Je mehr Forschung es zur Behandlung von komplexer PTBS gibt, desto klarer wird es, dass Gesprächstherapie und Exposition ihre Grenzen haben. Gesprächstherapie verpasst es darauf einzugehen, dass es unser Körper ist, der traumatische Erinnerungen aufbewahrt und viele chronisch traumatisierte Patienten erreichen nicht die Stabilität, die für erfolgreiche Exposition benötigt wird. Eine wertvolle Ergänzung zur klassischen Therapie ist Körperarbeit. Der wohl am besten erforschte Körper-zentrierte Ansatz ist trauma-sensitives Yoga. (Mehr zur Polyvagal Theorie dazu)
Was wir von trauma-sensitivem Yoga lernen können
Präsent sein
Trauma hält unseren Fokus in der Vergangenheit. Wenn wir getriggert werden, reagieren wir auf die Vergangenheit, statt auf die aktuelle Situation. In trauma-sensitivem Yoga üben wir in unserem Körper präsent zu sein, selbst wenn der gestresst ist. Es trainiert uns Stress als etwas zu erleben, was heute passiert, was uns helfen kann Flashbacks zu stoppen und in Raum und Zeit orientiert zu bleiben. Präsent sein ist das gleiche, wie in unserem Körper zu sein, da wir das Jetzt durch unsere Sinne wahrnehmen. Unser Verstand kann nicht präsent sein ohne verkörpert zu sein. Versuche es mal. Trauma-sensitives Yoga kann uns auch helfen Angst zu reduzieren, die auf unseren Gedanken oder Fantasien über die Zukunft beruht , indem es uns im Jetzt verankert. Gerade jetzt und gerade hier gibt es keinen Grund zu verzweifeln.
Achtsamkeit
Achtsamkeit basiert auf der nüchternen Beobachtung was passiert ohne eine Bewertung hinzuzufügen. Bewertungen erhöhen oft das wahrgenommene Leiden in einer Situation. Achtsamkeit nimmt sich auch Zeit um angemessen zu antworten, statt nur blind zu reagieren; vielleicht muss sogar gar nichts unternommen werden. Wir trainieren uns beim trauma-sensitiven Yoga das zu tun, indem wir unseren Körper und unsere Sinneswahrnehmung während der Übungen beobachten, ohne unsere Leistung zu beurteilen und indem wir sanft erforschen, ob etwas vielleicht unangenehm aber harmlos ist. Das wird uns helfen stressige oder triggernde Situationen im realen Leben besser zu managen. Es kann Wutausbrüche und unnötige Fluchttendenzen verhindern und zu mutwilligeren Entscheidungen führen.
Den Körper spüren
Die Erfahrung, dass unser Körper verletzt und versehrt wurde führt vielleicht dazu, dass wir keinen Körper haben wollen. Es kommt oft vor, dass Überlebende ihr Bewusstsein für ihren Körper teilweise oder ganz dissoziieren, manche fühlen sich wie wenig mehr als Augen, die die Welt beobachten. Unseren Körper zu spüren mag uns wie eine Bedrohung vorkommen. Trauma-sensitives Yoga ist eine sanfte Art sich dem Körper wieder anzunähern. Wir können uns vorsichtig erlauben uns so bewusst zu sein, wie wir das ertragen können, beginnend mit einzelnen Körperteilen. Wir können mit einem sehr niedrigen Maß an Körperwahrnehmung beginnen und uns hoch arbeiten. Mit der Zeit können wir lernen Körperteile zu verbinden und eine besser integrierte körperliche Erfahrung entwickeln und vielleicht sogar ein Flow-Erleben in Bewegungen. Meiner Meinung nach macht das trauma-senstives Yoga besser als Körperansätze, die eine fließende Ganz-Körper-Erfahrung voraussetzen, zu der manche Überlebende nicht in der Lage sind.
Eine neue Beziehung zum Körper
Trauma Überlebende haben oft gelernt ihren Körper zu fürchten oder zu hassen dafür, dass er verletzlich, schwach, hilflos etc war und dafür, dass er nicht selten selbst eine Quelle von Triggern darstellt. Der Körper fühlt sich wie eine Bedrohung an, nicht wie ein sicherer Ort, in dem man leben kann. Manche versuchen sich mit ihrem Körper sicherer zu fühlen, indem sie Selbstverteidigungskurse besuchen, um das Gefühl von Hilflosigkeit und Schwäche zu überwinden. Aber solche Kursen beinhalten immer auch ein Element von Aggression, das triggern kann und sie könnten chronisch traumatisierte Patienten überfordern, die kein grundlegendes Konzept davon haben, wie sich physische Sicherheit überhaupt anfühlen könnte. Trauma-sensitives Yoga ist ein sanfterer Ansatz um ein Gefühl von Sicherheit zu erreichen. Wir können körperliche Sicherheit auf der Yoga Matte erleben, wenn wir bei unserem Körper bleiben und erleben, dass nichts schlimmes passiert. Wir üben sanft mit unserem Körper umzugehen, statt ihn zu zwingen oder zu bestrafen. Mit der Zeit können wir lernen partnerschaftlich mit unserem Körper umzugehen statt ihn zu bekämpfen und uns Herausforderungen mit Selbstfürsorge und Selbstliebe stellen und echte Stärke darin erleben.
