Früher oder später auf unserem Heilungsweg werden wir uns Gedanken darüber machen, wo wir mit dem Prozessieren anfangen. Auf Grund der Menge der traumatischen Erlebnisse können wir unmöglich alles angehen und die gute Nachricht ist, dass das auch nicht nötig ist. Aber es wäre geschickt, eine Art Konzept zu haben, das uns hilft, Prioritäten zu setzen, an was wir arbeiten und was wir in Ruhe lassen. Ich erkläre euch verschiedene Ansätze und füge meine eigene Perspektive hinzu. Vielleicht hilft euch das, informierte Entscheidungen zu treffen.
Über die Jahrzehnte gab es schon verschiedene Herangehensweisen:
Wo beginnen
Das Erste
Der Versuch, das erste Trauma als erstes zu verarbeiten, ist ein altes und überholtes Konzept. Es nützt uns wenig, weil unser frühstes Trauma oft in einem Alter passiert ist, wo Erinnerungen noch nicht als verknüpfte Geschichten gespeichert werden, sondern in Fragmenten von Sinneseindrücken und inneren Zuständen. Diese Art von Erinnerungen sind am schwersten zu prozessieren, die meisten Techniken versagen einfach und das ist schlicht kein guter Einstieg. Mit einer DIS erinnern wir uns wahrscheinlich nicht mal an den ersten Zwischenfall oder das Wissen ist in Anteilen abgespalten, die noch sehr jung sind. Also, eher keine gute Idee.
Das Schlimmste
Das schlimmste Erlebnis als erstes zu prozessieren ist ebenfalls ein veraltetes Konzept und keine gute Idee. Warum in aller Welt sollte man das schlimmste Thema wählen, um eine neue Technik auszuprobieren, mit der man sich noch nicht auskennt oder sicher fühlt. Wenn weder unsere Ts noch wir selbst eine Ahnung haben, wie wir darauf reagieren. Früher, als das für die PTBS Behandlung normal war, hat man gehofft, damit das schlimmste schon mal aus dem Weg zu haben und der Rest wird dann leichter. Bei Komplextrauma ist das keine sinnvolle Taktik.
Der Testlauf
Heute wird es in der Regel so gemacht, dass etwas von mittlerer Schwierigkeit für den ersten Versuch mit einer neuen Technik verwendet wird, wie ein Testlauf. So können sowohl wir als auch unsere Ts ein bisschen Erfahrung sammeln, wie das bei uns wirkt und Sicherheit mit dem Ablauf entwickeln. Wenn ihr gerade erst mit dem Prozessieren beginnt und nach einer Szene sucht, dann ist es eine gute Idee, eine mittelschwere zu wählen.
Nützliche Ansätze
Trauma Bearbeitung findet nie um ihrer selbst Willen statt. Sie dient einem Zweck. Das soll unser Leben einfacher machen oder unsere Lebensqualität erhöhen. Deswegen macht es Sinn, sich diese Faktoren anzuschauen:
Was am häufigsten getriggert wird
Manche Ts werden euch bitten, ein Flashback Protokoll zu führen, in dem ihr kurz die Szenen oder Eindrücke notiert und wie oft sie getriggert werden. Ihr wählt euer nächstes Thema zum Prozessieren dann von den oberen Rängen auf der Liste. Das ist nützlich, weil es dafür sorgt, dass wir die Dinge ausräumen, die am häufigsten zu einer Unterbrechung unseres normalen Lebens führen. Mit diesen Szenen zu arbeiten ist logisch. Wir sollten nur auch darauf achten, dass wir die innere Kooperation von allen beteiligten Anteilen brauchen, um solche Erinnerungen sicher konfrontieren zu können.
Was am meisten einschränkt
Statt nur auf die Quantität zu achten, können wir uns auch die Qualität der Störungen anschauen. Ihr listet dann die Erinnerungen auf, die euch davon abhalten, das Leben zu leben, das ihr euch wünscht, entweder weil die Unterbrechungen so dramatisch sind oder weil die Trigger so alltäglich und allgegenwärtig sind, dass ihr wichtige Teile eines normalen Lebens vermeiden müsst, um die Flashbacks niedrig zu halten. In diesem Fall muss die Erinnerung gar nicht furchtbar schlimm sein, nur so dass sie euch davon abhält zu sein oder zu tun, was ihr wollt.
