Das mag überraschen, aber in völlig entspanntem Zustand bringt der Mensch nicht die beste Leistung. Studien zeigen, dass wir bei mittlerem Stress/Anspannungslevel am besten arbeiten und auch lernen können. Wo zu viel oder zu wenig Stress/Anspannung ist, leidet die Funktionsfähigkeit.
Es gibt ein bestimmtes Lernfenster (oder auch Stresstoleranzfenster), in dem wir fähig sind, mit Herausforderungen umzugehen und Lernen und Wachstum möglich sind. Für Traumapatient:innen ist es oft schwer innerhalb dieses Fensters zu bleiben, weil die Anspannung schnell mal nach oben schießt und chronisch traumatisierte Menschen eben unter chronischem Stress leiden.
Außerhalb dieses Fensters ist, wo Dissoziation passiert. Um also besser mit Dissoziation umzugehen, müssen wir mehr über unser persönliches Lernfenster erfahren und darüber, wie es sich anfühlt.
Wenn wir uns die Physiologie anschauen, ist die Reihenfolge der Stressreaktionen:
Hilfe suchen, Flucht oder Angriff, Erstarren und Ohnmacht.
Wir erleben hohe Stresslevel entweder als Hyperarousal (zu viel) oder Hypoarousal (zu wenig)
Sowohl Hyperarousal als auch Hypoarousal liegen außerhalb des Lernfensters, die sollten wir also vermeiden. Wir würden also am Besten im grünen und gelben Bereich pendeln. Die gestrichelte Linie zeigt, wo wir hin wollen.
.
Hyperarousal (etwa 10-8) erkennt man hieran:
Körper: unruhig, angespannte Muskeln, Zittern, Schwitzen, erhöhter Bewegungsdrang, schnelles, flaches Atmen, hoher Puls
Denken: schreckhaft und alarmiert, sehr wachsam, Schwierigkeiten bei der Konzentration, unzusammenhängende Gedanken
Gefühle: beunruhigt, aufgekratzt, sensibel, ängstlich, wütend, gestresst, impulsiv, überfordert
Aktion: weg laufen, verstecken, Wutanfälle (Aggression) oder Selbstverletzung (Auto-Aggression)
.
Mittlere Anspannung (7-5) ist gekennzeichnet durch: einige angespannte Muskeln (Gesicht, Nacken, Schultern), manchmal Luft anhalten, hohe Aufmerksamkeit, hohe Konzentration, Fokus, schnelles Denken, präsent sein, Gefühle und Körper wahrnehmen, angemessene Reaktionen, Kommunikationsfähigkeit, leichter Stress
Ein neutraler Anspannungslevel (4) bedeutet: ruhig und gelassen zu sein, tief und gleichmäßig zu atmen, entspannt und locker, keine übermäßige Wahrnehmung der Umgebung, Wahrnehmung von Körper und Gefühlen
.
Hypoarousal (3-1) erkennt man hieran:
Körper: fühlt sich kalt an, Zittern, hohe Schmerztoleranz, niedrige Körperwahrnehmung, keine oder kaum Reaktion auf Reize, Taubheitsgefühl, Schläfrigkeit, Schwierigkeiten sich zu bewegen, niedrige Muskelspannung, Lähmung
Denken: verlangsamt, “Aussetzer”, den Faden verlieren, Verwirrung, motivationslos, Trunkenheitsgefühl, benebelt, benommen, schwindelig, Amnesien, komplettes Abschalten
Gefühle: losgelöst, unbeteiligt, emotional taub, kein Gefühlsausdruck
Aktion: Erstarren, Ohnmacht
.
Menschen unterscheiden sich darin, wie viel Stress sie verkraften, bevor ihre Funktionsfähigkeit abnimmt. Es ist wichtig den Bereich zu finden, in dem du gut funktionierst. Bei manchen ist das zwischen 4 und 6, andere kommen auch zwischen 3 und 7 oder 4 und 8 gut klar. Du solltest lernen zu erkennen, wo du gerade stehst um dich dem entsprechend selbst regulieren zu können.
Bei manchen Menschen erscheint dieses Fenster furchtbar klein, weil die Anspannung so schnell so hoch schießt. Das ist in Ordnung. Es ist wie es ist. Du kannst lernen auch wieder mit größeren Belastungen zurecht zu kommen, aber wie ich das vorhin erwähnt habe, ist das Lernen nur innerhalb des Lernfensters möglich, nicht wenn du dich selbst überforderst und dich hinaus bewegst. Das erste und wichtigste Ziel sollte sein, zu lernen, dich so zu regulieren, dass du die Gefahr von Dissoziation reduzierst. Danach kannst du anfangen die Grenzen zu weiten.
.
Wenn ihr DIS habt, fürchte ich, gibt es für euch eine weitere Runde:
Ziel ist es mit allen Anteilen in Verbindung zu kommen und euch so zu regulieren, dass ihr ALLE gleichzeitig innerhalb des Lernfensters bleibt. Ja, ich weiß…. hat keiner gesagt, dass es einfach wird. Aber das ist es wert. Wenn es dir gerade gut geht, aber andere Anteile sind außerhalb des Lernfensters, dann haben die nicht die Chance aus einer Erfahrung zu lernen, so wie du das vielleicht tust. Sowas kann jede Bemühung zunichte machen. Das ist vor allen Dingen wichtig, wenn ihr sowas wie Trauma-Arbeit machen wollt.