Selbstregulation
Zu viel zu erleben (Hyperarousal/Intrusionen) und zu wenig zu erleben (Hypoarousal/Dissoziation/Vermeidung) stehen im Zentrum von PTBS. Trauma-sensitives Yoga bietet Interventionen für beide Arten der Dysregulation in Form von Grounding und Entspannung für Hyperarousal und Aktivierung und Balance für Hypoarousal. Wir können unseren Körper verwenden, um selbst starke Gefühle zu regulieren. Entspannung zu üben kann auch unsere Schlafstörungen verbessern.
Das Lernfenster erweitern
PTBS bedeutet eine niedrige Toleranz für Stress. Wir regieren auf schwierige Situationen schnell indem wir in Hyper/Hypoasrousal fallen. Trauma-sensitives Yoga hilft und zu üben bei unserem Körper zu bleiben, zu atmen und ruhig zu bleiben, selbst wenn unsere Körperwahrnehmung unangenehm ist. Das Lernfenster weitet sich mit unserer Fähigkeit auch unangenehmes wahrzunehmen. Wir erleben, dass das keine Bedrohung ist, dass es einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss hat und dass wir weiter atmen und das aushalten können. Das kann eine wichtige Vorbereitung für die Trauma Arbeit sein, aber selbst wenn wir nie eine Exposition durchführen, kann es uns im Alltag funktionsfähiger machen.
Grounding
Hyper/Hypoarousal können sich so anfühlen, als würden wir den Kontakt zu uns und der Realität verlieren. Wir sind in der Schwebe. Trauma-sensitives Yoga bringt uns bei eine feste Verbindung zum Boden zu haben, die wir mit allen möglichen Körperteilen erleben können, während wir Übungen im liegen, sitzen oder stehen machen. Jede Pose betont Stabilität und Verbindung, mit dem Körper und dem Boden. Das zu üben kann uns helfen uns zu erden, wenn wir getriggert werden. Es stoppt das Schwebegefühl und hilft uns präsent zu sein.
Neugier und Forschen
Chronisch traumatisierte Kinder verliere oft ihren Sinn für Neugierde. Trauma bringt eine ständige Erwartung von Bestrafung und Verletzung mit sich. Vielleicht haben wir einen Weg gefunden Dinge zu tun, von dem wir glauben, dass er das wenigste Leid erzeugt, auch wenn er nicht ideal ist und wir haben zu viel Angst etwas anderes auszuprobieren. Die Yoga Matte bietet einen sicheren Rahmen, wo wir eingeladen sind kleine Veränderungen auszuprobieren, vielleicht auch nur ob wir in einer Pose die Handflächen nach oben oder unten halten. Nichts schlimmes passiert, wenn wir Abwandlungen ausprobieren, weil es ja nur Yoga ist und auf der Yoga Matte ist es sogar richtig Dinge auszuprobieren. Die physische Erfahrung, dass Erforschen etwas sicheres sein kann, wird langsam auch ins reale Leben sickern und uns Mut geben Neues auszuprobieren. Ein neugieriges Leben ist ein glücklicheres Leben.
Zentrierter sein
PTBS bedeutet oft nicht nur, dass wir nicht mit unserem Körper, Emotionen und Bedürfnissen verbunden sind, wir fokussieren uns auch auf die Welt und die Leute um uns, immer wachsam und auf der Suche nach einer Bedrohung. Das bedeutet, dass unsere Handlungen durch die Welt um uns herum bestimmt sind, statt aus uns selbst heraus zu kommen. Trauma-sensitives Yoga kann uns helfen wieder zu uns zurück zu kehren, uns auf das zu konzentrieren, was in uns ist, unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche, Persönlichkeit und Entscheidungen. Zu erleben, dass wir mehr sind als eine Reaktion auf die Außenwelt, kann uns helfen unsere persönlichen Grenzen zu definieren und von Innen heraus zu leben. Zentrierter zu sein verhilft uns zu mehr Balance in unseren Gefühlen und Handlungen. Wir können lernen wir selbst zu sein.
Machtvoll sein
Missbrauch zu erleben hat uns oft beigebracht, dass wir hilflos sind, dass wir keine Kontrolle über unseren Körper haben und dass es keine Wahlmöglichkeiten gibt. Das war eine reale, physische Erfahrung und wir können nicht unseren Verstand benutzen, um uns daraus heraus zu denken. Unser Körper muss eine neue Erfahrung machen, die die alte überschreibt. Trauma-sensitives Yoga ist voll von kleinen Entscheidungen. Wenn wir üben diese Wahlmöglichkeiten zu nutzen, hilft das, das Gefühl von Hilflosigkeit zu überwinden (mehr dazu hier) und unser Körper lernt, dass wir heute machtvoll und frei sind. Wenn wir lernen unsere Entscheidungsmöglichkeiten zu nutzen, hilft das aus der Passivität heraus zu kommen.
