[CN: Wir sprechen über Muster von Vernachlässigung und Verletzungen durch unterlassene Hilfe. Die Zielgruppe für diesen Artikel sind Menschen, die Folter erlebt haben und diejenige, die ihnen helfen. Gehört das zu eurer Lebenserfahrung, tut es wahrscheinlich weh, das zu lesen. Es könnte auch Scham in denen triggern, die dazu neigen, sich die Schuld daran zu geben, dass sie verletzt sind. Das hier ist der zweite Teil einer Miniserie, bei der es um Entmenschlichung und die Heilung davon geht. Wenn dich etwas daran anspricht und du hast keine Folter überlebt oder therapierst jemanden mit solchen Erfahrungen, bitte ich dich, von Kommentaren abzusehen. Das am gröbsten disconnectete Gefühl, das man zu dem allen haben kann, ist Bewunderung. Ich habe da keinerlei Verständnis für. Die Artikel ‘für Fortgeschrittene’ haben keine spezifischen Triggerwarnungen mehr. Ihr könnt damit rechnen, dass sie triggern, wenn ihr noch nicht in späten Phasen der Therapie seid.]
Komplextrauma umfasst manchmal einen Bruch der Verbindung zu anderen Menschen, der über das Gefühl von Entfremdung oder Ablehnung hinaus geht. Folter, chronische Vernachlässigung und das fortwährende Erleben, dass andere Menschen Anzeichen von Gewalt sehen, aber nicht helfen, kann zu einer dissoziativen Blindheit für neutrale oder positive Menschen in unserem Leben führen. Als wir klein waren, hat es niemanden gekümmert, niemand hat etwas gesagt und niemand hat etwas getan, was einen Unterschied in unserer Welt gemacht hätte. Wir haben gelernt, dass wir auf uns gestellt sind und dass es nichts bringt, uns an andere zu wenden für Unterstützung. Wir müssen uns selbst retten und können uns dabei nur auf uns verlassen, uns da durch zu bringen. Es ist leichter, mit dieser Wahrheit zu leben, wenn wir andere Menschen aus unserem Verständnis der Welt und des Lebens löschen. Sie haben nichts mit uns zu tun und wir nichts mit ihnen. Das Ergebnis kann wie stark vermeidende Bindung aussehen und von Laien auch leicht mit Narzissmus verwechselt werden.
Arten, wie wir andere Menschen dissoziieren
Depersonalisierung von Anderen
Depersonalisierung bezeichnet einen dissoziativen Prozess, bei dem die Breite des Feldes von Wahrnehmung von etwas eingeschränkt wird. Unser Bewusstsein wird enger und ein großer Teil des Spektrums der Erfahrung geht verloren. Wenn wir Depersonalisierung von Anderen erleben, ist das Leben wie eine Computerspiel und andere Leute sind wie Charaktere auf dem Bildschirm. Manche stehen nur dekorativ rum, damit das realistisch aussieht. Wir kommen nicht einmal auf den Gedanken, sie anzusprechen. Andere spielen definierte Rollen und wir können uns für bestimmte Anliegen an sie wenden und es gibt für den Austausch sowas wie festgelegte Dialoge. Der Austausch an der Supermarktkasse folgt dem selben Muster wie der mit der Elfen-Händlerin im Computer-Spiel. Es gibt feste Phrasen, die sie benutzen und ein Set von Antworten, die wir geben können und der Austausch war erfolgreich, wenn wir alle Waren bekommen haben, die wir für unsere Quest brauchen. Tiefer gehen die Spiel-Charaktere nicht. Sie sind nur dafür da, uns einen Gegenstand zu verkaufen und sie öfter anzuklicken, führt zu keinem neuen Dialog.
Für Menschen, die mit so einem Konzept von anderen leben, kann es sich beruhigend und befriedigend anfühlen, so eine Szene ohne ins Stocken zu kommen zu meistern. Wir haben das richtige gesagt, alles richtig gemacht und die Standard-Reaktion bekommen. Es ist so schön glatt gelaufen. Und das macht es zu einer guten zwischenmenschlichen Begegnung. Wiederholter Erfolg mit solchen geschmeidigen gegenseitigen Abläufen kann zu positiven Gefühlen gegenüber der Figur führen. Wir fühlen uns ihnen etwas näher, wenn wir wissen, dass wir uns darauf verlassen können, dass unser Austausch glatt läuft.
