Wenn wir mit unserem DIS System arbeiten, kann es dazu kommen, dass uns traumatisierte Anteile begegnen, die von der normalen Welt abgeschnitten sind. Sie sind nie damit in Kontakt gekommen und alles, was sie kennen, ist die Welt, die die Täter*innen um sie herum erschaffen haben. Speziell bei einem Hintergrund von organisierter Gewalt kennen sie nur eine begrenzte Anzahl von Personen, Orten und eine stark eingeschränkte Anzahl von möglichen Handlungen, die sich abspielen können, die meisten davon traumatisch. In der Arbeit mit diesen Anteilen stoßen wir auf eine Sprachbarriere. Manchmal bedeuten Worte für sie etwas völlig anderes. Öfter noch haben sie einfach keine Ahnung, wovon wir reden. In ihnen gibt es kein passendes Konzept für alltägliche Dinge. Ihre Konzepte passen in eine Trauma Welt, wo andere Dinge alltäglich waren. Vielleicht haben sie mal von was gehört, aber sie haben keine Erfahrung damit gemacht und deswegen keine Erinnerung an die Wahrnehmung, wie sich sowas anfühlen würde. Ohne Erfahrung fühlt es sich nicht real an. Unsere Bemühungen, sie in der heutigen Realität zu erden, können weit jenseits ihrer Fähigkeiten liegen, das zu verarbeiten. Realitäten prallen aufeinander und es kommt zur Überforderung. Sie können nicht einfach geschmeidig von einer Realität in eine völlig andere wechseln. Wir brauchen eine Brücke, die verschiedene Welten verbindet.
Treffen auf halbem Weg
Wir können innerlich einen Begegnungsort erschaffen, wo verschiedene Realitäten sich in einem geschützten Rahmen begegnen können. Anteile aus beiden Welten können zusammen kommen und übereinander lernen. Es gibt dort keine richtige oder falsche Art von Realität, nur unterschiedliche Erfahrungen, die man erforschen kann. Anteile, die in einem Übergangs-Haus leben, bekommen ihr eigenes Zimmer, das sie gestalten dürfen, wie sie wollen. Die Gemeinschaftsräume sind neutral gehalten und es gibt die Möglichkeit nach draußen zu schauen, was dort gerade passiert. Auch wenn es an diesem Ort ein Wissen um beide Welten gibt, ist er weder die eine noch die andere und niemandem ist es erlaubt, ihn in die Realität zu verwandeln, die sie selbst am besten kennen. Es bleibt ein neutraler Ort, der unparteilich ist und sich in keine Richtung bewegt.
Regeln und Aufgaben
Weil wir uns das ohnehin selbst bauen, können wir unsere eigenen Regeln und Grundlagen entwickeln. Es gibt da genau genommen keine Vorlage. Ich halte es für hilfreich, die Regeln auf ein Minimum zu begrenzen, um Überforderung zu vermeiden. Tu niemandem weh. Zerstöre nichts. Bleib angezogen. Keine Bestrafung. Diese Regeln gelten für alle, die dort wohnen oder zu Besuch kommen, ohne Ausnahmen. Die erste wichtige Erkenntnis für traumatisierte Anteile ist, dass Regeln jetzt für alle gelten und andere sich auch dran halten müssen.
Ich glaube, dass es hilfreich ist, tägliche Routinen einzuführen, bei denen Anteile, die dort leben, mitmachen können; Routinen von Selbstfürsorge wie regelmäßige Essenszeiten, Schlafenszeiten, Hygiene und ähnliche tägliche Handlungen, die das System ohnehin tut und wo Trauma Anteile sich einklinken können. Das ist schon ziemlich schwierig! Es hilft auch dabei, einen Rhythmus zu finden und sich zu orientieren. Aufgaben sind nicht wie Regeln und Anteile werden ermutigt, sich anzuschließen, es wird ihnen aber kein Druck gemacht. Wir können Gespräche mit ihnen führen, wie ihre Erwartungen an solche Handlungen sind, bevor sie mitmachen und sie können immer auch einfach zuschauen was passiert. Ein neuer felt sense von einer heutigen Erfahrung entsteht allerdings nicht durch zuschauen alleine und wird zugänglich, wenn wir uns für einen Moment synchronisieren.
