In unserem Bestreben, uns selbst und die Welt zu verstehen, werden wir viel Zeit damit verbringen, über Erfahrungen zu reflektieren. Darüber wie man über das Innere Erleben reflektiert, haben wir schon gesprochen. Jetzt schauen wir uns an, wie wir die Welt um uns herum deuten und verstehen können.
Konstruktivismus
Wir alle wissen nur Fragmente von all dem, was man in der Welt lernen kann. Diese Fragmente setzen sich zusammen aus unserer Bildung, unserer Neugier und der Beschäftigung mit alltäglichen oder auch speziellen Themen usw aber auch aus unseren Trauma Erfahrungen. Wir bauen uns unsere Realität aus diesen Bausteinen zusammen. Das ist eine Form der Integration, die man Synthese nennt. Je nachdem wie viel Trauma wir erlebt haben, wie isoliert wir waren und wie andauernd die Traumatisierung war, kann unsere Sammlung von Wissen über die Welt recht extrem und einseitig werden. Andere Leute, auch unsere Ts, scheinen in einer anderen Realität zu leben und egal wie viel sie auf uns einreden, sie überzeugen uns nicht, die Dinge anders zu sehen.
Aber wie kann es passieren, dass andere so ein anderes Weltbild entwickeln? Sie beziehen ihr Wissen aus anderen Erfahrungen und so werden andere Fragmente von Realität integriert. Ihre Bruchstücke ergeben zusammengefügt ein anderes Bild. Vielleicht gibt es in ihrer Realität auch Fragmente von Trauma, aber sie haben auch noch viele andere Erfahrungen und Wissen, das ihnen als Gegengewicht dient. So ist ihre Realität nicht von Trauma dominiert. Der größte Teil der Bevölkerung hat kaum Bewusst_sein für Trauma in ihrem Weltbild oder verdrängt es.
Das erste, was wir also verstehen müssen, ist das es nicht eine große Realität gibt, die wir uns alle teilen und die wahr ist und wenn wir uns nur genug anstrengen und mehr lernen, dann finden wir die richtige Wahrheit. Wir setzen alle nur die Fragmente von dem zusammen, was wir als real wahrnehmen. Und dieses individuelle, innere Konstrukt von Realität baut stark auf den Erfahrungen auf, die wir schon gesammelt haben. Wir versuchen neue Informationen so zwischen die alten einzufügen, dass es unsere Interpretation der Realität sinnvoll weiter führt, weil die für uns schon Sinn ergibt. Manchmal drehen wir Fragmente von Wissen immer wieder herum bis wir einen Weg finden, das auf dem Kopf stehend irgendwo einzufügen.
Der Verstand
Der nächste hilfreiche Schritt ist, sich den Verstand als eine Art Denk-Apparat vorzustellen. Etwas passiert in der Welt. Die sensorische Information kommt über unsere Sinne im Körper an und wir werden uns dessen bewusst (Wahrnehmung). Dann wird das in den Verstand geleitet, wo wir darüber nachdenken können. Hier sortieren wir die Fragmente von Information, die wir bekommen haben und versuchen, sie sinnvoll zusammen zu fügen, um eine Interpretation zu erzeugen. Unsere Reaktion auf die Interpretation ist eine Form von Innerem Erleben. Das Gehirn mag es, wenn es Verbindungen herstellen kann. Aber unser Verstand ist auch traumatisiert. Das bedeutet, dass er hoch sensibel auf reale oder eingebildete Ähnlichkeiten zu Trauma Situationen reagiert und neue Erfahrungen auch mal direkt neben den alten einsortiert – und den alten Verhaltensweisen, wie darauf reagiert werden muss. Die Art und Weise, wie unser Verstand Sinn aus den Informationen zieht, ist nicht immer hilfreich, weil es auf einer Realität basiert, die heute nicht mehr passiert. Es ist weise zu verstehen, dass unsere Interpretation von Informationen daneben liegen kann, während die Information bzw ihre Wahrnehmung durchaus so passiert ist. Manche Situationen sind klarer als andere und je weniger Kontext wir haben, desto eher verbinden wir auch die falschen Punkte. Wir brauchen zusätzliche Reflexion, damit wir unseren Prozess, Sinn zu erschließen, doppelt überprüfen können.
So sieht das normalerweise aus
Und das müssen wir tun, wann immer wir merken, dass unsere Interpretation davon, was real ist, sich deutlich von der der Leute um uns herum unterscheidet
Wir treten einen Schritt zurück und reflektieren über den Prozess, der uns zu unserer Schlussfolgerung gebracht hat und schauen, ob man das auch anders interpretieren könnte. Hilfreiche Fragen könnten sein:
- Was war die grundlegende Information/Wahrnehmung, die im Verstand angekommen ist?