Sowas kann für Außenstehende ‘autistisch’ aussehen. Aber vielleicht ist es auch nur dissoziativ. Wir leben unser Leben, als wäre das ein Single Player, weil unsere Wahrnehmung der anderen Figuren so begrenzt ist, dass wir nicht merken, dass mehr an ihnen dran ist. Wenn wir uns durchs Leben bewegen, dann ist die Breite von dem, wer sie für uns sind reduziert auf ihre Rolle. Wir erwarten nicht mehr, als den gewohnten Dialog. Wir haben gelernt, von anderen Menschen nichts mehr zu erwarten, das über ihre professionelle Rolle hinausgeht. Es gibt keine anderen Spieler*innen mit einem kompletten Leben hinter der Rolle und keine Möglichkeit für sie, außerhalb ihrer Rolle zu handeln.
Es ist nicht selten, so eine Art von Depersonalisierung von Anderen bei Menschen zu finden, die in Heimen aufgewachsen sind, wo distanzierte Arbeitskräfte nur das nötigste getan haben, um große Gruppen von Kindern am Leben zu erhalten, ohne Wärme oder Mitgefühl für sie. Ihre Erzieher*innen haben darauf geachtet, dass sie wissen, dass sie nur innerhalb einer streng definierten Rolle handeln und für persönliche Beziehung nicht zur Verfügung stehen. Lehrkräfte, Coaches, ärztliche Versorgung und andere Erwachsene in unserem Leben haben das nicht anders gemacht, denn das ist schließlich, wie man sich professionell verhält. Das ist zum Grundmuster geworden für alle Beziehungen: Menschen sind Rollen. Es gibt nichts für uns jenseits dieser Rolle. Deshalb sollten wir nicht das kleinste bisschen mehr von Menschen erwarten. So schützen wir uns vor Ablehnung und mehr Leid. Es gibt einfach nichts, was sie sonst tun können. Sie sind ja nur ganz enge Figuren mit einem sehr kleinen Set von möglichen Handlungen und auf diese Art weniger als ganze Menschen, also sollten wir keinen menschlichen Austausch erwarten, sondern nur einen professionellen. Die können ja nichts dafür, sie sind einfach so.
Wenn jemand mit so einem Muster von Beziehung zu Anderen in die Therapie kommt, erwarten sie, mit einem*einer Therapeut*in (Rolle) zu sprechen und nicht mit einem menschlichen Wesen. Sie finden schnell raus, welche Muster von Interaktion ihnen helfen, ihre Probleme zu lösen, aber es fühlt sich nie so an, als würden sie eine persönliche Beziehung aufbauen. Muster von geschmeidiger Interaktion sind ein Weg, so jemanden in Therapie zu halten. Es reicht nicht aus, um ihr Bild von Menschen zu ändern und ihnen die Fähigkeit zu geben, die Menschlichkeit jenseits der Rolle zu sehen.
Derealisation von Anderen
Derealisation ist ein dissoziativer Prozess, bei dem wir die Wahrnehmung von Tiefe von etwas verlieren. Das fühlt sich flach und unecht an. Derealisation von Anderen lässt sie wie Pappaufsteller wirken, die manchmal an andere Orte bewegt werden, aber da ist nichts hinter der flachen Oberfläche. Da ist kein Leben in ihnen, wir erwarten nicht, dass sie irgendwas fühlen oder tun. Alles, was in ihnen drinnen ist, ist auch aus Pappe, deshalb wäre es lächerlich, sowas wie Mitgefühl zu erwarten. Wer könnte so närrisch sein. Manchmal erleben wir Szenen von Pappaufstellern, die Geschichten vom Leben, von Familie und Spaß erzählen. Das fühlt sich aber nicht wie etwas an, an dem wir teilhaben könnten, weil wir in keine Pappaufsteller-Geschichte reinpassen und uns auch nicht gut unter Pappaufsteller-Menschen mischen können, mit unseren schrecklichen Bedürfnissen und großen Emotionen und ungehörig blutenden Herzen.
Wir entwickeln so einen Eindruck von anderen Leuten, wenn wir regelmäßig erleben, dass Menschen tatenlos daneben stehen, wenn wir leiden. Sie helfen nicht, drücken kein Mitgefühl aus, zeigen kein Anzeichen davon ein Mit-Mensch zu sein und uns in unserer Misere zu sehen. Sie hätten genauso gut auch Pappaufsteller sein können. Obwohl sie anwesend waren, haben sie auch sichergestellt, keinen Unterschied in unserem Leben zu machen und sich in keiner Weise einzumischen. Vernachlässigung spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung so einer Pappaufsteller-Sicht auf die Menschen um uns herum.
