Überlebende sind oft geteilter Meinung was Achtsamkeit angeht. Manche sagen es hilft, andere erleben das Gegenteil. Wir müssen uns das genauer anschauen, um herauszufinden warum das so ist.
Ich definiere Achtsamkeit als gelenkte Aufmerksamkeit, die sich dadurch auszeichnet zu beobachten ohne zu bewerten, zu beschreiben ohne zu interpretieren und der Möglichkeit abzuwarten und etwas vorbeiziehen zu lassen ohne blind reagieren zu müssen. Achtsamkeit ist ein Werkzeug um Bewusst-Sein zu erhöhen. Sie kann nach Innen gerichtet sein, als distanzierter Beobachter von Körper, Gefühlen und Gedanken, oder nach Außen, durch eine Konzentration auf unsere Wahrnehmung durch unsere Sinne.
Für PTBS
Achtsamkeit ist eines der Standard Werkzeuge in der Traumatherapie. Sie wird oft zum Grounding und zur Selbstberuhigung genutzt (Fokus auf Wahrnehmung), zur emotionalen Regulation und Reflexion (Fokus nach Innen) und die Position des distanzierten Beobachters ist ein Schlüssel zu vielen Expositionstechniken. Du kannst tatsächlich nicht hoffen gut durch eine Exposition zu kommen ohne die Fähigkeit in Hier und Jetzt zu sein. Van der Kolk nennt Achtsamkeit einen „Grundpfeiler für die Heilung von Trauma“. Es gibt wissenschaftliche Belege, dass regelmäßige Achtsamkeit hilft die Symptome von PTBS zu reduzieren und die Impulskontrolle zu verbessern.
Nach außen gerichtete Achtsamkeit wird oft als Grounding Übung benutzt, wenn Patienten in Hyper/Hypoarousal gehen. Obwohl das gut klappen kann, wenn es sich nur um einen leichten Zustand handelt, ist es wenig hilfreich im tief roten/blauen Bereich auf der Skala. Gehirn Scans von dissoziierenden Menschen belegen, was Patienten erleben: Dass die Bereiche im Gehirn, die zuständig sind für unser Bewusstsein, für unseren Körper und unser Selbst, abgeschaltet sind. In diesem Zustand ist es tatsächlich physiologisch unmöglich achtsam zu sein. Wir müssen andere Werkzeuge benutzen. Achtsamkeit ist grundsätzlich mehr ein Skill für den gelben als den roten oder blauen Bereich.
Auch wenn Achtsamkeit sehr hilfreich sein kann, ist sie eben auch oft sehr unangenehm für Menschen, die chronisch dissoziieren.
Die meisten Patienten kämpfen sehr mit körperbezogener Achtsamkeit, weil sie normalerweise jedes Bewusstsein für ihren Körper vermeiden; der triggert. Das ist ein Unbehagen, durch das wir uns durch arbeiten müssen, denn wir können unseren Körper nicht richtig in den Kontakt mit der Gegenwart bringen, solange wir in dissoziieren und vermeiden und es ist gerade dieser Kontakt mit der Gegenwart und sicheren körperlichen Erfahrungen in der Gegenwart, durch die wir Heilung und eine Entlastung vom Wiedererleben erlangen.
Dieses Unbehagen kann auch aufkommen, wenn wir unsere Emotionen chronisch dissoziieren und durch Achtsamkeit wieder neu mit ihnen in Kontakt kommen. Es braucht eine Weile um ein distanzierter Beobachter zu werden. Und manche Menschen fallen beim Versuch sofort aus ihrem Lernfenster.
Manche Überlebende ertragen Achtsamkeit nicht, weil es dann laut wird in ihrem Kopf. Wenn sie präsenter sind, können sie innere Anteile wahrnehmen und sie haben zu viel Angst sich dem zu stellen. Es ist unmöglich jemanden zu erden, der dissoziiert, um sein inneres Erleben zu vermeiden. Keine Technik, das schließt Achtsamkeit ein, wird hier funktionieren.
Allerdings bedeutet Vermeidung aufrecht zu erhalten eben auch die PTBS Symptome aufrecht zu erhalten.
Meine Erfahrung ist, dass Ts oft zu einem recht hohen Level von Achtsamkeit ermutigen ohne die Patienten ausreichend zu warnen, dass es unangenehm sein kann und ohne zu erklären, warum es trotzdem wichtig ist dabei zu bleiben bis es einfacher wird. Viele Patienten brauchen kleinere Schritte.
Für DIS
Wenn wir Achtsamkeit für DIS verwenden, müssen wir uns im Klaren sein, dass die gelenkte Aufmerksamkeit eines Anteils nicht automatisch zu einem erhöhten Bewusst-Sein in einem anderen Anteil führt. Ohne eine spezielle Bemühung um Co-Bewusstsein wird nur der Anteil, der vorne ist, an der Übung teilnehmen. Wenn das Problem nicht bei der Frontperson sondern einem anderen Anteil liegt, der Orientierung und Grounding benötigt, kann Achtsamkeit völlig nutzlos sein. Wie auch bei DBT Skills müssen wir erst in Kontakt mit den Anteilen Innen kommen.
Wenn wir das tun, können uns alle Probleme begegnen, die schon für PTBS erwähnt wurden, sowie Trance Logik, die spezifisch ist für strukturelle Dissoziation. Beispiele für Trance Logik könnten Anteile sein, die denken, dass sie ihren eigenen Körper haben, dass sie noch einen Kinderkörper haben, dass sie ihren Körper unabhängig von der Außenwelt bewegen können oder dass es andere Anteile nicht beeinflusst, wenn sie etwas mit dem Körper tun. Das sind nur ein paar Beispiele. Trance Logik ist praktisch endlos, scheint in sich logisch, ist aber nicht mit der Realität verbunden.