Wo Anteile fest stecken
Selbst wenn wir es schaffen, dass traumatisierte Anteile öfter in der Gegenwart geerdet sind, löst das nicht immer das Trauma auf. Sie werden getriggert und sie fühlen sich dann, als wären sie wieder in alten Szenen. Es kann helfen, sich eine Liste von den zentralen Szenen zu machen, in denen Anteile stecken bleiben und die dann gemeinsam zu prozessieren. Sanfte Rescripting Techniken reichen hier meist schon.
Die Realität mit Komplextrauma
Das echte Leben funktioniert nicht nach Lehrbuch. All diese Prioritäten greifen zu kurz, wenn wir schlicht nicht die Stresstoleranz haben, um mit diesen Erinnerungen zu arbeiten. Wenn wir sie nicht sicher halten können, dann ist es besser, sie nicht mutwillig hoch zu holen. Ohne Kapazität können wir nichts integrieren. Wir werden nur überrollt oder dissoziieren. Wann immer wir uns eine Szene zum Prozessieren aussuchen, sollten wir uns auch fragen, ob wir dafür genug Kapazität haben. Manchmal ist es dann nötig, das Schlimmste und das Triggerndste und das am meisten Einschränkende auf der Liste nach hinten zu schieben, weil wir damit noch nicht umgehen können.
Fragmente
In der Behandlung von Komplextrauma kommt es öfter vor, dass nur Fragmente aus Szenen ausgesucht werden (zB ein einzelner Sinneseindruck oder ein 20 Sekunden Abschnitt) und das vom Rest der Erinnerung isoliert angeschaut wird . Wir arbeiten uns dann vom Rand aus Richtung Zentrum. So verarbeiten wir langsam immer mehr von der Szene, bis sie so klein geworden ist, dass wir den Rest auch schaffen können. Das kann schon zu wichtigen Erfolgen führen, die uns mehr Freiheiten im Leben geben, auch wenn wir uns noch nicht die ganze Erinnerung anschauen.
Trigger
Trigger sind eine spezielle Art von Fragment und unter bestimmten Umständen können sie bearbeitet werden, ohne dafür tief in die Erinnerung einzutauchen. Wir arbeiten daran, geerdet und präsent zu bleiben, während der Trigger auch da ist, bis unser Gehirn lernt, dass der Trigger nicht das Trauma ist. Er führt auch nicht automatisch zu Trauma. Es ist nur ein Sinneseindruck. Wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind, ist das ein nützlicher Weg, um bestimmte Flashbacks auszuschalten, ohne tiefer in die Erinnerung zu gehen. Wir brauchen nur exzellente Grounding Fertigkeiten und Kooperation. Mehr
Das Ende
(CN: erwähnt Dinge, die nach einem traumatischen Erlebnis passiert sein könnten)
Manchmal, wenn das große Trauma weit jenseits unserer Stresstoleranz ist, können wir uns trotzdem die Dinge anschauen, die auf das Trauma folgten. Vielleicht ist das eine Heilungsphase, medizinische Hilfe, alleine gelassen werden etc. Diese Dinge sind oft in sich traumatisierend und davon etwas zu prozessieren ist nicht abwegig. Sie stellen auch das Ende der Erfahrung dar. Die Realisation, dass es vorbei ist, ist ein Kernelement von Präsentifikation, die zur Trauma Integration gehört. Nur das Ende zu prozessieren kann manchmal dafür sorgen, dass man die ganze Szene innerlich abschließen kann als ‘vorbei’.
Cluster?
Ihr findet in der Literatur manchmal die Idee, dass wenn wir Fragmente prozessieren, die eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Trauma Erinnerungen darstellen, dann alle davon auf einmal gelöst werden könnten. Vielleicht ist das eine gute Strategie, wenn es keine strukturelle Dissoziation gibt. Bei einer DIS könnte dabei ein Cluster von verschiedenen Anteilen raus kommen, die alle zur selben Zeit getriggert werden. Mir ist das schon mit 2 Anteilen passiert, die vom selben Fragment und thematisch zu zwei verschiedenen Szenen getriggert wurden und das war mehr, als sich in der Stunde lösen ließ. Prozessieren musste abgebrochen werden und es ist nur unserer langen Erfahrung zu danken, dass wir nicht völlig überrollt wurden. Ich kann den Ansatz bei DIS nicht empfehlen.