Das kann narzisstisch aussehen, aber bei echtem Narzissmus weiß man um die Tiefe von anderen Menschen und benutzt diese gezielt, um mit ihnen zu spielen. Es ist einfach egal, dass sie dabei verletzt werden. In unserem spezifischen Mangel an Tiefenwahrnehmung von Anderen wird überhaupt nicht realisiert, dass es überhaupt eine Tiefe gibt und Gefühle, die verletzt werden könnten. Es entsteht keine Bewusstsein für die Möglichkeit von Beziehung mit anderen, weil es kein Bewusstsein von irgendetwas gibt, womit man in Beziehung treten kann.
Wenn jemand mit so einem Muster in die Therapie kommt, scheint es, als würden sie alle Arbeit alleine machen. Sie reden, drehen sich ein bisschen im Kreis bis ihnen was einfällt, das für sie klappt, aber die können keine Vorschläge oder Ideen von Ts annehmen. Sie lassen Ts mit dem Gefühl zurück, hilflos und nutzlos zu sein, denn egal was sie versuchen, nichts wird angenommen. Man schaut sich die Versuche von Interventionen vielleicht an, findet aber keinen Zugang dazu, kann das nicht gebrauchen und wendet sich dann doch wieder einer eigenen Version einer Lösung zu. Es gibt Fortschritte, aber Ts haben nicht das Gefühl, irgendwas damit zu tun zu haben.
Teilweise Amnesien für Andere
Zuletzt gibt es noch einen dissoziativen Prozess, bei dem wir ein Nicht-Wissen für Elemente der Erfahrung oder die ganze Erfahrung entwickeln. Wenn unser Verstand auf bestimmte Themen stößt, übersieht er sie einfach. Nichts zu sehen hier. Also geht die Aufmerksamkeit weiter und bemerkt nicht, dass es da überhaupt etwas gegeben hat, das wir hätten bemerken können. Wenn wir andere so dissoziieren, hören wir auf, die zu bemerken, sobald wir in eine schwierige Situation kommen. Wir entwickeln eine Blindheit für die Leute um uns herum, die neutral oder positiv sind. Unsere Welt reduziert sich auf uns und die Sache oder Person, die uns weh tut und nichts um uns herum existiert mehr. Wir bitten nicht um Hilfe, weil wir alles Bewusstsein dafür verloren haben, dass es Menschen auf der Welt gibt. Wir erwarten keine Intervention, weil niemand sonst mehr existiert.
Diese Wahrnehmung von sich selbst, dem Schmerz, dem Täter und sonst nichts auf der Welt, ist ein Kernelement von Folter. Ich glaube, dass so ein dissoziatives Muster dabei rauskommt, wenn Bindungspersonen bei schwerer Gewalt neben dran standen und erlaubt haben, dass es passiert und schweigend zugeschaut haben, um sicher zu gehen, dass es auch wie abgesprochen geschieht. Als ein Kind in so einer Situation haben wir keine andere Wahl, als sie in der Szene un-gesehen zu machen. Unser Gehirn entwickelt ein Nicht-Wissen über ihre Anwesenheit während der traumatischen Situation, weil wir unmöglich wissen können, dass sie dem zugestimmt haben. Das Gehirn lernt, Menschen zu über-sehen, die eigentlich hätten retten und helfen sollen, um sicherzustellen, dass wir nichts davon erwarten. Da ist niemand, an die wir uns hätten wenden können, es ist niemand da, um was zu tun, niemand um sich für uns einzusetzen. Da sind nur wir und die Täter und sonst niemand. Wir löschen den Gedanken an Hilfe, damit wir aushalten können, dass wir keine kriegen. Vielleicht sind wir sogar recht gut in normalen Begegnungen mit anderen Menschen, aber sobald wir Leid erleben, verschwinden alle Personen um uns herum aus unserem Bewusstsein.
