität gewöhnt sind, können unter sanfter Anleitung lernen, dass Schmerz gar nicht gebraucht wird, um sich gut zu fühlen. Es kann ein Raum entstehen voneinander zu lernen und neue Möglichkeiten aufzuzeigen.
Dieses Experiment mit dem Co-Bewusstsein muss auch umgedreht werden: wir können sexuelle Anteile bitten, bei uns zu bleiben, wenn wir Dinge tun, die gar nichts mit Sexualität zu tun haben. Manchmal müssen sie erst lernen, dass es in der Welt auch was anderes als Sex gibt und man mehr machen kann. Sie stecken oft in ihrer kleinen Welt, die sehr beschränkt ist und verstehen gar nicht, was man meint, es sei denn wir zeigen es ihnen. Backt zusammen Kekse. Schaut euch die Natur an. Es kann sein, dass es aufregende Erfahrungen braucht, um das Level von Energie zu imitieren, das sexuelle Anteile gewöhnt sind. Sowas wird dringend benötigt. Wir sollten uns nur nichts vormachen und denken, wenn wir das nur lange genug machen und die Übungen zur Sexualität raus lassen, dann verschwindet das und wir müssen uns damit nicht auseinander setzen. Es geht hier nicht ausschließlich um Trauma Anteile, die wir nur gut orientieren müssen. Sexualität bleibt und sie gesund zu integrieren ist unsere beste Chance, sie sicher zu managen.
Es ist ok Übungen klein zu halten. Die Phobie kann sonst schnell überwältigend sein.
Anteile zusammen bringen
Wir brauchen einen Austausch und Gelegenheiten voneinander zu lernen. So switchen wir nicht mehr zwischen den Extremen. Das bedeutet, beide Seiten müssen offen sein für neue Erfahrungen und niemand darf dominant versuchen die anderen zurecht zu biegen oder weniger zu machen, wie sie sind. Wenn wir mehr teilen, balancieren wir uns automatisch mehr aus. Bei sexuellen Anteilen, die außer Kontrolle scheinen, ist es wichtig, sie nicht zu kontrollieren, sondern Beziehungen mit ihnen zu bauen, damit sie mehr vom Leben mit bekommen. Dann kann Sexualität auf eine integrierte Weise einen Platz im Leben finden und wir können lernen, das auch in Beziehungen zu navigieren. Sexualität wird dabei gleichzeitig kleiner und größer. Kleiner, weil die schweren Situationen von Problemverhalten runter gehen und größer, weil das System mehr in Kontakt mit dem Thema kommt und einen gesünderen Ausdruck findet.
Auf dem Weg wird es zu schweren Erkenntnissen kommen. Irgendwann erkennen sexuelle Anteile, dass das, was sie erlebt haben, sexuelle Gewalt war und weder Spaß noch Liebe und dass sie nicht die Kontrolle hatten. Wenn diese Realisationen auftauchen, ist es besonders wichtig, innere Verbindung und Unterstützung etabliert zu haben. Es wird mehr Trauma Arbeit brauchen, um Erinnerungen zu integrieren und das sieht dann wieder mehr aus wie Therapie, die wir gewöhnt sind. Wir können dann übergehen zu Strategien um neue Anteile zu integrieren.
Das ist ein sehr stark integrativer Ansatz und niemand muss das so machen. Wie für vieles im Leben gibt es mehr als einen Weg. Dieser hat uns geholfen in sehr kurzer Zeit die Veränderungen zu etablieren, die wir gebraucht haben, um sicher und mit uns im Kontakt zu sein.
Leila says
Danke für den Artikel! Das ist gerade genau Thema bei uns.