Selbstwirksamkeitsglaube
Selbstwirksamkeit bedeutet im Grunde, dass wir glauben, dass es einen Unterschied macht, wenn wir etwas tun, dass wir uns selbst und die Welt um uns herum durch unsere Handlungen beeinflussen können. Diese innere Überzeugung wird verletzt, wenn wir Gewalt oder Missbrauch erleben, eine Situation in der wir hilflos gemacht wurden und uns nicht verteidigen konnten. Heute sind wir erwachsen und unsere Handlungen machen einen Unterschied, aber vielleicht spüren wir das tief innen nicht. Auch hier haben wir die Situation, dass unser Verstand darin versagt, uns etwas glaubend zu machen, was unser Körper nicht erlebt hat. In trauma-sensitivem Yoga werden wir ermutigt auf unsere Bedürfnisse zu hören und Veränderungen vorzunehmen, um unser Erleben zu verbessern. Das könnte sein sich eine Decke zu holen, das Fenster zu öffnen, nicht so tief zu dehnen, dass es weh tut, eine angenehme Variation einer Pose zu wählen usw. Unsere Entscheidung führt zu einer Veränderung. Die Yoga Matte ist ein sicherer Ort auszuprobieren, dass es wirklich einen Unterschied macht, wenn wir uns entscheiden um unserer selbst Willen zu handeln. Wir können unsere Erfahrungen im Leben aktiv beeinflussen.
Selbstwert
PTBS geht mit chronischer Scham einher. Wir haben das Vertrauen verloren in unseren Körper und unsere Selbstwirksamkeit. Schon alleine einen Körper zu haben kann sich schamhaft anfühlen, wegen der Hilflosigkeit und der überschrittenen Grenzen, die wir damit erlebt haben. Vielleicht verurteilen wir jedes Signal, was unser Körper uns gibt als schlecht und schamhaft. Im Trauma-sensitiven Yoga bei unserem Körper zu sein kann uns eine neue Wertschätzung dafür lehren. Wir erleben, dass wir fähig sind alle möglichen Posen mit diesem Körper einzunehmen, dass er in Wirklichkeit stark ist. Wir lernen den Signalen, die unser Körper uns gibt zuzuhören und indem wir auf sanfte und fürsorgliche Art darauf zu reagieren, lernen wir Frieden zu schließen mit dem Körper, in dem wir leben. Wenn unsere Freundschaft mit unserem Körper wächst, lernen wir ihm wieder zu vertrauen, wenn er uns Bedürfnisse aufzeigt. Wieder darauf vertrauen zu können, dass unser Körper Sinn ergibt und fähig ist, bewirkt Wunder für den Selbstwert.
Synchronisiert bewegen
Trauma bringt unseren natürlichen Rhythmus durcheinander. Wo wir das klar sehen können, ist unser Atem. Überlebende neigen dazu sehr flach zu atmen, oft durch den Mund und sogar den Atem anzuhalten. Trauma-sensitives Yoga hilft uns ein Bewusstsein für den Atem einzuüben und uns im Rhythmus mit ihm zu bewegen, selbst wenn sich etwas unangenehm anfühlt. Diese Übung hilft uns über den Tag entspannter und weniger ängstlich zu sein und weiter zu atmen, wenn wir gestresst sind, sodass es leichter wird uns wieder zu beruhigen.
Verbindung
Traumatische Erlebnisse beschädigen unseren Sinn für Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt. Wir fühlen uns vielleicht wie Fremde, die nie richtig Teil einer Gruppe sein können, die in dieser Welt keine Heimat finden. Trauma-sensitives Yoga in einer Gruppe zu praktizieren, kann uns helfen auf einer tieferen Ebene Verbindung wiederherzustellen, als das durch Kommunikation möglich ist. Wir bewegen uns synchron mit anderen, atmen synchron mit ihnen und erleben eine gemeinsame Übungsstunde mit einem Bewusstsein für unseren Körper und ihren Körpern zusammen in einem Raum, einen Rhythmus teilend. Diese körperliche Erfahrung kann uns helfen durch verbessertes einstimmen-können auf andere mehr Verbundenheit zu den Menschen in unserem Leben zu spüren.
Die Yoga Matte bietet einen sicheren Ort, wo wir das alles üben können. Mit der Zeit strömen diese Lektionen über die Grenzen der Matte und sickern ein in die Art, wie wir uns selbst, unsere Symptome und unser Leben managen.
Wenn ihr Interesse an Trauma-sensitivem Yoga habt würde ich euch „Trauma-Yoga – Heilung durch sorgsame Körperarbeit“ von David Emerson empfehlen. Das deckt die Grundlagen ab für Patienten, Therapeuten und Yogalehrer, sowie mögliche Posen, mit denen man beginnen könnte.
Weiter lesen in: Trauma-sensitives Yoga – wie geht das?
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