Wenn Menschen ans Tagebuch schreiben denken, meinen sie meistens freies Schreiben, was die schwierigste Art ist mit einem Tagebuch zu arbeiten. Besonders wenn wir uns um Grounding und Selbstregulation bemühen müssen, brauchen wir einen strukturierteren Ansatz, der sichere Grenzen und Anleitung bietet. Tagebuch-Übungen sind ein eher untypisches Thema in der Therapie, deshalb werde ich meine Lieblingsübungen mit euch teilen. Wer relativ gut Englisch kann, findet mehr Trauma-orientierte Übungen und Arbeitsblätter, um sie zu lernen, in „The way of the journal“ von Kathleen Adams.
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Satzanfänge
Die am besten strukturierte Übung fürs Tagebuch ist das vervollständigen von einer festgelegten Anzahl von Satzanfängen. Die Ergebnisse werden jedes Mal anders aussehen. Das kann euch dabei helfen Gedanken und Gefühle zu benennen (name it to tame it!), euch besser zu erden und herauszufinden, was ihr als nächstes tun könnt, um eure Situation zu verbessern. Das hier ist die Übung, die ich mache, wenn ich verwirrt bin und nicht sicher geerdet. (Nimm die grünen Satzanfänge dazu, wenn du mit Ego State Arbeit für komplexe PTBS oder DIS vertraut bist, versuche nicht sie zu verwenden, wenn du dissoziierst um dein inneres Erleben deiner Anteile zu vermeiden; in dem Fall solltest du erst mal strikt an deinem eigenen Grounding arbeiten)
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Notiere dir Datum und Uhrzeit. Stelle einen Wecker auf 15-20 Minuten
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Notiere oben auf der Seite 3 Worte, die beschreiben, wie du dich gerade fühlst
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Mach die 4711 Atemübung: Auf 4 zählend einatmen, auf 7 zählend ausatmen, 11 mal wiederholen.
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Nimm dir einen Moment dich auf dein Thema oder deine Situation zu konzentrieren, die du erforschen willst, dann beende folgende Satzanfänge:
Das erste, was mir in den Sinn kommt…
Und was einem anderen Teil von mir in den Sinn kommt…
Unter der Oberfläche finde ich…
Wenn mein Gefühl eine Farbe, Form und Größe hätte wäre es…
Wenn mein Gefühl sprechen könnte…
Was ich dem Gefühl antworten möchte ist…
Wenn das Gefühl meines anderen Anteils eine Farbe, Form und Größe hätte wäre es…
Wenn deren Gefühl reden könnte würde es sagen…
Was ich diesem Anteil versichern möchte ist…
Was ich gerade bräuchte ist…
Was sich daran ungut anfühlt ist…
Was mir daran Hoffnung macht ist…
Ich könnte davon profitieren…
Mein nächster Schritt ist zu…
5. Lies noch einmal, was du geschrieben hast, lass es sacken und mach dir Notizen falls das hilft.
6. Notiere 3 Worte darunter, die beschreiben, wie du dich jetzt gerade fühlst.
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Ihr könnt natürlich auch eure eigenen Satzanfänge benutzen, wenn die hier für euch nicht hilfreich sind. Diese Übung kann auch in leichter Dissoziation oder Hyperarousal gemacht werden, um einen Plan zu entwickeln, wie ihr euch am besten regulieren könnt. Wir haben eine Karte mit Satzanfängen vorne im Tagebuch als Vorlage.
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Alpha Gedichte
Poesie ist eine schöne Art sich auszudrücken, aber die ist auch nah dran an freiem Schreiben und manchmal sogar emotional intensiver, weil wir eindrückliche Bilder und Worte für unser Erleben finden. Ein Alpha Gedicht bietet mehr Struktur und Grenzen und erlaubt es trotzdem ein wenig zu assoziieren.
Alpha ist kurz für „Alphabet“ und in der ursprünglichen Version schreibt man alle Buchstaben des Alphabets untereinander und benutzt diese dann als Anfangsbuchstaben für jede neue Zeile. Ihr könnt ein oder mehr Worte pro Zeile schreiben, auch halbe Sätze, aber irgendwie müsst ihr den Weg zurück finden zu einem Wort, was mit dem Buchstaben der nächsten Zeile beginnt.
Auf diese Art entsteht ein gut geerdeter Kontakt zum Tagebuch, der Raum lässt für Überraschungen, welches Wort das Unterbewusstsein wohl hervorbringt, um in der nächsten Zeile anzukommen. Es ist schwer sich in dieser Übung zu verlieren, weil sie automatisch endet, wenn die Buchstaben ausgehen. Ich selbst benutze nie das Alphabet, sondern nehme das Wort oder den Ausdruck, der das Thema, was ich im Sinn habe am besten beschreibt. Hier ist ein Beispiel:
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S chon morgens wirr,
C harakteristisch wie
H eute alles
L eer ist in mir, aber
E ben doch nicht
I nnen ist auch viel zu viel
E in ewiges
R ingen
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D enn ich mag das nicht wissen, nicht
E rinnern was da
R uht
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D arum versinke
I ch im Nebel und hab jetzt die Wahl:
S inke ich weiter oder
S uch ich mir Hilfe
O der schaff ichs alleine mich
Z u regulieren
I m Prinzip weiß ich
A uch was zu
T un ist
I ch muss es nur machen
O hne länger zu warten
N och kann ich handeln.