So eine Person kommt vielleicht gar nicht in die Therapie, weil kein Bewusstsein dafür besteht, dass andere Menschen Teil einer Lösung sein könnten. Gehen sie in Therapie, haben sie vielleicht manchmal Phasen, in denen sie die Worte ihrer Ts nicht zu hören scheinen und statt dessen in ihrem eigenen inneren Erleben oder in Szenen feststecken. Bieten Ts Hilfe an, wird die nicht erkannt und ignoriert, weil sie nicht realisiert wird. Es gibt da auch andere Gründe für, aber vielleicht schauen sie Ts nicht direkt an, sondern die Augen wandern und überspringen die Person, die da sitzt, ohne sie aktiv zu bemerken. Ts können sich unsichtbar fühlen und so als würden sie pausenlos ausgeschlossen werden. Sie werden wie Geister behandelt und nicht wie echte Menschen. Wenn sie versuchen, herauszufinden, was wir von ihnen erwarten, kommt nichts dabei raus. Wir erwarten gar nichts. Von wem denn.
Entmenschlichung führt zu Entmenschlichung
Wir haben es hier mit den Folgen von Entmenschlichung zu tun. Das ist kein seltsames kleines Bindungsproblem. Es ist eine anhaltende Veränderung darin, wie wir in Beziehung mit Anderen funktionieren, die auf der Erfahrung von Entmenschlichung beruht. Unterschiedlichen Menschen sind unterschiedliche Dinge passiert, aber sie haben gemeinsam, dass wir wie weniger als Menschen behandelt wurden und als unwert von menschlicher Würde und menschlicher Behandlung. Ich glaube, dass die Rolle von Entmenschlichung in extremer Vernachlässigung unterschätzt wird. Solche Vernachlässigung nimmt uns alles, was wir als kleine Menschen brauchen und der Mangel an zwischenmenschlicher Wärme behindert das Leben in uns und unsere Kapazität für zwischenmenschliche Beziehungen. Wenn etwas gleichwertiges an Erwachsenen verübt wird, erkennen wir das als Folter. Bei Kindern nennen wir es Vernachlässigung. In manchen komplexen Trauma Situationen sammeln wir Schicht um Schicht von verschiedenen Sorten von Gewalt, die das Gefühl von Entmenschlichung unterstützen.
Menschen waren die Quelle unseres scheinbar endlosen Leides, bis wir es nicht mehr ertragen konnten. Am Ende sind wir dissoziiert und haben unsere Fähigkeit eingebüßt, andere Menschen mit ihrer Menschlichkeit zu erkennen. Und wenn wir neue Leute treffen, sind die davon so verletzt. Was erlauben wir uns, anzunehmen, sie wären flach und leblos. Warum können wir ihnen nicht vertrauen, dass sie gute Menschen sind. Es tut so weh, nicht als jemand erkannt zu werden, di*er auch Gefühle hat. Das Gefühl von Machtlosigkeit kann Ts in die Entmutigung treiben, weil wir ihre Hilfe nicht erkennen, ihre Bemühungen nicht nutzen können und sie nicht an uns ran kommen. Sie zählen in unserer Welt offensichtlich nicht zu den hilfreichen Personen. Es ist unglaublich einfach, angeklagt zu werden, dass wir andere Menschen entmenschlichen mit der Art, wie wir sie nicht als komplette und komplexe Menschen sehen können und erkennen können. Ratet wo das her kommt. Davon selbst nicht als komplette und komplexe Menschen gesehen und erkannt zu werden. Es nützt nichts, uns dafür die Schuld zu geben, dass wir in unserer Menschlichkeit verletzt sind. Noch weniger bringt es, das als irgendwas zu diagnostizieren. Der Grund, warum das so ist, ist Trauma und Entmenschlichung und dem irgendein Label zu geben hilft nicht, es besser zu verstehen, als wenn wir es Dissoziation und Entmenschlichung nennen. Nicht mal das Label von vermeidender Bindung macht einen Unterschied, wenn wir das zugrundeliegende Muster von Dissoziation übersehen.
Was machen wir jetzt damit?
Ich bin keine Therapeutin. Vielleicht gibt es eine Therapie, die dafür wunderbare Lösungen hat. Ich beschreibe euch, was ich als hilfreich erlebe und was nicht.
