Die von euch, die schon Bücher über DIS Therapie gelesen haben, kennen den Begriff ‘die Phobie vor dem Inneren Erleben’ und haben bestimmt schon bemerkt, dass die Reflexion über dieses Erleben eine Grundlage aller innerer Arbeit darstellt. Irgendwie verpassen es solche Bücher, genau zu erklären, was denn dieses Innere Erleben überhaupt sein soll. Woher sollen wir das wissen? Es wurde uns nie beigebracht und wir vermeiden auch unterbewusst, etwas darüber zu wissen.
Was uns die Lehrbücher schon mal verraten ist, dass Inneres Erleben triggern kann. Sonst hätten wir nicht so große Angst davor. Deswegen schauen wir uns das Thema auf strukturierte und gut geerdete Art an.
Innere Erfahrungen
Alle Menschen haben innere Erfahrungen. Das ist nichts, was auf Trauma oder DIS beschränkt wäre.
Ich halte diese inneren Erfahrungen für die nützlichsten, um über sie zu reflektieren:
- Gefühle/Emotionen
- Gedanken
- Körpergefühle
- Hoffnungen und Sorgen
- Innere Bilder und Fantasien
- Präferenzen und Wünsche
- Bedürfnisse
- Impulse und inneres Drängen
- Ziele und Pläne
- Aufmerksamkeit und Bewusstsein
- Erinnerungen
- Intrusionen zB innere Stimmen
- …
Wie ihr sehen könnt, sind das keine völlig fremden Konzepte. Wir denken darüber nur selten abstrakt nach. Das alles kann auch mit Trauma oder der Existenz von anderen Anteilen verknüpft sein und alles kann intrusiv sein. Intrusionen sind innere Erfahrungen, die unser normales Erleben unterbrechen und sich dabei oft unangenehm und außerhalb unserer Kontrolle anfühlen. Dass es unerwartet und plötzlich passiert und sich nicht anfühlt, als würde es von einem selbst kommen, ist dabei besonders beunruhigend.
Wenn ihr mögt, könnt ihr euch sowas wie Karteikarten basteln für die inneren Erfahrungen, die ihr gerne tiefer erforschen wollt. Übt am Anfang am Besten nur mir ein oder zwei verschiedenen und nicht mit der ganzen Liste. Ihr könnt eure Kartensammlung nach und nach ergänzen oder ganz viele machen und sie für später aufheben. Ich halte es für pragmatisch, mit Emotionen, Gedanken und Körperwahrnehmungen anzufangen, weil wir die ständig für die Regulation brauchen.
Innere Erfahrungen bemerken
Bevor wir mit dem Reflektieren anfangen können, müssen wir erst einmal bemerken, was innen vor sich geht. Wir können uns eine Karte von unserem Stapel nehmen und uns Zeit nehmen, in der wir versuchen, nach innen zu fühlen und diesen Aspekt des inneren Erlebens wahrzunehmen. Wir können gleichzeitig unsere Sinne verwenden, um uns zu erden, aber es wäre weise, erst mal nicht nach mehreren inneren Erfahrungen gleichzeitig zu suchen. Zu viel bewusst-sein von zu viel unserer Innenwelt wird am Anfang schnell zur Überforderung.
Als nächstes schreiben wir alles auf, was wir bemerkt haben. Es ist eine wirklich gute Idee, sich ein Tagebuch zu besorgen. Wenn Ts uns raten, Tagebuch zu schreiben, dann meinen sie das als Unterstützung für diese Art der Reflexion. Die achtsame Haltung, die wir üben, hilft uns nichts zu bewerten und allem zu erlauben, da zu sein, ohne dass wir was damit oder dagegen tun müssten. Es ist einfach.
Ihr könnt selbst entscheiden, ob ihr Intrusionen von anderen Anteilen mit aufnehmt oder sie erst mal zur Seite legt. Kleine Warnung: Sobald wir mal aufhören, uns ständig abzulenken und nach innen hin achtsam werden, dann versuchen manche Anteile bestimmt, unsere Aufmerksamkeit zu bekommen. Sonst gibt es ja keine Gelegenheit, um gehört zu werden. Wenn wir es uns zur Gewohnheit machen, regelmäßig zu reflektieren, dann wird das weniger und einfacher zu managen.
Wählt eine oder mehrere Karten und bemerkt die inneren Erfahrungen eine nach der anderen, während ihr alles aufschreibt, was auftaucht. Es ist auch in Ordnung, wenn das nicht viel ist. Mit etwas Übung wird es besser.
Reflektieren
Dann kommen wir an die Stelle, wo wir nicht nur Dinge bemerken, sondern tatsächlich reflektieren. Reflexion bedeutet, über innere Erfahrungen nachzudenken, um sie besser zu verstehen. Wir gehen unsere Notizen durch, was wir bemerkt haben, und denken darüber nach, um zu sehen, ob wir etwas daraus lernen oder einen Sinn daraus erschließen können.