Nachdem wir uns das alles angeschaut haben, erzähle ich euch, wie wir es heute machen:
Wozu wir bereit sind
Wir arbeiten mit Anteilen und wenn wir bereit sind und wir wissen, dass wir das sicher halten können, geben wir ihnen Raum, Erinnerungen zu teilen. Wir schreiben das auf, zeichnen manchmal was dazu, teilen ein bisschen was davon mit unserer T. Dann schauen wir, wie viel Realisation und Präsentifikation wir durch gutes altes Grounding und ‘Gleich aber Anders‘ spielen erreichen können. Als nächstes probieren wir Reframing und kognitive Umstrukturierung. Oft reicht das, um zu einer zufriedenstellenden Lösung zu kommen und weitere Konfrontation ist gar nicht nötig. Wir müssen nichts Schwieriges tun, wenn es auch leicht geht.
Wenn wir dann merken, dass wir nicht weiter kommen, aber mehr Arbeit nötig ist, weil die Verletzung an der Oberfläche unseres Bewusstseins und des Systems bleibt, prozessieren wir so viel wie nötig. Wir versuchen erst eine Rescripting Methode, weil die für unsere Anteile sehr effektiv sind. Wir graben nicht nach Themen und wir erzwingen auch nichts. Es ist mehr so, als würden wir an der Oberfläche abschöpfen, was hoch getrieben wird und dann dort schwimmt. Das ist manchmal das Schlimmste für einen Anteil, manchmal das, was am meisten einschränkt oder was am häufigsten getriggert wird. In der Regel sind es Szenen, in denen Anteile oft stecken bleiben. Aber über das alles hinaus sind es Szenen, die sich selbst anbieten, weil sie natürlich bereit sind für die Verarbeitung.
Wir suchen nicht künstlich aus oder holen etwas von tief unten hoch, um es zu prozessieren. Wenn wir bearbeiten, was an der Oberfläche treibt, ist es in der Regel einfacher und sanfter. Immer wenn wir etwas künstlich herbeiführen müssen, wird es härter und birgt die Möglichkeit, dass wir dafür gerade gar nicht bereit sind. Das ist natürlich eine persönliche Meinung. Ich bin lange genug in Therapie, dass ich durch ‘das erste’ und ‘das schlimmste’ gezerrt wurde, als das noch angesagt war. Es war einfach nur hart (und wie sich herausstellt auch weder das erste noch das schlimmste…) Mit allem, was ich heute weiß, glaube ich, dass die Szenen für die Verarbeitung am besten an der Oberfläche unserer laufenden inneren Arbeit gefunden werden. Die richtigen Szenen sind die, für die wir bereit sind. Die werden nach oben treiben und sich selbst präsentieren. Vielleicht muss man das alles gar nicht zerdenken und es reicht, zu tun, was gerade vor uns liegt. Zu den anderen Sachen kommen wir schon noch.
Manchmal sind Menschen dazu gezwungen, ihre Behandlung unsanft voran zu treiben, weil der Zugang zu Hilfe begrenzt ist. Das macht alles schwieriger und macht so etwas wie Regeln für die Priorisierung erst notwendig, weil nicht mehr dem natürlichen Prozess gefolgt wird. In so einem Fall würde ich mich an den Prioritäten unter ‘nützliche Ansätze’ orientieren. Wenn es sein muss, dann ist das unschön, aber davon wird es ja auch nicht besser. Ich wünschte nur, ihr hättet die Chance, einem sanfteren Weg für die Traumaheilung zu folgen. Das braucht Zeit und ich glaube nicht, dass Eile oder Druck die Resultate verbessern. Sie erhöhen nur das Risiko von Retraumatisierung und Destabilisierung. Ich hoffe, dass, was immer ihr wählt, für euch klappt und ihr Dinge so bearbeiten könnt, wie ihr das wollt.
Leave a Reply