[Bemerkung am Rande: Wenn du einen T hast, werden die immer mal wieder deine Grenzen pushen, was eine sehr gute Sache ist. Aber manchmal ist denen nicht bewusst, wann so eine Herausforderung außerhalb deines Lernfensters liegt. Sollte das der Fall sein (und nicht nur Vermeidung!), sag es. Aus Überforderung kann man nicht lernen. Übernimm da Verantwortung und rede darüber. Benutze den Ausdruck “Lernfenster” oder “Stresstoleranzfenster” um ihnen zu helfen zu verstehen, was los ist. Die haben den Ausdruck mit Sicherheit schon gehört. Wenn nicht, LAUF!]
Artikel, die dich auch interessieren könnten:
Einige Skills für Hyper/Hypoarousal (rot/blau): Denken
Einige Skills für Hyper/Hypoarousal (rot/blau): Körper
Skills für den gelben Bereich (6/7): Ablenkung
Skills für den gelben Bereich (6/7): zwischenmenschliche Regulation
Manuela says
Was für ein wertvoller Blog! Vielen Dank für deine klärenden Artikel und Bilder.
Maja says
Danke für diese wichtigen Infos! Das war wirklich neu für mich. Ich erkenne mich teilweise wieder!
Danke dafür!
Maya says
Vielen Dank für diese wertvolle Information, eure Seite ist gerade unser Anker.
Eine Frage: wir leiden schon seit 30 Jahren an einem chronischen & systemübergreiffenden Hypoarousal welcher sich unter anderem in chronischen & systemübergreiffenden Depressionen zeigt. Sobald wir die Wohnung verlassen geraten wir in einen Hyperarousal, je nach Situation unterschiedlich stark. Uns liegt viel daran, da etwas verändern zu können. Leider schlagen wir – keine Ahnung weshalb – einfach nicht auf die empfohlenen Skills an. Habt ihr dazu ev. Eine Idee? Danke schonmal im Voraus.
Theresa says
Hallo Maya,
das ist einer unserer ältesten Artikel überhaupt und verlinkt sind dabei auch eher veraltete Methoden, die wir selber kaum noch anwenden. Wenn du dir neuere Artikel zB zum verschobenen Stresstoleranzfenster, zu chronischer Dissoziation oder Körperarbeit anschaust, dann gibt es da mehr hilfreiche Ideen. Ich weiß nicht, was für ‚Skills‘ du schon probiert hast. Heute würde ich vor allem erweiterte Grounding Techniken nutzen und versuchen Zugang zu einer Körper-fokussierten Trauma Therapie wie Somatic Experiencing zu bekommen.
Wenn es darüber nicht geht, gibt es vielleicht einen Grund innerhalb des Systems, der sich vorsichtig erkunden lässt. Das wird aber schnell knifflig und wäre besser mit therapeutischer Hilfe zu machen. Meld dich gerne, wenn sich noch mehr Fragen auftun.
Maya says
Hallo Theresa
Vielen Dank für eure Rückmeldung, wir wissen das sehr zu schätzen.
Ehrlich gesagt befürchte ich auch, dass der Grund innerhalb des Systems liegen könnte. Sicher bin ich mir jedoch nicht, es ist einfach ein Bauchgefühl. Werde mir die erwähnten Artikel sicherlich nochmals achtsam durchlesen und schauen ob da was dabei ist.
Danke für eure Hilfsbereitschaft.
LG Maya
Maya says
Wir nochmals 🙂 Ihr schreibt, ihr würdet versuchen Zugang zu einer Körper-fokussierten Trauma Therapie wie SE (Somatic Experience) zu bekommen. Denkt ihr es wäre auch sinnvoll, wenn wir jemanden finden würden, der eine allgemeine Trauma Ausbildung (nicht auf DIS Level) hat & Somatic Experience? Viele Therapeuten haben eine EMDR Zusatzausbildung. Ist vermute eine EMDR Zusatzausbildung betrifft zwar auch den Körper ist aber nicht so umfassend, stimmt das so? Für uns ist es auch so, dass wir offen wären, wenn ein Therapeut zwar erst ein Minimum an Ausbildung aber dafür den Willen hat, sich in das doch sehr komplexe Thema einzuarbeiten. Leider sind wir bisher noch niemandem begegnet der diese Motivation gezeigt hätte. Dass Thema Thera Suche ist für allgemein sehr schwierig daher möchten wir am liebsten von Anfang an möglichst gut auswählen. Daher die vielen Fragen. Danke für jeden einzelnen Input.
Theresa says
Wenn das Problem die Stressreaktion ist, dann ist SE ein gutes Mittel, um damit zu arbeiten. Dann müsste es auch nicht zwingend jemand sein, die/der sich mit Anteilen auskennt.
Wenn das Problem an Anteilen liegt, braucht es einen Anteile Ansatz.
EMDR ist erst mal keine klassische Körpertherapie und keine klassische Anteile Therapie, kann aber für beides benutzt werden, wenn Ts sich entsprechend auskennen. Zu EMDR auch bei DIS haben wir hier auch Artikel.
Maya says
Danke für eure Antwort, das ist gut zu wissen. Leider ist es tatsächlich so, dass wir bei beiden Themen (Stressreaktion & Problematiken durch das viele sein) dringend Hilfe bräuchten. Da es sehr schwierig bis fast unmöglich ist jemanden zu finden der beide Punkte abdeckt stellt sich mir nun die Frage ob wir diese beiden Punkte auch separat, also nacheinander angehen könnten. Was meint ihr dazu?
Theresa says
Wir machen das auch so.