Beziehung außerhalb des Musters
Als Patientin erwarte ich, dass der Austausch in der Therapie nach einem bestimmten Muster passiert. Das führt zu einem Gefühl von Sicherheit. Es ist besonders hilfreich, einen Rahmen von Routinen zu haben für die Begrüßung und Verabschiedung, ob das die gleichen Worte sind oder ein Hände schütteln. Innerhalb dieses Rahmens, der am Anfang und am Ende Sicherheit schafft, kann es helfen, dazwischen unerwartete Sachen einzustreuen. Manchmal ist es therapeutisch, wenn Ts kurz Anekdoten aus ihrem Leben erzählen, schlicht weil es eine Dimension zu ihnen hinzufügt und zeigt, dass sie ein Leben jenseits ihrer Rolle haben. Es gibt hier eine feine Grenze. Ts können und sollen ihre Rolle nicht einfach über Bord werfen. Es gibt Wege, um zu zeigen, dass sie lebendige Menschen sind mit ihrem eigenen inneren und äußeren Leben und ihrer eigenen Art, mit anderen in Beziehung zu treten. Therapieräume können manchmal ein bisschen klinisch wirken, wenn sie eigentlich davon profitieren würden, seltsam menschlich zu sein. Ich würde wohl-dosierten Selbst-Ausdruck und persönliche Eigenheiten von Ts in der Therapie befürworten, um zu normalisieren, dass andere Menschen keine sterilen NPCs sind. Wir sind jetzt in einem Multi-Player und andere Leute machen seltsam persönliche Dinge, schlicht weil sie es können. Ts können ihre eigene Entmenschlichung reduzieren, indem sie uns gegenüber offensiv menschlich sind. Es könnte interessant sein zu sehen, wie viel davon es braucht, bis wir es überhaupt bemerken. Das bedeutet nicht, dass Grenzen überschritten werden oder dass jeder stabile Austausch gestrichen wird. Wir bleiben nur darin stecken, in Skripts mit anderen Menschen umzugehen, wenn es nichts gibt, das unser Konzept davon, wie wir mit anderen in Beziehung stehen, aufrüttelt.
Fragen außerhalb des Musters
Therapie kann manchmal zu einer Routine von Fragen und Antworten werden, insbesondere wenn es um strukturierte Ansätze wie VT geht, die bestimmten Schritten folgen. Wir als Patient*innen sind unglaublich gut darin, diese Schritte rauszufinden, uns selbst da durch zu führen, die Antworten vorzubereiten und dann in der Sitzung durch den vorbestimmten Dialog zu gehen. VT ist ideal für so einen ‘Elfen-Händler’ Austausch, dem das ganze Spektrum von Erfahrung fehlt. Unerwartete Fragen sind gut. Den Fokus zu verändern, kann gut sein und Elemente außerhalb unseres engen Fokus einzuführen, kann gut sein.
Ich mag systemische Therapie als Ansatz, weil die ihre Fragen anders stellt. Selbst wenn wir die Lieblingsfragen unserer Ts kennen, sind die so eng an die Situation gebunden, dass wir die Antworten nicht so leicht vorbereiten können. Zirkuläre Fragen bleiben unberechenbar, weil wir nie wissen, welche Perspektive wir einnehmen sollen. Weniger auf eine Perspektive begrenzt zu sein, hilft uns, mehr Tiefe in denen von anderen zu finden. Uns fehlt es nicht an Empathie, wir verlieren das Bewusstsein dafür, dass andere existieren. Neue Perspektiven einzunehmen, hilft uns, die Tiefe des menschlichen Erlebens in anderen wiederzuentdecken und unerwartete Fragen helfen uns, nicht in ein stumpfes Muster von Austausch zu rutschen.
Handeln außerhalb des Musters
Handlungen sprechen lauter als Worte. Ts können uns sagen, dass sie über unsere Therapie nachgedacht haben, aber das wird nicht so zu uns durchdringen, wie das eine Handlung tut. Wir lernen, dass jemand einen Verstand hat (statt eines Pappkarton Gehirns) und dass sie uns darin halten, wenn sie Dinge tun, die uns zeigen, dass das so sein muss. Wenn sie gut zuhören, erfahren sie Dinge über uns, die uns interessieren oder wie wir funktionieren und überlegen sich dann kleine Gesten, die uns zeigen, dass sie sich daran erinnern. Meine Therapeutin weiß zum Beispiel, dass ich zum Spaß gerne wissenschaftliche Artikel lese und hat begonnen, mir Kopien zu Themen zu geben, die für unseren gemeinsamen therapeutischen Prozess interessant sein könnten. Das ist eng genommen nicht, wie ihre Rolle definiert ist und geht ein wenig darüber hinaus, aber es erschafft auch einen Kontaktpunkt, einen Fachartikel, der dann dazu dient, zu ihr zurückzuführen und ein Gespräch zu eröffnen. Während ich sie nicht immer als Person bemerken kann, bin ich plötzlich mit einem Artikel konfrontiert, der ein Bedürfnis trifft und der auf sie zurück weist bzw auf die Gegenwart einer anderen, aktiven Person im Raum.
