Wir können uns unser Erleben von Stress als ein Spektrum vorstellen. Am einen Ende des Spektrums sind wir entspannt und gar nicht gestresst und am anderen Ende erleben wir eine Krise. Und dann gibt es einige Stufen dazwischen. Wir können so ein Spektrum verwenden, um damit unsere Situation zu bewerten. So können unsere Interventionen schnell und passend zu unseren Bedürfnissen sein. Dann wird es auch einfacher, eine Krise zu erkennen und zu wissen, wann wir uns Hilfe holen müssen. Der einzige Nachteil ist, dass wir erst einmal Erfahrung mit Stress und Krisen brauchen, um deren zentrale Anzeichen bei uns identifizieren zu können.
In dieser Übung schauen wir uns nicht kurze Momente von getriggertem Stress an, sondern Stresslevel, die über eine Reihe von Tagen stabil bleiben. Ein Tag im Hochstress ist noch kein Problem, aber wenn das zu einer Woche wird, sollten wir aufmerksam werden. Wir beginnen damit, unser Spektrum in verschiedene Stufen von Stress einzuteilen. Eine Grafik, die man im englischen oft findet, benutzt 5 Stufen: excelling, thriving, surviving, struggling und crisis. Das ist für Menschen mit durchschnittlich guter psychischer Gesundheit gedacht und ich finde nicht, dass das für unsere Zwecke reicht. Wir benutzen 6 Stufen: entspannt und geerdet, milder Stress, mittlerer Stress, hoher Stress, sehr hoher Stress und Krise. Wenn innerhalb eures Systems sehr spezifische Dinge passieren, die nicht alleine von Stress abhängen, könnte es helfen, die als eigene Stufe anzusehen. Wir beginnen unsere Tabelle damit, eine Spalte für alle Stufen zu machen, die wir uns anschauen wollen. Ihr könnt euch die farblich kodieren oder Zahlen oder Symbole dafür verwenden, wie wir das hier tun.
Erlebensbereiche
In den Zeilen schauen wir uns dann verschiedene Erlebensbereiche an. Es braucht Zeit, um darüber nachzudenken und uns daran zu erinnern, wie bestimmte Stresslevel in der Regel für uns sind. Wir müssen die Tabelle nicht an einem Tag fertig machen. Es macht Sinn, regelmäßig damit zu arbeiten und neue Erkenntnisse zu ergänzen. Menschen verändern sich. Wir geben euch ein paar Ideen, nach was ihr Ausschau halten könntet, aber am Ende müssen wir alle selbst raus finden, was bei uns wichtig ist und was nicht.
Erlebensbereiche, die wir uns anschauen könnten:
- Körper: Bewusstsein für Körperwahrnehmung oder ihr Fehlen, Schmerzen, bestimmte Körpergefühle (Enge, Ruhelosigkeit, Probleme beim Atem usw), Menge der Bewegungsimpulse, Sensibilität/Taubheit/Funktion von Sinneswahrnehmungen, Gefühl für Temperatur, Kontrolle über Bewegungen, Art der Stimulation/Betäubung, die wir suchen, Schwere der Symptome bei chronischen Krankheiten, Muskelspannung, Selbstverletzung, Anteile, die körperliche Sicherheit sabotieren usw.
- Selbstfürsorge: Menge von Essen/Trinken, Regelmäßigkeit von Essen/Trinken, Gespür für Hunger/Durst, Bemühungen um gesunde Lebensmittel, Menge von Schlaf/Schlafstörungen, Menge von Albträumen, Tageszeit zu der wir schlafen, regelmäßige Körperhygiene, Veränderungen in unseren Hygiene Routinen, mit dem Haushalt hinterher kommen, Zeitverluste, die Selbstfürsorge verhindern, Innere Konflikte, die Selbstfürsorge verhindern usw.
- Emotionen: häufigstes Gefühl, Intensität von Gefühlen, emotionale Taubheit, Unterschiede von Gefühlen zwischen Anteilen, gegensätzliche Gefühle im System, emotionale Flashbacks/in der Zeit fest stecken, Fähigkeit Gefühle auszudrücken, bestimmte Gefühle wie Verzweiflung, Ohnmacht oder extreme Scham, Fähigkeit Emotionen zu halten, emotionales Leiden oder ein auffälliges Fehlen davon, wo es angemessen wäre usw.