- Wie hat der Verstand das interpretiert?
- Wie hätte das jemand anderes interpretiert?
- Was sind 3 andere mögliche Interpretationen, die zur Situation passen könnten?
- Wie beeinflusst meine Interpretation mein Inneres Erleben?
- Würde andere Leute denken, meine Reaktion sei zu viel/zu wenig/am Ziel vorbei?
- Kann ich jemanden fragen, wie die diese Situation erlebt hätten?
- Wie beeinflusst meine Trauma Erfahrung meine Interpretation?
- In einer Welt ohne Trauma, was könnte meine Wahrnehmung bedeuten?
- Wenn ich aus der Szene raus zoome, welche Art von Kontext könnte ich bemerken, die mir hilft, die Situation besser zu verstehen?
Unser Verstand ist nicht perfekt darin, wie er Informationen verarbeitet. Wir können das zugeben, ohne auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen und zu behaupten, es wäre alles falsch. Wir alle bauen uns unsere Realitäten zusammen und manche sind hilfreicher als andere, das ist alles. Wir suchen nach hilfreicheren Schlussfolgerungen, damit wir in Sicherheit sind und auch die Freiheit haben, das Leben zu erforschen ohne ständig Angst zu haben. Wenn unser Leben heute relativ sicher ist, können wir unser Erleben oft verbessern, indem wir die Deutung in unserem Verstand noch mal überprüfen. Dann können neue Informationen beginnen, die alten auszugleichen und wir lassen die Vergangenheit hinter uns. Wir machen das, wenn wir Realitäts-Checks machen oder Früher von Heute trennen. Das sind Übungen für die Reflexion über die äußere Welt und ihre Beziehung zu unserem Inneren Erleben. Sind unsere Lebensumstände (noch) schlimm, wird kein Realitäts-Check der Welt etwas daran ändern, weil das zurecht unsere Wahrnehmung ist. Dann ist es Zeit, die Umstände zu ändern.
Über multiple Realitäten reflektieren
Das spannende an einer DIS ist, dass wir mehr als eine Ich-Perspektive haben und damit auch mehr als eine Sicht auf die Realität. Man kann sich vorstellen, dass unser mentaler Raum in kleinere Abschnitte unterteilt ist. Verschiedene mentale Abschnitte filtern Wahrnehmung anders, sodass andere Details in unser Bewusstsein gelangen. In der Folge haben von vorne herein nicht alle Anteile die gleichen Informationen. Dann vergleichen die abgetrennten mentalen Räume die Information mit ebenfalls abgetrennten Sammlungen von Erfahrungen von früher und versuchen daraus eine Interpretation zu basteln, die in getrennte aber stabile Konstrukte von Realität rein passen. Das Ergebnis ist, dass zwischen dem, was Anteile gerade als real wahrnehmen, Welten liegen können. Ich glaube es war Kluft, der von DIS als ‘Multipler Realitäts-Störung’ gesprochen hat. Das ist ein deutlicherer Hinweis auf DIS als dramatisches Switchen.
Wenn wir uns nicht mal auf relativ ähnliche Konstrukte von Realität einigen können, wird das einen Einfluss auf unsere Funktionsfähigkeit und Lebensqualität haben. Um es noch schlimmer zu machen, sind manche der konstruierten Realitäten so tief in einer Welt verwurzelt, die aus Trauma Fragmenten besteht, dass unsere Reaktionen auf heutige Situationen völlig daneben liegen können, sodass es gefährlich wird oder wir psychotisch wirken.
Was wir erleben sieht mehr so aus:
Um überhaupt zu beginnen, aus all den verschiedenen Realitäten und Erfahrungen innerhalb dieser Realitäten Sinn zu erschließen, ist es nötig zu erforschen, was in den mentalen Räumen anderer Anteile passiert. Jedes bisschen Information, das uns hilft zu verstehen, wie sie die Welt sehen, was sie erwarten, wie sie die Vergangenheit grundsätzlich erlebt haben und wie ihre Denkprozesse aussehen, hilft uns, ihre Realität zu entschlüsseln. So wie wir über unsere eigenen Prozesse im mentalen Raum reflektiert haben, werden wir neugierig und denken über ihren mentalen Raum nach, eine Form von Mentalisierung. Weil dabei Trauma Inhalte auftauchen können, braucht es bestimmt ordentliches Pacing. Neugier hilft uns gegen die Angst.
Wir behalten dabei im Hinterkopf, das keine unserer konstruierten Realitäten wörtlich die eine große Wahrheit sind. Weder unser eigenes Konstrukt noch das der anderen Anteile ist perfekt, auch wenn wir uns jeweils ziemlich sicher darüber sind, was wir wissen. Wir kennen alle nur Fragmente in einem Universum aus Informationen. Es gibt immer mehr zu lernen. Und es gibt immer noch mehr Interpretationen von Wahrnehmung, die es wert sind, erforscht zu werden.