Etwas ähnliches kann passieren, wenn uns jemand ein Glas Wasser reicht. Ein Gegenstand kommt in unser Bewusstsein und begegnet möglicherweise auch einem Bedürfnis und das zieht die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart einer Person im Raum. Ts, die darauf warten, dass wir fragen oder auf eine positive Antwort von uns, wenn sie fragen, verpassen vielleicht eine Gelegenheit, etwas für uns zu tun, das außerhalb des Skripts liegt und damit unsere Dissoziation stört. Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber ja, solange das keine ausdrücklichen Grenzen verletzt, können Ts wahrscheinlich manchmal etwas sehr kleines, nettes für uns tun, ohne uns vorher zu fragen und das so beiläufig machen, dass es fast gedankenlos wirkt. Das soll keine ‘Intervention’ sein, nur eine einfache Freundlichkeit unter Menschen. Ts sollten dann erwarten, uns mit unserer Verwirrung zu helfen, wenn wir sie als eine Person bemerken, die sich um uns bemüht. Freundlichkeit zu bemerken, kann sich so groß anfühlen, dass es schwer auszuhalten ist, aber es geht, wenn wir durch unsere Reaktion durch co-reguliert werden. Ein Gegenstand, der in unsere Wahrnehmung tritt, ist ein effektiver Weg, unsere Aufmerksamkeit auf die Person zu lenken, von der er kommt.
Indem die erwarteten Muster gestört werden, erlangen wir manchmal mehr Aufmerksamkeit für das weitere Spektrum von Erleben und Tiefe. Wir nehmen die Aufmerksamkeit von ihrem normalen Fokus weg und präsentieren neue Informationen zur Verarbeitung. Wenn wir die Menschlichkeit zurück in unsere Interaktionen bringen, statt nur einem Therapie-Skript zu folgen, eröffnen wir Raum für mehr Menschlichkeit. Wir brauchen dann noch mehr integrative Handlungen, um wieder Verbindung herzustellen, aber das ist ein guter Start, um sie einzuleiten. Das dient dem selben Zweck wie das Angebot von starker sensorischer Stimulation für Menschen, die dissoziieren. Es unterbricht den Zustand und ermutigt eine neue Orientierung.
Nonverbale Ansätze
Probleme darin, miteinander in Kontakt zu kommen, sind große Chancen für nonverbale Ansätze. Interaktive Bewegung, Tanz, Kunst, Musik usw erschaffen einen Dialog über unsere Sinne. Wir machen ein Geräusch und jemand anderes antwortet mit ihrem eigenen Geräusch und wir hören, dass uns jemand gehört hat. Einfache Imitation reicht dafür. Das stellt einen Kreislauf her, der die andere Person einschließt, indem er zuerst den sensorischen Input aufgreift, den die Person beiträgt. Wenn ich etwas male und jemand fügt sich selbst im Bild hinzu, sehe ich eine Repräsentation von ihnen, bevor ich sie richtig mit mir im Raum bemerke. Wurde Imitation bemerkt, können persönliche Variationen dazu kommen, die uns zeigen, dass die andere Person sich von uns unterscheidet und ihre eigenen Entscheidungen trifft, auf die wir antworten können. Es gibt eine Millionen kleiner Arten, so einen Austausch zu gestalten, ohne dass das gleich eine Kunsttherapie Stunde sein muss.
