Titration ist ein chemischer Begriff, der etwas aus dem Kontext genommen wird, um eine Technik zu erklären, mit der man sich psychologischen Problemen annähern kann.
Stelle wir uns vor, wir wollten HCl mit NaOH neutralisieren. Die Säure mit der Base zu mischen ergibt mit einer einfachen Rechnung H2O und NaCl, harmloses Wasser und Salz.
Das Problem ist nur, dass man Säure und Base so nicht einfach mischen kann. Wenn man das zusammenschüttet, sieht die Reaktion aus, als würde ein Vulkan ausbrechen, das kocht in einer intensiven Reaktion über, ist die Konzentration hoch genug, kann es explodieren
Was man statt dessen macht, ist einen Tropfen nach dem anderen dazu zu geben, dem jeweils ein bisschen Zeit zu geben zu reagieren, bis die Mischung neutralisiert ist. Das gibt jedes mal nur eine kleine sichtbare Reaktion, ein Zischen, nichts gerät außer Kontrolle oder kocht über. Aber mit jedem neuen Tropfen verändert sich der ph-Wert und unsere Chemikalien werden weniger gefährlich. Diesen Prozess eine hoch-potente Substanz einen Tropfen nach dem anderen zu neutralisieren, nennt man Titration. Wir brauchen dieses Konzept an verschiedenen Stellen, wenn wir versuchen komplexe PTBS zu überwinden. Es gibt manche psychologischen Zustände, die sich nicht gut mischen lassen, die aber dennoch neutralisiert werden müssen.
Dissoziation und Achtsamkeit
Wenn wir dissoziieren, trennen wir uns von der Gegenwart ab. Achtsamkeit ist das Üben davon bewusst und gegenwärtig zu sein. Wenn wir mit chronischer Dissoziation leben, immer in einer Wolke, losgelöst von unserem Körper, Emotionen, dem Leben und unserem Selbst, und wir versuchen uns in Achtsamkeit, dann werden wir überfordert sein. Die Mischung kocht über. Viele chronisch dissoziative Patienten berichten, dass ein Body-Scan oder achtsames Atmen oder Meditation alles nur noch schlimmer machen. Ein kleiner Moment des präsent-seins wirft sie zurück in noch mehr Dissoziation, weil sie keine Stresstoleranz dafür haben gegenwärtig zu sein oder sich zu spüren.
Das bedeutet nicht, dass Achtsamkeit das falsche Werkzeug ist. Das ist eine anerkannte Art Dissoziation zu neutralisieren, aber wir brauchen kleinere Schritte. Viel kleiner. Nur einen Tropfen nach dem anderen. Viele der bekannten Achtsamkeitsübungen sind schon zu groß.
Als wir begonnen haben uns aus der chronischen Dissoziation heraus zu arbeiten, haben wir klein angefangen.
Einen Fuß in beide Hände nehmen und versuchen das für einen Augenblick zu spüren. Den Atem wahrnehmen, nicht im Bauch, dass ist viel zu schwer, sondern im Heben der Schultern. Mal ‘da bleiben’, um diese eine Tasse zu spülen. Um einen Keks zu essen.
Es braucht nicht mehr, um in die Achtsamkeit einzusteigen. Wenn wir chronisch dissoziieren, kann es gar nicht mehr sein und es würde keinen Sinn machen uns anzutreiben mehr zu machen. Das endet nur wieder in einer intensiven chemischen Reaktion. Wir brauchen die kleinen Schritte, den Tropfen, der etwas herausfordert, ohne zu viel aufzuwirbeln.
Trauma Erinnerungen und die Gegenwart
Eine andere starke Reaktion kriegen wir, wenn wir auf traumatische Erinnerungen zurück blicken. Es liegt in der Natur dieser intensiven Erinnerungen uns zu überrollen, wenn wir versuchen darauf einzugehen. All die Emotionen, Hyperarousal, die Starre und Schmerzen kochen über. Wenn wir mit Expositionsverfahren arbeiten, um die Trauma Erinnerungen zu neutralisieren, erleben wir oft eine starke Reaktion. Manche Techniken sind sanfter als andere und reduzieren das Risiko einer Abreaktion oder Re-traumatisierung, die passieren kann, wenn wir völlig überrollt werden. Die sanftesten Methoden arbeiten mit Titration. Wir stellen uns unseren Erinnerungen einen Tropfen nach dem anderen, lassen das von unserem Körper und unserer Seele erst mal integrieren und stellen uns dann dem nächsten Tropfen. Wir finden das in somatic experiencing wieder.
Ich glaube, dass mehr Trauma Techniken sich dahin entwickeln werden Titration für die Exposition zu verwenden. Es ist deutlich sicherer, auch wenn es etwas länger dauert. Die integrativen Fähigkeiten wachsen mit der Zeit. Behandlung, die man nur mit Hilfe harter DBT Skills durchhalten kann und die unsere tiefsten traumatischen Glaubenssätze bestätigen, dass es ums blanke Überleben geht, werden irgendwann der Vergangenheit angehören. (Man sagt mir, ich sei hoffnungslos idealistisch, aber das ist der Trend, den ich in der Forschung rund um komplexe PTBS wahrnehme)
ANPs und EPs
Die Frontpersonen eines DIS Systems können in starker Verleugnung leben, wenn es um die Existenz von Anteilen geht. Sie erinnern sich oft nicht an Traumatisches, sodass es keinen Grund gibt etwas dieser Art zu vermuten. Eine plötzliche Konfrontation mit der Wahrheit kann überfordern und zu einer größeren Krise führen. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht einen Anteil nach dem anderen zu integrieren, wie Tropfen. Das bedeutet wir stabilisieren das bisher bekannte System so gut wir können und öffnen dann Innen die Tür für einen neuen Anteil, der zum Team dazu stößt. Dann arbeite wir daran diesen Anteil im Jetzt zu integrieren, bevor wir den nächsten einladen. Weil das ganze System sich auf einen Anteil (und einen stabile Alltag) konzentrieren kann, läuft das viel organisierter und weniger chaotisch ab. Das klappt sicher nicht bei jedem System, aber man könnte sich an dem Grundgedanken orientieren.
EPs können auch von kleinen Schritten profitieren. Mit einer völlig neuen Welt konfrontiert zu sein in der man jetzt lebt, neue Leute, neue Regeln, ein neues Leben, kann ganz schön viel auf einmal sein. Wenn wir einen neuen Anteil ins Team integrieren, werden sie eingeladen kleine Momente von Co-Bewusstsein zu teilen. Dabei zu sein, um frisch gebackene Kekse zu riechen oder einen Hund zu streicheln. Nur ein Tropfen von unserem neuen Leben in der Gegenwart nach dem anderen. Beginnend mit all dem Guten, was wir jetzt haben. So können sie das aufnehmen und sich daran gewöhnen, ohne überfordert zu werden. Wie viel der heutigen Realität sie verkraften, hängt ganz von dem Anteil ab und unsere Übungen können an deren Fähigkeiten angepasst werden.
Mir chronischer Dissoziation, Trauma und DIS gilt: je langsamer wir gehen, desto schneller erreichen wir unser Ziel. Wenn wir die kleinen Schritte gehen und Titration nutzen, schützen wir uns vor Krisen. Wir könnten gar keine erfolgreichen größeren Schritte nehmen, selbst wenn wir es noch so wollen. Es gibt Situationen, wo das sich-antreiben uns nicht weiter bringt und 2 Minuten am Tag etwas ganz Kleines zu üben unsere Welt verändert.
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von Grünigen Katharina says
Das ist eine sehr gute Erklärung!