Wenn wir Realitäts-Checks mit Anteilen machen, die in ihrer eigenen Welt leben, dann versuchen wir nie, etwas von dem wegzunehmen, was sie wissen. Wir kommen als Lernende und versuchen andere zum Lernen zu inspirieren. Das bedeutet, unser Fokus ist erst mal auf Synthese, ein Prozess, in dem Datenpunkte miteinander verbunden werden. Wir bieten Anteilen neue Datenpunkte an, die bisher außerhalb ihrer Erlebenswelt gelegen haben und unterstützen sie darin, daraus Sinn zu erschließen. Wenn sie die Fragmente von Information auf den Kopf stellen, damit sie bei sich rein passen, können wir sanft erforschen, ob das eine hilfreiche Interpretation ist und erklären, dass wir noch eine andere kennen. Wollen sie sie hören? Wir erweitern den Erlebenshorizont und erlauben damit, dass auch gute Dinge in eine sonst düstere Realität integriert werden. Damit fördern wir mehr Realisation über das Heute. Was immer wir anbieten können, um frühere Erfahrungen auszugleichen, ist hilfreich. Wenn es eine solide Basis neuer Erfahrungen gibt, können wir uns alten Realitäten zuwenden.
Wir versuchen nicht, etwas wegzunehmen. Ich glaube nicht, dass wir das können. Diese Anteile wissen besser, was sie erlebt haben, als wir. Was wir tun können, ist diese Realität auf der Zeitachse zu bewegen und sie sanft in eine wahrgenommene Vergangenheit zu verschieben. Das war absolut real und es passiert jetzt nicht mehr. Das Heute bietet eine neue Realität mit vielen anderen Erfahrungen. Das nennt sich Präsentifikation. Wir benutzen hier die Grundprinzipien von Integration, weil unsere inneren Realitäten dissoziiert sind. Bevor wir versuchen Anteile davon zu überzeugen, ihre Denkmuster zu verändern, brauchen wir etwas Integration unserer Realitäten. Kognitive Verhaltenstherapie funktioniert bei uns nicht, wenn sie die strukturelle Dissoziation und deren Einfluss auf unser Denken ignoriert.
Verleugnung
Verleugnung kann man als eine fehlende Integrationsleistung zwischen dissoziierten Realitäten verstehen. Die Realität eines Anteils passt nicht in die eines anderen. Es ist einfach zu groß und zu unterschiedlich. Um Wissen zu integrieren, ist es nötig, klein anzufangen und zB nur einen einzelnen Datenpunkt zwischen den Realitäten zu verbinden. Auch wenn wir Sachen anders interpretieren und sie deswegen anders verstehen, gibt es doch auch Dinge, die recht sicher sind, weil wir Beweise dafür haben. Vielleicht wissen wir, dass wir zu etwa der richtigen Zeit an einem Ort waren, weil es Fotos oder Eintrittskarten gibt. Wir überwinden Verleugnung, indem wir sanft auf das schauen, was wir ganz sicher wissen. Und dann fügen wir ein kleines bisschen Information hinzu, die zu dem passt, was wir schon wissen. Wie viel wir realisieren können, hängt von der integrativen Kapazität ab und die verbessern wir durch Selbstfürsorge und Ausruhen. Es mit Druck zu versuchen, macht es schlimmer. Realitäten zu integrieren braucht Zeit und Geduld und beide Sets von Realitäten verändern sich bei dem Prozess deutlich und bewegen sich aufeinander zu.
Anteile, die miteinander verbunden sind und sich sicher genug fühlen, um sich miteinander auseinander zusetzen, haben es einfacher, neugierig und spielerisch andere Perspektiven zu erforschen. ‘To keep each others mind in mind’ ist eine Beschreibung davon, wie wir eine geteilte Meta Perspektive erreichen können. Sobald es genug Synthese zwischen Realitäten gibt, können wir damit beginnen, zusammen unsere Interpretationen zu hinterfragen, uns gegenseitig nach unserer Meinung zu einer Situation zu fragen und uns gegenseitig zu helfen, unsere geteilte Realität auszubalancieren. Wir lernen, uns gegenseitig zu sagen, wenn wir denken, dass jemand in Trauma Gedanken fest steckt oder zu wenig vom Kontext versteht, um die Situation einzuordnen. Integration ohne Fusion beschreibt Netzwerke aus ähnlicher gewordenen Konstrukten der Realität, die zusammen arbeiten, um ein Gleichgewicht zu schaffen. Das reduziert die Menge an Problemen, denen wir uns stellen müssen und verbessert, wie wir uns und die Welt erleben.