Arbeiten wir mit einer Sandkiste, ist das eine Einladung, einen Gegenstand für unsere Ts zu unserer Sammlung hinzuzufügen und interaktiv an der Szene vor uns zu arbeiten. Sie bewegen ihre eigenen Figuren, ohne uns bestimmen zu lassen, was sie als nächstes tun sollen. Lasst Ts die Geschichte mit erzählen, was Neues in der Sandkiste ausprobieren oder neu mit Anteilen in Kontakt treten. Auch wenn diese Interaktionen nicht gegen ausdrückliche Grenzen verstoßen sollen, handeln Ts immer noch unabhängig von uns und der Geschichte in unserem Kopf und das hilft uns zu realisieren, dass wir jetzt in einem Multi-Player sind. Jemand handelt unabhängig, weil sie ihren eigenen Verstand und eigene Motivation haben. Non-verbale Ansätze durchbrechen unser gewohntes Muster der Verarbeitung, indem sie erst einen gemeinsamen Fokus schaffen, dann eine Interaktion und einen Austausch anregen, den wir nicht komplett kontrollieren und am Ende zurück verweisen auf die Person, die bei uns ist. Das alles kann in einer spielerischen und leichtherzigen Art passieren, um es einfacher zu machen. Das verwandelt die Beziehung vorübergehend in etwas, was außerhalb von uns passiert und so einfacher zu greifen ist. Es ist seltsam, das so zu sagen, aber in dieser stark dissoziierten Wahrnehmung von Beziehung kann es hilfreich sein, manchmal weniger mit unserer inneren Geschichte attuned zu sein und eine Störung zu verursachen, solange dabei auch mutwillige Nähe in der Interaktion gehalten wird. An der Stelle wird Therapie mehr Kunst als Werkzeug. Non-verbale Elemente helfen, eine spürbare Verbindung herzustellen, selbst wenn wir verwirrt werden. Verwirrung ist hier Teil des Ziels, weil sie eine Re-Orientierung fördert.
Im Spiegel unserer selbst
Wir hatten schon über den Prozess gesprochen, bei dem gesehen werden und als die, die wir sind, realisiert zu werden, ein Schlüsselelement der Heilung von den Folgen von Entmenschlichung ist. Unsere Therapie Routine aufzumischen, tut etwas ganz ähnliches. Das nimmt das Element der standardisierten Werkzeuge und Routinen in der Behandlung aus den Interaktionen und macht sie persönlicher und realer. Standardisierte Verfahren weisen Spuren von Entmenschlichung auf, weil sie alle exakt gleich behandeln und Menschen eben nicht exakt gleich sind, sondern individuelle Behandlung brauchen, die auf sie angepasst ist. Die Folge von persönlicher Behandlung ist ein besseres Gespür dafür, eine Person zu sein.
Sehr wahrscheinlich haben wir ein reiches inneres Leben. Selbst wenn es da Anteile gibt, die taub sind und nicht-wissen, gibt es innerlich viel, das sehr lebendig ist in all seiner Komplexität. Wir brauchen nur einen sicheren Raum, wo das auch so sein darf. Der eröffnet sich, wenn Ts uns anschauen und uns als menschliche Wesen verstehen.
Dadurch werden wir befähigt, das ganze auch umzudrehen und andere Menschen zu sehen und sie in ihrer Komplexität und Tiefe zu realisieren. Es beginnt damit, uns selbst menschlich zu fühlen und die Tiefe davon, was Menschlichkeit bedeutet, zu kennen und zu fühlen. Irgendwann sehen wir andere Leute an und realisieren, dass sie auch Menschen sind, also können sie gar nicht so anders sein als wir. Sie sind keine Pappaufsteller. Wenn sie so menschlich sind wie wir, haben sie komplexe Gefühle und komplexe Gründe für das, was sie tun. Wenn wir uns fragen ‘Warum tue ich diese Sache eigentlich?’ und wir ein komplexes Netz aus selbstsüchtigen und selbstlosen Gründen für unser Verhalten finden, können wir andere ansehen und realisieren, dass sie Dinge aus den gleichen Gründen tun. Manche sind ehrenwert, andere nicht so sehr, aber es geht gar nicht darum, dass sie gute Menschen sind, nur darum, dass sie Menschen sind.