Präsentifikation ist eine der großen Aufgaben im DIS Gesundungsprozess und sie wird erreicht, indem wir achtsamer sind für die Gegenwart. Wenn man innere Anteile bittet, durch die Augen nach draußen zu schauen oder etwas mit den Händen zu berühren, kann das Schwierigkeiten aufwerfen zB dass ein Anteil darauf besteht, das sei nicht der eigene Körper oder aber Panik durch das plötzliche bewusst werden in einem alten Körper zu stecken oder an einem fremden Ort zu sein. Das bedeutet nicht, dass dieses Bewusstsein schlecht ist, in der Tat wird es nötig sein, aber das sollte man sehr sanft und vorsichtig angehen. Jemandem einfach nur zu empfehlen Achtsamkeit zu üben und dann alleine zu lassen mit dem Chaos, was durch Bewusst-Werden entstehen kann, erschafft eine schreckliche Erfahrung, die Dissoziation/einen Shutdown notwendig machen kann, um sich davor zu schützen.
Ich persönlich glaube die beste Art Achtsamkeit bei DIS zu verwenden ist in Verbindung mit täglichen Aufgaben, wie achtsam Wäsche zusammen zu legen oder Geschirr zu spülen. Das kann uns beibringen mehr in der Gegenwart zu sein und funktioniert auch gut co-bewusst, ohne dass man sich zu sehr auf den Körper konzentriert.
Emotionen und Gedanken zu beobachten, wenn jeder Anteil seine eigenen hat, scheint mir eine Unmöglichkeit. Da hört das mit der Sinnhaftigkeit von Achtsamkeit auf.
Ich selbst habe gute Erfahrungen mit sehr kurzen (2-5 Minuten) Zeiten von Achtsamkeitsmeditation mit einem Fokus auf dem Atem, was mit einem fortgeschrittenen System auch co-bewusst gemacht werden kann. Das geht nur, weil alle gleichzeitig auf eine kleine, gemeinsame Sachen wie den Atem achten und mir kommt es manchmal etwas vor wie ein spezieller Zirkustrick.
Für uns und andere Systeme, die wir kennen, ist es möglich, dass ein Host oder einzelner Anteil Achtsamkeit praktiziert, die so funktioniert, wie bei normaler PTBS, mit den selben Vorteilen und Herausforderungen und im Ergebnis mit einer größeren Fähigkeit bei der SystemArbeit geerdet zu bleiben. Andere Systeme gehen sofort in einen Shutdown. Achtsamkeit ist bei DIS nicht ganz einfach, für manche Systeme aber absolut keine Zeitverschwendung. Nur mit Achtsamkeit zu arbeiten ist zu kurz gegriffen.
Für komplexe DIS (RA/MC)
Wir sind keine Experten auf dem Gebiet und wollen nur ein paar Gedanken dazu teilen. Manche Systeme sind „vermint“ wenn es um Präsentifikation geht. Sie erleben innere Angriffe, wenn sie Achtsamkeit nur probieren.
Es gibt außerdem einen Unterschied ob man natürliche (Körper)Flashbacks erlebt oder ob diese von Anteilen als Strafe produziert werden. Um die Überflutung zu stoppen braucht es Verhandlungen mit den Anteilen, die sie produzieren. Versuche der Frontperson sich zu orientieren und zu erden haben keinen Einfluss darauf.
Ich behaupte nicht, dass solche schwierigen Anteile nicht davon profitieren würden achtsamer zu sein. Das könnte sie tatsächlich in Raum und Zeit orientieren. Vorher müssen wir sie aber in Kontakt mit dem Körper bringen. Wenn sie in einer komplexen Inneren Welt leben, haben sie vielleicht auch innere Körper und wenn wir ihnen sagen, sie sollen sich umschauen und ihre Sinne benutzen, kann das auch dazu führen, dass sie sich nur in der Inneren Welt umschauen und aufnehmen, was dort für sie erschaffen wurde. Indem wie sie zuerst mit dem Körper in Kontakt bringen, stellen wir sicher, dass sie auch nach Außen schauen. Man kann nicht in Zeit und Raum orientiert sein, achtsam sein, ohne im Körper orientiert zu sein.
Ich hoffe das gibt euch ein etwas komplexeres Verständnis von Achtsamkeit, wann die hilft und wo man vorsichtig sein sollte.
BadBianca says
Genauso geht es mir. Ich ertrage Achtsamkeit nur schlecht. Es überfordert mich, macht mich im besten Fall nur traurig, im schlimmsten Fall dissoziiere ich permanent.
Ich halte das alleine, in Ruhe in meinem Kopf sein kaum aus, versuche permanent mich abzulenken und verschleudere so wichtige Energieressourcen.
Danke für die Einsicht, dass ich damit nicht alleine bin.
Pia says
Super spannende Seite. Ich finde meine Dissoziation im Alltag nicht so schlimm, ich kann in dem Zustand sehr effizient denken, und komme generell mit Achtsamkeit auch sehr gut klar. Bei mir wird sie aber durch die Nähe mit meinen Kindern getriggert. Ich brauchte jetzt Jahre um das zu erkennen. Ich habe leider noch keinen Therapeuten gefunden, der damit arbeitet, weil es ist natürlich totaler Quatsch, seine Kinder als Trigger zu sehen… (So denken die Therapeuten). Jetzt sammle ich erstmal wie ich mir selbst helfen kann. Ich habe Angst dass meine “Abwesenheit” dazu führt dass meine Kids dasselbe Schicksal ereilt.