Eine weitere sinnvolle Aufgabe könnte es sein, sich einmal am Tag ehrlich auszudrücken mit dem, was einem wichtig ist. Ich habe dafür ein kleines Büchlein, wo Anteile Gedichte rein schreiben. Die müssen nicht gut sein, nur ehrlich empfunden. Für andere ist es eine bessere Option, etwas zu malen, weil die Anteile noch sehr jung sind oder keine Worte zur Verfügung haben, die sie verwenden können.
Das klingt alles vielleicht nicht nach besonders viel, aber für sie ist das eine Menge, die erst mal verarbeitet werden muss und es braucht für die tägliche Arbeit mit ihnen nicht mehr. Wir sollten regelmäßig nach ihren Bedürfnissen schauen und flexibel damit umgehen. Das ist mehr ein kreativer Prozess als eine feste Übung.
Gespräche
Ein Übergangs-Haus ist ein Treffpunkt, also sollten dazu ausgewählte Anteile von uns es regelmäßig besuchen. Ich halte es für sinnvoll, täglich nach Anteilen, die dort leben, zu sehen. Und manchmal, wenn es gerade stimmig ist, können wir uns zusammen setzen und reden. Wir tauschen uns darüber aus, wie wir das Leben gerade erleben. Wir fragen sie und wir hören zu, um zu verstehen und nicht um zu antworten. Sie werden die Welt durch den Filter ihrer früheren Erfahrungen sehen und wir können daraus viel lernen. Wir hören etwas über ihre Erfahrungen, die Regeln ihrer Welt, warum die dort Sinn ergeben haben, warum sie bestimmte Dinge glauben und was sie von bestimmten Situationen erwarten. Sie können uns erklären, wie Situationen sich in ihrer Welt entwickelt haben und wie das geendet hat. Dann können auch wir teilen, wie wir die aktuellen Erfahrungen verstehen, wie unsere Welt funktioniert und welche Regeln da wichtig sind, warum das so Sinn ergibt und wie sich bei uns Situationen entwickeln. Das ist ein bisschen so als würden wir mit jemandem aus einem anderen Kulturkreis reden. Keine Verurteilung. Das Leben verläuft in unterschiedlichen Realitäten eben anders. Es kann auch helfen, darüber zu sprechen, wie das Übergangs-Haus mit seinen eigenen Regeln wahrgenommen wird, die weder ganz das alte sind noch das neue und wie Interaktionen hier ablaufen. Anteile dürfen offen sagen, wie sie uns erleben und wir können ihnen Feedback geben, wie wir sie erleben.
Erfahrene Therapeut*innen können ein Teil solcher Gespräche sein. Bei Gelegenheit können sie auf logische Fehler in der Täter-Welt hinweisen. Weil die ein erfundenes Umfeld ist, das nur den Täter*innen helfen soll, wird es da Unstimmigkeiten geben. Zu bemerken, dass etwas an der Trauma Welt nicht stimmt, kann Anteilen helfen, sie in einem neuen Zusammenhang zu verstehen.
Integration
Indem wir voneinander lernen, erwerben wir Wissen darüber, wie wir sicher miteinander umgehen können. Wir lernen, warum jemand sich so verhält, wie sie es tun und sie lernen vielleicht, dass diese Handlungen heute unnötig sind, weil sich die Lage völlig anders entwickelt. Die neue Welt wird mit der Zeit immer vertrauter. Diese Trauma Anteile sind ein bisschen wie Flüchtlinge, die nicht an den Ort zurück können, den sie verlassen haben. Wir brauchen einen Weg, um sie in die neue Realität zu integrieren. Diese Welt kann so interessant und aufregend sein, dass Integration einfach ist. Aber man kann sich auch unheimlich fremd und fehl am Platz fühlen und es braucht Zeit, um Gefühle und Trauer zu verarbeiten, bevor man sich für neue Möglichkeiten öffnen kann. Sie haben alles verloren, was sie je kannten. Aber sie müssen ihre Herkunft und ihre Erinnerungen deswegen nicht über Bord werfen. So funktioniert die Integration in eine neue Kultur nicht. Wir bringen etwas mit, vor allem Wissen, und wir erkennen auch, dass es jetzt neue Regeln gibt und eine neue Art, wie unser Leben und das von anderen abläuft. Nichts wird weggenommen. Wir fügen neue und andere Dinge hinzu, die mehr Raum im Leben einnehmen können, weil sie in der neuen Welt nützlicher sind als alte.