- Gedanken: Themen, sich wiederholende Gedanken, Gedankenkreisen, (Un)fähigkeit, über andere Dinge nachzudenken, Erinnerungen, die sich gerade real anfühlen, Fähigkeit Erinnerungen zu verpacken, um nicht geflutet zu werden, leerer Kopf/keine Gedanken, Flucht ins Denken, um nichts zu fühlen, innere Konflikte, innere Meinungsverschiedenheiten, Fähigkeit über die Zukunft nachzudenken, suizidale Gedanken, Schwarz-Weiß Denken, alte Regeln, Glaubenssätze oder Muster mit Traumabezug usw.
- Soziale Interaktionen: Gesellschaft suchen, sich zurück ziehen, verstecken, aggressives Verhalten gegen andere, oberflächlicher Kontakt/Masking, Menge an Misstrauen, Konflikte, Fähigkeit persönlichen Pflichten nachzukommen, soziales Copingverhalten wie Unterwerfung oder Beschwichtigung, Passivität usw.
- Verhalten: Fähigkeit Routinen zu folgen/Verpflichtungen nachzukommen, keinen Spaß an Dingen haben, die man sonst mag, bestimmtes Verhalten beginnen oder aufhören, gegen die eigenen Interessen oder Werte handeln, reduzierte Aktivität, kopflose Aktivität, Unfähigkeit mit ständiger Aktivität aufzuhören, wichtige Aufgaben vergessen, Kontrollverluste beim Verhalten, unerklärliches Verhalten usw
- Impulse: impulsives Verhalten, Impulse gegen die eigenen Ziele oder Werte zu handeln, Impulse zur Selbstzerstörung, aggressive Impulse, ungewöhnliche Impulse zB zu Kontaktaufnahme mit Menschen, die uns weh getan haben, Impulse die uns kontrollieren, während Gefühle/Gedanken dazu nicht erreichbar sind usw.
- System-Spezifisches: Anteile, die vorne sind, verschollene Anteile, Empfindlichkeit für Trigger, bestimmte Anteile, denen es nicht gut geht, wiederkehrende Muster von Stress in einzelnen Anteilen oder zwischen Anteilen, Menge von Amnesien, Menge von Kooperation, Überflutungen oder ungewolltes Blending, Anteile, die in Erinnerungen feststecken, Bedürfnisse oder Ziele, die sich nicht vereinbaren lassen, Menge der dysregulierten Anteile, Reinszenierungen, usw.
- Umstände: Menge an Aufgaben, freie Zeit, Verpflichtungen, ungewöhnliche Geschehnisse, Menge an verfügbarer Unterstützung, Zugang zu Ressourcen, Kontakt mit schwierigen Menschen, Konfrontation mit Triggern, unsicheres Umfeld, extreme Situationen usw.
Wir können jederzeit alles ergänzen, was uns zu unserer eigenen Situation noch einfällt. Das sind nur Beispiele. Es ist meistens einfacher, an den Enden des Spektrum anzufangen, und uns dann in die Mitte vorzuarbeiten. Achtet darauf, nicht zu tief in die Erinnerungen an Krisen einzutauchen, wenn ihr versucht, die äußeren Anzeichen und inneren Symptome zu identifizieren, an denen ihr die erkennen könnt. Je mehr wir anderen Anteilen zuhören, desto mehr nützliche Informationen können wir sammeln. Das ist völlig in Ordnung, Lücken zu lassen, wo wir uns noch nicht im klaren über unser Erleben sind. Wir haben viel Zeit, das später noch auszufüllen.
Interventionen
Wir sollten kann eine Sammlung von Informationen erhalten, die uns hilft, unsere jetzige Situation mit der Tabelle zu vergleichen und herauszufinden, auf welcher Stufe von Stress wir gerade sind. Um die Tabelle noch nützlicher zu machen, fügen wir noch Interventionen für die verschiedenen Stufen von Stress hinzu. Das wird sehr individuell ausfallen und hängt auch davon ab, wie viel Hilfe uns zur Verfügung steht. Wenn wir entspannt sind, brauchen wir keine Intervention. In einer richtigen Krise, braucht es in der Regel einen stationären Aufenthalt, um sicher zu sein. Alles dazwischen hängt von uns ab. Wir können unter jeder Spalte unsere persönlichen Interventionen sammeln.