Denken wir an all die verborgenen Dinge in unserem Leben, die niemand bemerkt und bei denen niemand davon wissen würde, wenn wir uns nicht entscheiden, das zu teilen, dann können wir andere anschauen und bemerken, wie viel von einem inneren und äußeren Leben sie haben müssen, von dem wir nichts wissen, weil wir nie darüber reden und sie es somit auch nicht mit uns teilen. Wir lernen, die Menschlichkeit der anderem im Spiegel unserer eigenen Menschlichkeit zu erkennen. So anders sind sie nicht. Wenn wir komplex sind, dann sind sie auch komplex. Der effektivste Weg, unserer Tendenz entgegenzuwirken, andere durch unsere Dissoziation zu entmenschlichen, ist unsere Verletzungen von Entmenschlichung zu heilen, die es normalisiert haben, andere Menschen als weniger als menschlich wahrzunehmen. Um die Dissoziation von anderen Menschen zu überwinden, überwinden wir zuerst die Dissoziation von unserer eigenen Menschlichkeit und Lebendigkeit und Tiefe. Als jemand, die sich wie ein menschliches Wesen fühlen, können wir menschliche Wesen erkennen. Das vervollständigt unseren Prozess zurück zur Menschlichkeit und ist ein wichtiger Teil davon. Die Menschlichkeit in anderen zu erkennen, löst die letzten Spuren von Entmenschlichung in uns auf. Das ist ein Zeichen von Heilung.
Es gibt Berichte von Folter-Überlebenden, die sich die Menschheit und ihre Fähigkeit zum Bösen angeschaut haben und sich selbst zur Spezies Mensch dazuzuzählen hat so viel Abscheu ausgelöst, dass sie sich damit nicht versöhnen konnten. Améry ist bekannt für seine Aussage, dass man nicht mehr heimisch in dieser Welt wird. Er beschreibt einen anhaltenden Bruch mit der Menschheit und hat irgendwann sein Leben bewusst beendet. Menschen sind seltsame Kreaturen. Sie führen einen Holocaust durch und sehen zu, wie andere gefoltert werden, ohne zu helfen. Sie können auch absurd selbstlos sein und ihr Leben für andere geben. Sie haben Schokolade erfunden und Medizin. Manche widmen ihr Leben der Aufgabe, Folter-Überlebenden zu helfen und reich werden sie davon nicht, weil sie ihr Vermögen sofort wieder in die Hilfe für andere stecken. Wenn wir uns selbst erforschen, finden wir die Tiefen der Hölle und das Tor zum Himmel, alle an einem Ort. So viel Kapazität für Unvorstellbares, Gutes und Schlechtes, für Schlaues und Absurdes. Wir verlieren unser Leben, wenn wir uns nur auf die dunkelsten Dinge konzentrieren, zu denen Menschen in der Lage sind. Warum helfen wir anderen? Genau die gleiche Kapazität findet sich auch in anderen. Wir können uns mit der Menschheit versöhnen, wenn wir sie im Spiegel unserer selbst anschauen und die Tiefe von Komplexität in allen von uns verstehen. Andere Menschen sind nicht schwarz oder weiß, sie sind beides und nichts davon, so wie wir auch. Wenn wir Gnade für uns selbst finden, finden wir irgendwann auch Gnade für den Zustand der Menschheit.
Trauma-Heilung
‘Recovery’ sieht wie etwas aus. Trauma-Heilung ist nicht nur der Prozess, die Angst vor unserer Vergangenheit zu verlieren. Die Auswirkungen von komplexer Traumatisierung brauchen komplexe Heilung und ein Teil davon ist Heilung in der Art, wie wir mit anderen in Beziehung treten. Wenn ‘eine Tiefe die andere ruft’, wie die Bibel das formuliert, finden wir Leben. Keine Menge an Erinnerungen prozessieren wird diese Verbindung wiederherstellen, aber die therapeutische Beziehung kann es vielleicht. Sicher im Verstand einer anderen Person gehalten zu werden, vergrößert unsere Fähigkeit, auch andere auf diese Weise zu halten, in all ihrer Komplexität. Im Spiegel unserer eigenen Erfahrung können wir ein neues Level von Ehrfurcht für die Tiefe in anderen entwickeln. Das Leben in uns ist nicht anders, als das Leben in ihnen. Und das stellt eine Verbindung dar, die auch Trauma nicht vollständig auslöschen kann. Wir werden eine Zeit lang davon abgetrennt, aber die Dissoziation muss nicht anhalten.
Dieser Artikel beruht auf persönlicher Erfahrung, gemischt mit den Berichten anderer Betroffener und Texten zu Dissoziation, aber nichts so spezifisches, dass ich es eine Quelle nennen würde. Entsprechend ist das hier kein wissenschaftlich solider Artikel, sondern eine Sammlung von Gedanken. Wenn ihr Interesse an dem Thema habt, könnt ihr reinlesen, was zB Améry oder Scarry zu Folter zu sagen haben und welchen Einfluss DR/DP auf Beziehungen haben kann.