Ein Ort, wo wir mit der erlebten Veränderung experimentieren können, ist unser eigenes Zimmer, das wir mit der Zeit neu einrichten können, entsprechend dem, was wir neu gelernt oder erfahren haben. Niemand muss ein Übergangs-Haus verlassen, bevor sie bereit dazu sind. Nehmt euch so viel Zeit wie ihr braucht. Die neue Welt wartet geduldig auf euch. Ihr seid schon auf halbem Weg daheim.
Echte Orte
Manchmal reicht es nicht, einen inneren Ort zu gestalten. Überlebende von besonders extremen Hintergründen können sich in dieser Welt komplett entfremdet fühlen und praktisch keine Fähigkeiten haben, in ihr zu funktionieren. In solchen Fällen hilft es, eine Organisation zu finden, die im echten Leben Übergangshäuser für Betroffene anbietet, wo sie eine Zeit lang wohnen und lernen können und dabei unterstützt werden.
Andere Leute kriegen das mit dem Alltag irgendwie gut genug hin, um eigenständig zu wohnen, aber sie haben Anteile, die ihre Vorstellungskraft nicht nutzen können. Das könnte an alten Regeln liegen oder daran, dass ihre kognitiven Funktionen so abgespalten sind, dass sie ihnen zwar erlauben, bestimmte Wahrnehmungen zu haben, aber es passiert keine wirkliche Reflexion oder kreatives Denken damit. Reale Erfahrungen müssen die Brücke in die Realität heute bauen. Dann können wir unser Zuhause oder bestimmte Bereiche davon als Übergangs-Haus gestalten. Das wird ein sicherer Ort, wo es Wissen über beide Realitäten gibt. Draußen vor dem Fenster ist die aktuelle Realität. Und an unserem sicheren Ort drinnen teilen wir, was wir über verschiedene Welten wissen und bringen uns die neue Realität durch reale Handlungen und Erfahrungen näher.
Diese Art von Arbeit braucht viel Geduld. Sie ist nicht immer notwendig. Wenn sie es doch ist, dann arbeiten wir in der Regel mit Anteilen, die extreme Erfahrungen in sich tragen und die nur eine Trauma Realität kennen und sich etwas anderes gar nicht vorstellen können. Alles was sie wissen, folgt anderen Regeln als unsere Welt. Dann dürfen wir vergleichen, was wir wissen und lernen, warum andere Regeln in unseren unterschiedlichen Umgebungen Sinn ergeben haben und einen sanften und begleiteten Kontakt mit unserer Welt anbieten, wenn das angenommen wird. So ein neutraler Ort kann eine Brücke sein, die diesen Anteilen hilft, sich an neue Ideen zu gewöhnen und ein neues Zuhause in dieser Welt zu finden. Ich selbst habe das noch nie mit mehr als einem Anteil probiert, die gleichzeitig in so einem Haus leben. In einem größeren Setting ist mit Interaktionen zwischen Anteilen zu rechnen, die helfen oder auch schaden könnten, je nachdem wie es sich entwickelt. Ihr braucht für sowas dann erfahrene Begleitung, damit das gut gelingen kann.
Es gibt ein berühmtes Zitat dazu, dass Überlebende von extremer Gewalt in dieser Welt nicht mehr heimisch werden können. Ich möchte das nicht glauben. Ich möchte glauben, dass man Zuflucht finden und sich in eine andere Welt integrieren kann. Es wird keine Welt sein, in der keine extreme Gewalt passiert, weil es wahr ist, dass sie irgendwem irgendwo gerade passiert. Aber das muss nicht unsere einzige Realität bleiben oder unsere eigene aktuelle Realität. Die echte Welt ist komplex und voll von allen möglichen Erfahrungen. Wenn es uns erlaubt ist, einen neutralen Ort zu haben, wo wir neue Erfahrungen machen können, finden wir vielleicht ein neues Gefühl von Heimat in der Welt.
Dieser Artikel basiert auf dem Vielseits-Prinzip