Dann könnten wir uns z.B. fragen:
- Wie passt das zusammen? Sind innere Erfahrungen miteinander verbunden?
- Wie passt das zur Situation?
- Habe ich das schon mal erlebt? Scheint es vertraut?
- Hat es einen Bezug zu TraumaZeit?
- Was sagt mir das über mich (einen anderen Anteil/Person)
- Mag ich diese innere Erfahrung? Warum/Warum nicht?
- Wie könnte ich mein Erleben ändern, damit es besser für mich ist? Muss ich das überhaupt?
- Was für einen Einfluss hat das auf mein Verhalten?
- …
Ihr könnt dann eure eigenen Fragen hinzufügen. Das soll nur eine Starthilfe sein.
Das Trickreichste am Reflektieren ist die Deutung. Das ist für ganz viele Leute schwierig, aber Trauma macht es noch mal kniffliger. Wir sind es so sehr gewöhnt, die Bedeutung von Inhalten aus unserer Trauma Perspektive heraus zu erschließen und heute hat nicht mehr alles etwas mit Trauma zu tun. Ganz offen gesagt, es kann sein, dass wir da Hilfe brauchen. Eine Person, die zuhört, was wir bemerkt haben und wie wir das deuten, kann unsere Interpretation mit prüfen und uns verraten, wie sie das aufgrund ihrer eigenen, gesammelten Erfahrung interpretiert hätte. Wir nehmen davon immer nur an, was uns hilft und sich stimmig anfühlt (andere Leuten haben auch nicht immer recht), aber es hilft wirklich, das mit jemandem durchzusprechen.
Mit der Zeit können wir stabile Muster darin wahrnehmen, wie wir fühlen, denken und die Welt erleben. Dinge, die nicht nur eine flüchtige Reaktion auf äußere Umstände sind, sondern mehr eine Art, wie wir selbst sind. Wir kommen in Kontakt mit unserer eigenen Persönlichkeit.
Über andere Anteile reflektieren
Wenn wir unsere eigenen Muster ein bisschen besser kennen gelernt haben, können wir uns mehr darauf konzentrieren, das innere Erleben anderer Anteile zu erforschen. Wir können wieder unsere Karten verwenden und damit anfangen, nur zu bemerken. Was immer andere Anteile teilen wollen, schreiben wir auf. Das kann einiges an Übung brauchen, wenn die dissoziativen Barrieren sehr hoch sind. Anteile kommunizieren nicht immer durch Intrusionen von inneren Stimmen. Es ist wichtig, auch die anderen Aspekte von innerem Erleben zu prüfen, um zu sehen, wo es eine offene Verbindung gibt. Wir arbeiten uns dann durch unseren Stapel von Karten, eine nach der anderen, spüren nach und achten aufmerksam auf alles, ohne wählerisch zu sein. Vielleicht kann ein Anteil nicht mit Worten kommunizieren, aber es gibt viele Möglichkeiten, sich mit Bildern oder Impulsen verständlich zu machen. (Oder, seien wir ehrlich, indem man uns mit Emotionen und Erinnerungen bombardiert)
Wenn wir alle Informationen gesammelt haben, die wir kriegen können, reflektieren wir wieder darüber. Wir stellen uns die selben Fragen wie vorher, nur mit dem Bewusstsein, dass es sich um das Erleben von anderen Anteilen handelt. Was wir dabei im Hinterkopf behalten müssen, ist, dass diese Anteile vielleicht nicht in Raum und Zeit orientiert sind. Ihr aktuelles Erleben kann sehr weit von der Realität abweichen, die wir kennen. Wir können daraus etwas lernen, aber es muss nicht wörtlich das sein, was mit uns geteilt wird. Es muss nicht mal die aktuelle Situation betreffen. Es ist nötig, dass wir unser eigenes Wissen und unser Verständnis der Welt mit nutzen, um bei der Deutung einen Rahmen zu schaffen, der berücksichtigt, dass Trauma und strukturelle Dissoziation eine Rolle spielen. Die Art von Realitäts-Checks, die wir hier brauchen, lernt man am besten in Therapie.
Mit der Zeit werden wir bestimmte Muster von innerem Erleben bemerken, die zu bestimmten Anteilen gehören und die sich mehr oder weniger von unseren unterscheiden. Das ist der Grund, warum DIS früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt wurde. Wir haben mehr als ein relativ stabiles Muster, die Welt zu erleben.
Als der Begriff der ‘inneren Welt’ zuerst benutzt wurde, meinte das einfach nur den Bereich, in dem innere Erfahrungen stattfinden. Alle haben so ein inneres Leben, das aus einer Vielzahl von inneren Erfahrungen zusammen gesetzt ist. Sogar mit Aphantasia. Innere Bilder sind nur ein Aspekt unter vielen. Bei DIS haben wir nur sehr viel mehr davon und es wird manchmal sehr komplex. Reflexion ist das Werkzeug, das uns hilft, das alles zu sortieren und hoffentlich besser zu verstehen.