Das nach dem Schreiben noch einmal durchzulesen kann vieles klarer erscheinen lassen.
Diese Übung ist besonders hilfreich, wenn ich mich taub fühle und nicht sagen kann, was in mir los ist. Wenn es Innen verschiedene Meinungen zu einem Thema gibt drehe ich manchmal einfach das Tagebuch auf den Kopf und schreibe aus den Buchstaben in umgekehrter Reihenfolge ein Alpha Gedicht für die Gegenposition. Ich habe das auch schon in Kunstwerke mit eingebaut, als Collagen oder Bilder, um verschiedene Blickwinkel in Wort und Bild auszudrücken.
Der Dialog
Ein Dialog braucht mehr Zeit und mentale Energie als andere Tagebuchübungen. Das Struktur-Element, was ihn von freiem Schreiben unterscheidet, ist dass alles durch eine Konversation gerahmt wird, die ich mit mir selbst habe, sodass ich immer wieder von einer Perspektive in die andere wechseln muss und nicht so leicht in einer stecken bleibe. Das erschafft eine gewisse Distanz zum Problem.
Dialoge könnt ihr führen mit:
- einer Person: früher, heute, zukünftig, real oder fiktiv. Das könnte auch dein zukünftiges Ich, jemand dem du vertraust, Captain Picard oder Steven Hawking sein.
- Dein Körper oder Körperteile. Ich finde das besonders hilfreich bei Körperflashbacks und chronischen Schmerzen
- eine Emotion: das kann Distanz schaffen und ein besseres Verständnis, um euch selbst zu regulieren
- einem Symptom: vielleicht um es zu überwinden, vielleicht um euch damit anzufreunden
- ein Symbol: wir kennen jemanden, der mit seinem altklugen Kaffee redet. Ihr könntet auch mit Glaubenssymbolen kommunizieren (erstaunlich, was ein Kreuz zu einer aktuellen Situation sagen kann)
- eurem Job: mal sehen ob der sich genau so ernst nimmt wie du ihn. Verhandle Selbstfürsorge
- deine Innere Weisheit/“Selbst“ falls du mit IFS arbeitest
- andere Anteile von dir: in diesem Fall ist die Unterhaltung etwas anders, sie ist nicht ausgedacht, sondern du erhältst Zugang zu einem Verständnis, was dir vorher durch Dissoziation verborgen war.
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Ich schreibe immer T für Theresa an den Anfang von „meinen“ Worten und den ersten Buchstaben von meinem vorgestellten Gesprächspartner an den Anfang jedes neuen Absatzes, um mich nicht zu verwirren.
Oft schreibe ich mit sehr viel mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein, als ich sonst in mir finde, weil ich in diesem Dialog eine Rolle einnehme, genau wie mein „Partner“ eine Rolle spielt.
Wenn ich das Gefühl habe stecken zu bleiben, versuche ich einen anderen Ansatz. Wenn ich dann immer noch nicht weiter komme, mache ich eine Pause und komme später noch mal darauf zurück.
Hier ist ein Beispiel für einen Dialog mit Scham.
S: Hallo Theresa!
T: Hi Scham! Wir haben gerade in der Therapie über dich geredet.
S: WAS? Ihr könnt doch nicht einfach über mich reden! Der Therapeut sollte gar nicht wissen, dass ich hier bin! Niemand darf von mir wissen!
T: Ich mochte seine Reaktion. Das war sanft und wohlwollend und ganz ohne urteilen.
S: Du solltest Angst vor ihm haben.
T: Also eigentlich… er meinte er könnte mir beibringen, wie man dich kleiner macht.
S: Unmöglich! Ich bin groß und stark und ich beherrsche dich!
T: Weil ich dich lasse.
S: Ich bin keine normale Scham, ich bin chronisch! Du kannst mich nicht schlagen, ich kann machen, dass du dich dafür schämst zu atmen und einen Herzschlag zu haben. Ich kann dich innerhalb von Minuten suizidal machen. DU GEHÖRST MIR (böses lachen)
T: Genau genommen glaube ich, du gehörst mir. Ich denke, dass ich dich vielleicht benutze, um irgendwas anderes zu betäuben. Ich muss nur raus finden, was es ist, dass du verdeckst.
S: Gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen
T: Ok, lass es mich so versuchen…
(finde hier heraus, was ich entdeckt habe)
Später im Gespräch…
S: Es geht nicht darum geliebt zu werden. Es geht darum sicher zu sein. Ich versuche dich nur davon abzuhalten dass du dich umbringen lässt.
T: Und das wäre wahr, wenn es immer noch TraumaZeit wäre.
S: Aber… aber…
T: Du tust mehr, als heute noch notwendig ist.
S: Aber du brauchst sichere Grenzen!!
T: Ja, absolut. Und ich danke dir, dass du mich daran erinnerst. Im Gegenzug brauche ich es, dass du in der Zeit orientiert bist und siehst, dass es gerade keine Bedrohung für mein Leben gibt.
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Dialoge sind in der Regel die tiefste Therapiearbeit, die wir mit dem Tagebuch machen, tiefer als freies Schreiben. Ich benutze das in ausgewählten Situationen und mache dafür vorher schon einen Termin mit mir, um ausreichend Zeit und Kraft mitzubringen. Nach einem Dialog ist es definitiv Zeit für eine Belohnung.
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