Bei mildem Stress braucht es oft nur einen stärkeren Fokus auf Selbstfürsorge und Maßnahmen, um den Stress abzubauen. Wenn höhere Stufen von Stress länger anhalten, brauchen wir vielleicht eine Pause. Das könnte bedeuten, dass wir uns krank schreiben lassen oder für einen bestimmten Zeitraum Pflichten an jemand anderes abgeben. Dabei setzen wir Kapazitäten frei, die wir dann dafür nutzen können, alles zu sortieren und eine Lösung zu finden. Bei noch mehr Stress, brauchen wir Hilfe von außen. Wir sollten jemanden informieren und ihnen erlauben, uns zu unterstützen. Bei sehr hohem Stress bedeutet das, regelmäßige Kontakte mit professionellen Helfenden. Sollten wir kurz vor einer Krise stehen, ist es normal, auch täglich mit Menschen aus unserem Hilfenetzwerk zu sprechen, um sicher zu stellen, dass wir gut durch kommen. Es ist wichtig, dass wir uns für jede Stufe auch Interventionen aufschreiben, die über den Kontakt mit anderen Menschen hinaus gehen, weil wir alle verschiedene Ressourcen und Fähigkeiten haben und uns darin unterscheiden, wie viel Erfahrung wir mit hohem Stress haben und wie wir damit zurecht kommen. Wer gerade erst lernt, mit Stress zurecht zu kommen, wird mehr und früher Beistand brauchen als Menschen, für die Krisen eine traurige Routine sind.
Schwierigkeiten
Manchmal erleben wir Situationen, wo wir unsere Interventionen anwenden und merken, dass sie nicht so effektiv sind, wie sie es sein sollten. Sobald wir aufhören ein Werkzeug zu verwenden, sind wir wieder bei dem bestehenden Stresslevel und es wird nicht weniger. Wir haben wahrscheinlich verpasst, dass wir schon eine Stressstufe höher sind und es eine andere Intervention bräuchte.
Dissoziation und die damit verbundene Taubheit kann es sehr schwer machen zu bewerten, wo wir gerade stehen. Deswegen ist es so wichtig, genau auf den Grad der Taubheit, das nicht fühlen, nicht denken, nicht handeln, nicht connecten, nicht leiden, zu achten. Wir sollten das Fehlen einer normalen Reaktion als genauso ernst einstufen, wie einen extremen Ausdruck davon. Taubheit ist ein extremer Ausdruck. Um unsere Situation zu bewerten, brauchen wir ein klares Bild davon, das viele Erlebens- und Funktionsebenen mit einschließt. Es reicht nicht, uns nur anzuschauen, wie gut wir mit der Arbeit hinterher kommen, weil Funktionieren auch selektiv sein kann und unsere Fähigkeit mit dem Kopf zu arbeiten nichts über unseren emotionalen Zustand aussagt. Indem wir die ursprüngliche Übung aus der Verhaltenstherapie an unsere Bedürfnisse anpassen und Dissoziation und die Arbeit mit Anteile mit einschließen, können wir uns ein nützliches Werkzeug basteln.
Die Tabelle ist dazu gedacht, regelmäßig benutzt zu werden. Wenn möglich, sollten wir sie uns einmal die Woche anschauen, selbst wenn wir das Gefühl haben, dass es uns gut geht. Wir können uns auf unser Gefühl nicht verlassen. Wir müssen das prüfen. Dann können wir herausfinden, wo auf dem Spektrum wir uns gerade sehen und was für Interventionen, wenn überhaupt, nötig wären. So können wir gegensteuern, bevor wir in einer richtigen Krise landen. Es kann schrecklich schwierig sein zu spüren, wie es uns geht. Ich selbst hab schon Psychiater angebettelt mir zu erklären, woran ich merke, dass ich in einer Krise bin und die schauen einen immer an, als sei man verrückt das nicht zu wissen. Mit Dissoziation ist das wirklich so schwer. Aber eine gute Tabelle zu haben, mit der wir unsere Situation abgleichen können, hilft.
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